Sherlock Holmes und der stumme Klavierspieler

Klaus- Peter Walter

„Sherlock Holmes und der stumme Klavierspieler“ ist eine erweiterte Neuveröffentlichung der ursprünglichen im Hardcover veröffentlichten Anthologie „Sherlock Holmes und Old Shatterhand“. Drei neue Storys sind der ursprünglichen Sammlung hinzugefügt worden, wobei nur ein Text wirklich original ist, zwei andere Geschichten haben schon als Winterzeit Hörbücher Veröffentlichung gefunden. 

 Vor allem die kürzeren Texte verzichten auf die einmalige Deduktion des britischen Meisterdetektivs. Auch wenn die Anspielung auf die Abenteuer des amerikanischen Sherlock Holmes, verfasst von Jacques Futrelle im Anhang erwähnt wird, ist die Titelgeschichte im Grunde eine Aneinanderreihung von Zufällen. Dem im Meer aufgefundenen stummen Mann mit einem einmaligen musikalischen Talent erkennt Sherlock Holmes aufgrund der ihm gezeigten Zeichnung wieder. Er erweckt nur dessen „verschüttetes“ Gedächtnis. Warum Doktor Watson am Ende dieser geradlinigen, aber nicht sonderlich spannenden und vor allem auch ein wenig kompliziert, aber nicht komplex entwickelten Geschichte darauf hinweist, dass das britische Empire dem amen verfolgten Mann im Grunde eine Tarnung im Rampenlicht verschafft hat anstatt ihm in der Anonymität zu schützen,  rundet diese oberflächliche Pastiche eher wenig zufrieden stellend ab.

 „Sherlock Holmes und Old Shatterhand“ ist eine der Geschichten, in denen Klaus Peter Walter zu Lasten des Plots die Anspielungen übertreibt. Der Fall – ein reicher Kaufmann wird im Zug ermordet – wird nur durch einen Bluff aufgeklärt, der literarisch in der Zwischenzeit einen langen Bart hat. Viel schlimmer ist, dass der Autor mit Macht Karl May alias Old Shatterhand in die Handlung einbauen will. Der Fall spielt im Jahr 2003 und am Ende entlarvt Sherlock Holmes den arroganten May als Hochstapler. Seine Beobachtungen sind schlüssig, nur gibt es zwei sehr große Probleme. Karl May ist 1899 verheiratet zu einer eineinhalb Jahre dauernden Reise nach Afrika aufgebrochen. Während dieser Reise brach in Deutschland das Kartenhaus seiner Legenden um Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi in dessen Abwesenheit zusammen. Warum konfrontiert Sherlock Holmes also den armen Karl May mit in der Presse bekannten Fakten? Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Karl May drei bis vier Jahre später in der Öffentlichkeit immer noch mit den Legenden brüstet, die nachweislich inzwischen als falsch sich erwiesen haben, erscheint unwahrscheinlich. Klaus Peter Walter hätte seine brachial aufgesetzte Pointe nur mit dem Hinweis retten können, dass dieser Karl May schon seit vielen Jahren in seiner eigenen Welt lebt und niemand ihm mehr glauben schenkt. Das hätte dem Langmut Sherlock Holmes geistig erkrankten Menschen gegenüber entsprochen. 

 Frauen nicht von nicht einwandfreier Herkunft spielen auch wichtige Rollen. In „Sherlock Holmes und weiße Frau“ ist die grundlegende Ausrichtung der Geschichte noch klarer als bei einigen anderen Geschichten dieser Sammlung. Eine ältere Lady will ihr Testament ändern, der Sohn mit schlechtem Leumund würde darunter leiden. Er lebt mit seiner chinesischen Frau, die er in einem Hurenhaus gewonnen hat, in einem der Flügel des stattlichen Anwesens, will aber nicht unbedingt Miete zahlen. Sherlock Holmes und Doktor Watson täuschen nach ihrem Besuch die potentiellen Täter und ergreifen sie auf frischer Tat. Auf den letzten Seiten wird die genaue Vorgehensweise der beiden Täter noch einmal ausführlich erläutert, es gibt selbst eine umfangreiche Exkursion in die weitere Zukunft und eine väterliche Seite Sherlock Holmes. Klaus- Peter Walter will diese aufgesetzt wirkenden Exkurs wirklich befriedigend abschließen und fügt einige fatalistische Ideen hinzu. Die grundlegende Geschichte ist stringent und auch interessant, aber wie bei einigen anderen Texten mangelt es an einem klassischen Spannungsaufbau.

 Auch „Sherlock Holmes und die andere Frau“  ist einer dieser Fälle, der in der Theorie ohne Frage gut funktioniert. Sherlock Holmes wird von einem verzweifelten Ehemann gebeten, die Verwandlung seiner Frau nach einer Geschäftsreise zu untersuchen. Rückblickend fügt Klaus- Peter Walter der leider ein wenig zu oft in der literarischen Geschichte verwandten Methode noch einen pointierten Epilog hinzu. Bis dahin deduziert der Detektiv fast ausschließlich im Off und kann die einzelnen Hinweise auch mittels einiger Zufälle schnell zusammensetzen.       

 In zwei Geschichten irrt sich im Grunde Sherlock Holmes hinsichtlich der Motive.  Unverständlich ist die Vorgehensweise der Behörde bei "Sherlock Holmes und  die verschwunde Witwe". Klaus Peter Walter setzt das gegenwärtige Rechtsverständnis voraus. Einge junge Frau sucht Sherlock Holmes auf, weil aus dem Hotelzimmer ihre kranke Mutter verschwunden ist,  während sie ausgesprochen umständlich ein Medikament holen sollte. Es gibt kein Verbrechen, die Erläuterung ist konsequent, aber ehrlich gesagt viel zu riskant. Die Behörden bzw. die Hotelleitung hätte sowieso so handeln müssen, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Dabei spielt die Weltausstellung eine untergeordnete Rolle. Man kann Sherlock Holmes genauso wenig einen Vorwurf machen wie der jungen Frau, die plötzlich mit dem absoluten Verschwinden, im Grunde Ausradieren aller Spuren konfrontiert wird.  Nur den Offiziellen den schwarzen Peter zuzuschieben, ist zu einfach. 

Auch bei "Sherlock Holmes und der Orchideenzüchter" machen beginnend mit Doktor Watson ausgerechnet auf seinem Spezialgebiet Medizin. Seltsame Phänomene erwecken bei einer Haushälterin Mißtrauen gegenüber ihrem Arbeitgeber. Sie bittet Sherlock Holmes um Hilfe. Anscheinend hält der verschlossene Orchideenzüchter eine Frau gefangen. Das Finale ist dramatisch, vor allem weil Klaus Peter Walter mit einem anderen beliebten Punkt des Horrorgenres spielt und Doktor Watsons naive Leichtgläubigkeit ein Menschenleben gefährdet. Am Ende fasst der Autor wieder die Handlung straff zusammen und zeigt, dass es tatsächliche offenere Wege zum Ziel gibt. Aber die Tragik liegt wie Sherlock Holmes selbst zugeben muss in seinem grundsätzlichen Irrglauben, jede seltsame Abfolge von Ereignissen muss gleich ein Verbrechen nach sich ziehen oder auf einer kriminellen Tat basieren. Sherlock Holmes in diesen beiden in dieser Hinsicht interessanten Texten das eigene Scheuklappen vor Augen gehalten. Im Gegensatz zu "Sherlock Holmes und die verschwundene Witwe" kann Sherlock Holmes Eingreifen bei der vorliegenden längeren Story "Sherlock Holmes und der Orchideenzüchter" am Ende helfend/ unterrstützend eingreifen.

 Einige der Kurzgeschichten wirken eher wie intellektuelle Gedankenspiele im Drogennebel. Der Titel „Sherlock Holmes und das indische Kraut“ ist Programm. Der Giftmord ist im Hintergrund aufgeklärt worden, Doktor Watson hofft aber durch die verbotene Nutzung des indischen Krauts ein wenig mehr über Sherlock Holmes Vergangenheit zu erfahren. Am Ende stehen einige provokante Thesen hinsichtlich der Verwandtschaft zu Dr. Moriarty und dem schicksalhaften Zusammentreffen an den Reichenbachfällen. Da weder Watson noch der Leser weiß, ob Holmes das Spiel nicht frühzeitig durchschaut und deswegen seiner Phantasie die Sporen gegeben hat, bleibt die Story unvollendet.

 Am meisten können die umfangtechnisch kürzeren Fälle überzeugen, in denen Sherlock Holmes wenn nicht deduzieren, aber zumindest kombinieren kann. Der Letzte dieser Fälle ist gleichzeitig der Schlussakkord der Sammlung und des 19. Jahrhunderts. „Sherlock Holmes und der diebische Weihnachtsmann“ wird relativ stringent abgewickelt. Da der Dieb einen Wagen gefahren hat und des davon nur eine beschränkte Anzahl gibt, ist der Täter für Sherlock Holmes und damit auch den Leser keine wirkliche Überraschung. Auch auf das Versteck der Beute wird durch die ausführlichen Experimente Sherlock Holmes mit Sand und Karamellbonbons hingewiesen. Diese Art der Geschichten sind solide geschrieben, aber irgendwie fehlt ihnen der Esprit, der Funke, der sie aus der Masse heraushebt.

 Die längeren  Geschichten erweisen sich auch von unterschiedlicher Qualität. Der Titel „Sherlock Holmes und das geheime Leben der Nilpferde“ weißt auf einen deutlich schwierigeren Fall hin als es abschließend der Fall ist. Ein Junge stürzt vom Dach seiner Schule in den Tod, als er nach einem Tennisball in der Regenrinne greifen wollte. Es ist der insgesamt dritte Todesfall an dieser Schule. Nur handelt es sich vordergründig um den Stiefbruder des Malers der Königin und Mycroft drängt seinen Bruder, sich als Musiklehrer an die Schule zu schleichen und das Verbrechen aufzuklären. Bis in die Mitte der geradlinigen Geschichte baut Klaus- Peter Walther eine solide Spannung auf. Wie bei vielen anderen Arbeiten in dieser Sammlung gibt es aber nur wenige Verdächtige, ein sich wie ein roter Faden durchziehendes Manko. Gleich während der ersten echten Recherchen kann Sherlock Holmes den in Frage kommenden Täter „markieren“, anschließend geht es in doppelter Hinsicht nur noch um das Zusammensetzen von Versatzstücken. Das zugrunde liegende düstere Geheimnis ist keine wirklich neue Idee, auch Horowitz hat es in seinem Sherlock Holmes Roman schließlich angewandt. Alleine die Idee, wie sehr junge Männer in die Liebe von ein wenig älteren Frauen eingeführt werden, gibt der Geschichte eine süffisante Note, zumal am Ende sich einige kleinere Familienverhältnisse anders als zu Beginn darstellen. Die ganze Story verfügt über sehr viel Potential, das wahrscheinlich einen umfangreicheren Roman mit mehr falschen Spuren und möglichen Verdächtigen verdient hätte. Es ist aber eine der Novellen, in denen Klaus- Peter Walther sich auf den Plot konzentriert als Hinweise über Hinweise in seinen Text einzubauen. 

 Zu den besseren Texten dieser Anthologie gehört die zweite Novelle "Sherlock Holmes und Buffalo Bill". Auch wenn die amateurhafte Tarnung leicht durchschaubar und Sherlock Holmes auch in den USA ein Begriff ist, entwickelt sich der Plot stringent. Mit seiner Westernshow will Buffalo Bill auch die Queen, sowie die gekrönten Häupter Europas in London erfreuen. Auf dem Gelände kommt ein Mann ums Leben, anscheinend wurde er vom Leitbullen in dessen Gehege zu Tode getrampelt. Sherlock Holmes und Doktor Watson sollen den Fall untersuchen und ein Absetzen der Show noch vor der Premiere verhindern. Klaus- Peter Walter beschreibt vor allem den aufbrausenden und eher arrogant dummen Buffalo Bill fast als eine Art Karikarur auf den großen Westmann. Nur bei seinem Auftritt auf der Bühne natürlich als Retter von angreifenden Indianern kann er glänzen. Ansonsten verwechselt er Namen und tritt eher in jedes Fettnäpfchen als souverän auf. Umgeben hat er sich von einer Reihe von professionell agierenden bekannten Persönlichkeiten des Wilden Westens. Der Fall ist zufriedenstellend kompliziert mit einem scheinbar von den Indianern begangenen Mord und einige vagen Hinweisen auf etwas Großes. Die Überführung des Täters beinhaltet den einzigen "Fehler" Sherlock Holmes, wobei dieser seinen rücksichtslosen Antagonisten einfach nur unterschätzt hat. Abschließend gibt es lange und zufriedenstellende Erläuterungen am gerade gelösten Fall. Sherlock Holmes kann im Gegensatz zu einigen anderen Geschichten ausreichend deduzieren und stellenweise sogar analysieren, bevor die einzelnen Fragmente relativ schnell passend gemacht werden. Der exotische Hintergrund des Westernshow überdeckt einigere kleinere Längen zu Beginn der Geschichte zufriedenstellend.

 Nicht nur die kürzeren Texte strotzen vor Anspielungen und Querverweisen, in den längeren Texten ist der Autor teilweise experimenteller. Die Hinweise auf den „Fantasten“ Arthur Conan Doyle finden sich in einigen Texten, aber in „Sherlock Holmes und die Fair Lady“ spielt auch George Bernhard Shaw leibhaftig eine Rolle. Die Ausgangslage ist wahrscheinlich die Beste aller hier gesammelten Geschichten. Ein Sprachforscher – der Beginn ist mit dem Duell der unterschiedlichen Geister und ihrer „Beobachtungsgabe“ eine perfekte Eröffnung –  hat gewettet, dass er aus einem einfachen Arbeitermädchen innerhalb eines halben Jahres eine Lady machen kann. Während das Mädchen sich aber in ihn konsequent und folgerichtig verliebt hat, sah er sie zu lange als seine experimentelle Spielwiese an. Sherlock Holmes soll das Mädchen finden.

Im Laufe der Handlung werden die einzelnen „Beziehungen“ der Figuren untereinander komplizierter, der Plot verliert aber im mittleren Abschnitt an Dynamik, bevor am Ende wie bei einer zynischen göttlichen Komödie die einzelnen Ideen wieder zusammenlaufen. Die Figuren sind überdurchschnittlich gute in ihrer jeweiligen selbst verliebten Exzentrik gezeichnet, so dass Sherlock Holmes es in diesem Kabinett der Eitelkeiten im Grunde außerhalb seiner detektivischen Fähigkeiten mit verschrobenen „Konkurrenten“ zu tun hat. Im Gegensatz zu vielen anderen Texten behält Klaus- Peter Walter die Ecken und Kanten bis zum konsequenten, auch interessanten Ende bei, so dass „Sherlock Holmes und die Fair Lady“ wahrscheinlich nicht die beste Detektivgeschichte dieser Sammlung, aber hinsichtlich der Originalität und des Handlungsverkaufes einer der Höhepunkt dieser Sammlung ist.  

       Zusammengefasst präsentieren die in "Sherlock Holmes und der stumme Klavierspieler" zusammengefassten Fälle abgesehen von den zahlreichen Anspielungen oder der Nutzung historischer Figuren gute, manchmal selbst für den besten Detektiv der Welt nicht unbedingt anspruchsvolle Ermittlungsunterhaltung. Deutlich besser sind die historischen Hintergründe recherchiert und einzelne Fakten in die laufenden Plots eingebaut. Die drei längeren Texte sind dabei qualitativ deutlich besser und mit dem zur Verfügung gestellten Raum kann Sherlock Holmes besser vor dem Publikum agieren, während die Kurzgeschichten ein wenig zu stark auf die zu früh erkennbare Pointe hin konstruiert worden sind.

 

 

www.bBand 21, Historische Kriminalerzählungen
ISBN: Exklusiv nur im BLITZ-Shop
Seiten: 466 Taschenbuch

Künstler: Mark Freier
Künstler (Innenteil): Mark Freierlitz-verlag.de 

Kategorie: