Forever Magazine 50

Neil Clarke

Neil Clarke hat in diesem Monat März mehrere Jubiläen.  Neben der 150. Clarkesworld feiert auch die kleine Schwester Jubiläum, dazu stehen einige selbst finanzierte Anthologien vor dem Abschluss. Der Umfang der März „Forever“ Ausgabe scheint mit fast vierzigtausend Wörtern in drei Geschichten größer zu sein als bei den normalen Ausgaben, wobei die Qualität vor allem wieder der längeren Texte überzeugend gut ist.   

Das Herzstück dieser Ausgabe ist David Gerrolds heute fast vergessene Novelle „In the Quake Zone“. Gardner Dozois hat sie in seine Year Best´Collection für 2006 aufgenommen, die Geschichte erhielt ein Jahr später den Spectrum Award.  

Auch wenn der Text auf den ersten Blick weniger autobiographisch erscheint wie seine neusten Kurzgeschichten fängt der Autor genau den Zeitgeist Hollywoods mit genauen Beobachtungen teilweise wahrscheinlich aus eigener Erfahrung ein, den eine solche Geschichte benötigt. David Gerrold ist 1944 geboren, hat in Los Angeles studiert, wo er 1967 seinen Abschluss machte. Wie sein Protagonist ist sich David Gerrold damals seiner Sexualität noch nicht hundertprozentig bewusst gewesen. Wer seinen Roman „The Martian Child“ gelesen hat,  wird sich erinnern, dass Gerrold es erst mit Mädchen probierte, bevor er seiner Homosexualität nachgab.  In der Novelle hat der Protagonist eine sexuelle Affäre mit seiner Vorgesetzten, bevor er sich zu einem Jugendlichen genau zwischen dem Somme der Liebe und den Ereignissen um Stonewall hingezogen fühlt. Auch wenn David Gerrold es nicht selten bei Andeutungen, dem Beschreiben einer gegenseitigen Anziehung belässt und sich eher konzentriert, die Homosexuellenbewegung vor dem Aufkommen einer „Bewegung“ in Los Angeles Ende der sechziger Jahre zu beschreiben, spürt der Leser, wie sehr ihm diese Zeit und vor allem auch die Geschichte des Protagonisten am Herzen liegt. Es sind die kleinen Exkursionen – Besuch im Elternhaus; die erste Abneigung gegen einer aus Sicht des jugendlichen Protagonisten nicht perfekten Hundes -,  welche die dreidimensionale, sehr farbenprächtige Geschichte so prall mit authentischen Leben füllen und den zugrundeliegenden Plot – die Suche nach einem Perversen, der Jungen verschwinden lässt – genauso wie die Science Fiction Idee der Zeitbeben in den Hintergrund treten lässt.

Es ist eine große Stärke einer souverän geschriebenen Geschichte, das der Leser über die einzelnen Charaktere sich dem nicht unbedingt komplizierten, aber interessanten Plot nähern kann. Rückblickend fällt auf, das der ganze Mittelteil im Kern eine sexuelle Orientierungsphase nicht nur des Protagonisten, sondern der ganzen Zeit darstellt, bevor Gerrold sich am Ende auf den Handlungsbogen konzentriert und den Protagonisten für den Leser sehr überraschend erst einmal in die Zukunft reißt, um das Finale vorzubereiten. Der Bruch wirkt angesichts der Ruhe, der stimmigen Atmosphäre und der verschiedenen Handlungsfäden erstaunlich rabiat und unterminiert die Intention des Autoren, aber ansonsten hätten sich David Gerrold wahrscheinlich zu lange und zu sehr in den eigenen, indirekt wiedergegebenen Erinnerungen verloren.

Das Science Fiction Element deutet an, dass die Zeitbeben nicht nur das Los Angeles der sechziger Jahre heimsuchen, sondern ein Phänomen ist, das immer und quasi auch überall auftritt.  Diese Zeitbeben ermöglichen einen gezielten und geplanten Übergang in eine bestimmte Zeit und anscheinend auch eine Art Rückkehr. Im Handlungsverlauf wird David Gerrold auch die Idee der geplanten Zeitreise weiter extrapolieren.

Der Protagonist arbeitet für eine Agentur, die in der Vergangenheit auf Wunsch der Auftraggeber Korrekturen vornimmt. Eine falsche Entscheidung kann gerade gebogen,  ein Verbrechen verhindert, ein Verschollener gefunden oder ein bestimmtes Ereignis besucht werden.  Die Ausbildung ist nicht leicht, auch wenn viele der Missionen eher wie Kinderspiele erscheinen. Vor allem ist es wichtig, das der Bote immer distanziert an die Aufgabe herangeht und seinen Emotionen nicht die Kontrolle überlässt. Es ist plottechnisch unumgänglich, das ausgerechnet das passiert.

Der ehemalige Vietnamveteran und Bote übernimmt den Auftrag, nach einem bestimmten verschwundenen Jungen in West Hollywood Ende der sechziger Jahre zu suchen. Anscheinend gibt es einen Serienmörder, der unter der homosexuellen Gemeinschaft nach Opfern sucht.  Ausgangspunkt kann nur das erste Opfer sein; er selbst soll nach dem dritten Opfer schauen und möglicherweise einen Mord verhindern.   

David Gerrold spielt nicht nur souverän mit seinen Figuren, die zugrundeliegende Handlung ist interessant aufgebaut. Der Zuschauer/ Leser bewegt sich immer auf Augenhöhe des Protagonisten und erfährt alle Informationen aus erster Hand.

Darüber hinaus agiert der Protagonist als humorvoller Erzähler, der mit seinem literarischen Wissen auch ein wenig prahlt. Da werden berühmte Texte oder Filme zitiert, die wie zum Beispiel „Der Pate“ erst wenige Jahre später bekannt werden sollen. Die Altersversorgung wird durch den Kauf von seltenen Comics oder Barbie Puppen gefördert. Immer wieder gibt es Hinweise auf den besonderen American Way of Life in Los Angeles. Aber auch die Zeitbeben haben ihre Folgen. So operiert das Büro quasi aus der Vergangenheit in Richtung Gegenwart und schrumpft aus der Perspektive des Protagonisten. An einer anderen Stelle lassen sich die Adrenalinjunkies einfach durch ein solches Beben zeitlich unkontrolliert und spontan versetzen. Die Bürger in Los Angeles beginnen langsam die Gerüchte um Zeittouristen zu glauben, bislang sind sie nicht aktiv involviert gewesen.  David Gerrold macht sich anfänglich einen Spass daraus, das Ausgangsszenario erst kompliziert, dann wieder ohne Technik pragmatisch zu beschreiben.

Die große Schwäche ist das Ende. Es wirkt zu rund und die Plotausrichtung wird plötzlich eher aus dem Nichts heraus relativiert.  Der Protagonist kommt angesichts der mit dem Vorschlaghammer präsentierten "Beweise" auf die einzige in Frage kommende Lösung. Es bleibt nur offen, wie er sich entscheidet. Auch hier hat Gerrold eine eher fragwürdige chemische Lösung, anstatt seinen Protagonisten von ganzen Herzen selbst eine Entscheidung treffen zu lassen. Auf jeden Fall wäre es spannender gewesen, die Geschichte auch mit den vorhandenen Protagonisten in der Vergangenheit abschließen zu lassen.  

Manches erinnert auch ein wenig an das geplante Chaos in seinem Zeitreiseroman „Zeitmaschinen gehen anders“, aber der Hintergrund der Geschichte ist deutlich ernster, der Fokus liegt mehr auf Stimmungen als einer reinen Spannungskurve. Unabhängig von einigen kleineren Schwächen mit einer überambitionierten anfänglichen Konstruktion mit statischen Querverweisen gehört „In the Quake Zone“ zu den besten längeren Arbeit Gerrolds im 21. Jahrhundert und zeigt, dass mit fortschreitendem Alter sein exzentrisch unterhaltsames Werk eine rückschauende sehr persönliche Altersweisheit gefunden hat, welche seine viel zu seltenen Texte aus der Masse herausheben.

Karl Schroeders  "The Dragon of Pripyat" ist eine von zwei Geschichten um den launischen in sich gekehrten Russen oder Ukrainer Gennady Malianov, der sich auch hinsichtlich seiner Fernbeziehung zu einer leidenden jungen Dame immer im Weg steht. Er scheint ein Mann fürs grobe, fürs Lebensgefährliche zu sein. Über seine Organisation erfährt der Leser so gut wie nichts. Nur könnte er in einer Welt aus Grautönen zu den Guten gehören.  Im Niemandsland unmittelbar um die Reaktoren von Tscherrnobyl droht jemand spaltbares Material freizulassen, in dem er ggfs. mittels einer Todmannschaltung die Betonkuppeln über den Reaktoren vernichtet. Malianov soll prüfen, ob diese Drohungen aus der unmittelbar in der Nähe der Stadt Pripyat gelegenen Reaktoren ernst nehmen muss.

Die Stärke der Geschichte basiert weniger auf der Begegnung mit dem mysteriösen Drachen, für den der Autor eine nachvollziehbare Erklärung hat, sondern auf dieser faszinierend fremdartigen Mischung aus verstrahlter Umgebung und wild wuchender, „unberührter“ Natur.   Karl Schroeder nutzt dabei nicht nur das inzwischen zur Verfügung stehende Bildmaterial aus der gesperrten Gegend um den Reaktor bei seinen Beschreibungen, sondern fügt den Legenden um den einsamen Motorradfahrer in dem Gebiet weitere Facetten hinzu.    

Auch wenn sein Protagonist ein Einzelgänger, eine Art Einsiedler ist, der sich nur auf diesen besonderen  Missionen lebendig fühlen kann, zeigt Karl Schroeder, wie schwierig es ist, eine Fernbeziehung zu führen. In Pripyat trifft Malianov auf einige seltsame exzentrische, aber auch nicht unsympathische Protagonisten. Da wäre der Mann, der nur Besucher akzeptiert, keine Nachbarn. Oder die geheimnisvolle Gestalt hinter dem Drachen. Nicht selten belässt es Karl Schroeder bei charakteristischen Schlaglichtern,  setzt auf die Phantasie der Leser. Das Ende ist zufriedenstellend, die Erklärung des „übernatürlichen“ Phänomens nachvollziehbar und der Spannungsbogen wird souverän zu Ende geführt.

Aber es ist dieser gefährliche Hintergrund, vor dem sich das Geschehen abspielt, der alles „überstrahlt“ und die Novelle als Ganzes betrachtet zum Höhepunkt dieser „Forever“ Ausgabe macht.   

Die kürzeste Geschichte der Sammlung ist „The Chameleon´s Gloves“ von Yoon Ha Lee.  Die Geschichte erschien vor noch nicht einmal zwei Jahren in der Anthologie „Cosmic Powers“. Viele Punkte wirken zu Beginn wie eine Neuauflage von bestehenden Klischees.  Rhehan war früher eine Art Supersoldat für die Kel, bevor man ihn herausgeschmissen hat. Alleine diese Idee ist angesichts der Fähigkeiten schon fragwürdig, eine Handgranate mit eingedrückten Zündhebel alleine auf sich gestellt. Jetzt brauchen die Kel Rhehan natürlich für eine einmalige gefährliche Mission. Als Belohnung wird der einzige Punkt in Aussicht gestellt, der den Supersoldaten natürlich in Versuchung führen könnte. Dabei ist die Suche nur eine Art MacGuffin, denn das Problem wird abschließend nicht gelöst, sondern nur aufgeschoben.

Die Supersoldaten erhalten besondere Handschuhe, die eher eigenständige Waffen sind. Es ist eine Ehre und diese Ehre will Rhehan zurückhaben. Die spannende Frage ist, ob der ehrlos entlassene Rhehan ehrlich mit den Kel ist oder im Verborgenen eigene Pläne vorantreibt. In der zweiten Hälfte der kurzweilig zu lesenden, von einem hohen Tempo geprägten Geschichte werden die meisten Fragen entsprechend positiv beantwortet und der Leser kann sich auf das eigene Gefühl hinsichtlich der Figuren verlassen.

Es ist das Ausgangsszenario, das eher unbewusst vertraut erscheint und deswegen die Geschichte weniger originell erscheinen lässt, als sie es im mittleren Abschnitt ist.

Zusammengefasst setzt die kleine Jubiläumsnummer den starken Aufwärtstrend der letzten Ausgaben nahtlos fort.  Auf die Nachdrucke wird ein normaler Leser nicht unbedingt gleich kommen, daher ist jede monatliche „Forever“ Ausgabe wie eine kleine Schatztruhe, mit drei momentan unterschiedlich großen Perlen drin.   

 

Forever Magazine Issue 50 eBook by Neil Clarke,David Gerrold,Karl Schroeder,Yoon Ha Lee

E Book, 122 Seiten 

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