Wassermanns Roboter

Wolfgang Jeschnke (Hrsg.)

 Die ursprünglich 1988 publizierte Anthologie internationaler Science Fiction Geschichten besticht vor allem mit den ersten drei Texten. Lucius Shepard und Ian McDonald portraitieren den nicht alltäglichen Wahnsinn, während Harlan Ellison mit „Wächter der letzten Stunde“ vermutlich ein nicht verwandtes Drehbuch der „Twilight Zone“ Neuauflage umgeschrieben hat. Harlan Ellison hat in seinen Fernsehdrehbüchern immer normale Menschen in phantastischen Situationen beschrieben. Dabei ging es ihm vor allem um das Zwischenmenschliche. Phantastische Ideen dienten dabei eher als Katalysator. In dieser Novelle beschreibt er die Freundschaft zwischen zwei auf der einen Seite auch altersmäßig unterschiedlichen Menschen, die vor allem Einsamkeit und Schuldgefühle miteinander verbinden. Während der alte Mann mit seiner seltsamen, wertvollen, aber stehen gebliebenen alten Uhr sich nach seiner verstorbenen Frau sehnt, kann Billy Kinneta ein Erlebnis aus Vietnam nicht vergessen. Bei einem nächtlichen Überfall rettet ihm ein unbekannter Soldat durch seine leichtsinnige Tat das Leben. Von Schuldgefühlen geplagt zieht er an den Ort seiner letzten Ruhestätte und begegnet dort dem alten Mann. Auch wenn der Leser den Handlungsverlauf ahnen kann und sich nur die Frage stellt, welches Geheimnis hinter der Uhr steckt, hat Harlan Ellison melancholisch, aber nicht kitschig derartig überzeugende Charaktere entwickelt, das der Leser unwillkürlich mehr Zeit mit ihnen verbringen möchte. Und das ist eine Ironie, denn ausgerechnet Zeit haben diese beiden Männer nur begrenzt. Und dabei stünde sie ihnen zur Verfügung.

 Hinsichtlich der Charaktere überzeugen auch Lucius Shepards „Professor Sombras Automaten“ und Ian McDonalds „Van Goghs unvollendetes Portrait des Königs der Schmerzen“. In beiden Geschichten lauert der Wahnsinn direkt unter der Oberfläche. Während Shepards Liebesgeschichte eines gestrandeten Musikers in einem kleinen Laden in der Wüste tragisch endet und der Moment des Glücks förmlich weg gespült wird, konzentriert sich der Ire Ian McDonald auf die Idee, das Van Gogh nicht unbedingt wahnsinnig gewesen ist, sondern aus der Zukunft manipuliert werden konnte. Dabei malt Ian McDonald gut recherchiert mit einem sehr breiten Pinsel und zeigt eine Fiktion auf. Die einzelnen Aspekte aus dem Maler des Lebens sind vorhanden, während der ihn immer wieder heimsuchende König der Schmerzes ambivalent bleibt. Ist es ein Mensch oder sind es doch nur die aus dem Takt geratenen Klicks einer gigantischen zukünftigen Weltmaschine, die entlang des Zeitstroms „Opfer“ sucht. Im Grunde spielt diese Frage auch keine nachhaltige Rolle, da die Figuren so bizarr und faszinierend zu gleich charakterisiert worden sind, das der Leser sich von der Handlung mitreißen kann.

 Tragisch dagegen ist Lucius Shepards Liebesgeschichte. Der Musiker mit der Vergangenheit aus der Anstalt geflohen ist wahrscheinlich doch mehr Täter als Opfer. Die junge attraktive Frau in der Wüste, auf der Suche nach einem Freund, nach Zärtlichkeit. Die von ihrem verstorbenen Vater gesammelten Musikboxen und natürlich der eifersüchtige Ex Freund und Sheriff. Lucius Shepard spielt in seinem melancholisch allwissenden Erzählstil gerne mit den Klischees, um sie in der letzten Sequenz für einen Moment positiv aufzulösen, bevor die Tragödie beginnt. Shepard ist immer in Maßen zu goutieren. Er ist ein provokanter Autor, der hinter den Fassaden gerne den nicht alltäglichen Wahnsinn sucht. Aber wenn man seine Kurzgeschichten konzentriert und isoliert liest, dann erkennt der Leser auch einen in seinem Herzen einsamen Mann, der die Ecken und Kanten des alltäglichen Lebens in seinen Texten extrapoliert und überwiegend tragisch verstörend auflöst. Das macht sein Werk so einzigartig und zeitlos. Dabei spielt es keine Rolle, dass die phantastische Elemente wie auch in den anderen beiden Texten höchstens Beiwerk sind. Alleine die Protagonisten tragen die Plots auf ihren zerbrechlichen, am Ende gebrochenen Schultern. 

 Christian Mähr vertritt zusammen mit Ernst Petz die Alpenrepublik Österreich. Seine Novelle „Sprecher und Hörer“ beginnt viel versprechend. In einer eher sozialistisch geprägten Zukunft müssen vor allem die Alten immer wieder neue Sprachen oder Variationen der Sprache lernen. Diese Zwangsbildung macht keinen nachhaltigen Sinn, verärgert aber die nicht unbedingt greisen, aber vor allem nicht anpassten älteren Mann. In der Mitte der Geschichte kommt es zu einer Art Bruch. Ein Radio mit Röhren ermöglicht eine besondere Art der Kommunikation, die vom Staat schwer bis unmöglich zu kontrollieren ist. Am Ende führt der Autor diese beiden Ebenen zwar zusammen, aber die Geschichte wirkt abschließend bemüht und vor allem vermisst der Leser die anfänglich so exzentrischen, aber auch interessant gezeichneten Protagonisten.

 Roboter spielen in einer Reihe von Geschichten eine wichtige Rolle. Weniger in die klassischen Rolle als arbeitstechnische Alternative zu den Menschen, sondern auf der emotionalen Ebene. In Thomas Wintners "Das Geschenk" ist es ein Roboter, der zwei alten Menschen zumindest zu Beginn hilft, ihre inzwischen aufgegebenen Träume eine Reise in einer Art modernen Wohnmobil zu verwirklich. Bei Lino Aldani "Psychosomatisches Doppel" hat ein Wissenschaftler und Künstler einen kräftigen Androiden gebaut, der seinem Ebenbild entspricht. Anscheinend wird mehr und mehr von seinem Wesen auch auf diese Maschine nach seinem Tod projiziert. Seine Frau sieht den Androiden inzwischen als ihren Mann an. Einzelne Gesten deuten darauf hin, dass die Maschine auf Manierismen übernommen hat. In beiden Geschichten ist das Ende folgerichtig, aber auch tragisch. Es geht um die mechanisierte Illusion, denen sich die Menschen noch einmal kurzzeitig unterwerfen können, bevor die Realität bitter zuschlägt. Beide Autoren haben aber sehr zugängliche, sehr dreidimensionale Charaktere erschaffen, so dass die Plots deswegen auch ein wenig unter die Haut gehen. 

Plottechnisch ist "Wassermans Roboter" von Richard Stone die vielleicht interessanteste Androidengeschichte. In ferner Zukunft werden die Roboter gejagt. Sie sind menschenähnlich und nehmen den Bürgern die Arbeitsplätze weg. Die Paranoia geht so weit, dass auch Menschen für Roboter gehalten und getötet werden. Dadurch müssen sie gekennzeichnet werden, was sie zu leichteren Zielobjekten macht. Wasserman hat eine kleine Näherei und Reinigung. Er ist auf die Botendienste seiner Roboter angewiesen und so denkt er sich mit fatalen Folgen eine Art Schutzmechanismus aus, den die Polizei anfänglich nicht knacken kann. Die Figuren sind dreidimensional gezeichnet. Richard Stone zeigt Fluch und Segen einer auf billiger mechanischer Arbeit basierenden Menschheit überdeutlich auf. Ein ums Überleben kämpfender Selbstständiger wie Wasserman sucht sein Heil in der Eigeninitiative und versteckt gar nicht, als seine Idee fürchterlich schief geht. Vor allem beherrscht Richard Stone in seinem kleinen Krimi die Fähigkeit, Offenkundiges absurd erscheinen zu lassen und Fakten zu verdrehen. 

 Raumflüge sind für die Psyche gefährlich. Zwei unterschiedliche Texte verdeutlichen es. In Richard Paul Russos "Gebete eines Regengottes" kommt ein introvertierter Astronaut vom Mars zurück. Er träumt von einer unter der Dürre leitenden Siedlung fremder Menschen. Die Visionen werden immer greifbarer, er entfernt sich mehr und mehr aus der Realität. In Christian Lautenschlags "Es kommt der Pan" befindet sich eine Gruppe von Wissenschaftlern noch in den Tiefen des Alls. Sie erleben Visionen des bekannten Gottes, der ihnen ihre Frauen stehlen möchte. Während Russos Text sehr geradlinig ist und nur wenige inhaltliche Überraschungen, aber einen interessanten intimen Stil präsentiert, ist Christian Lautenschlags Story durch die verschiedenen Perspektiven lesenswert. Das Gesamtbild fügt sich aus Mosaikstücken zusammen, wobei der Leser nicht abschließend weiß, ob die Raumfahrer wirklich einem gottgleichen Wesen basierend auf den alten Legenden und Sagen begegnen oder der Wahnsinn sie alle fest in den Klauen hat. Der experimentelle Stil, die wechselnden erzählerischen Perspektiven und das hohe innere Tempo machen die Story zu einer vielschichtigen Lektüre, wobei sich Paul Richard Russo hinsichtlich der Entwicklung der einzelnen Figuren sichtlich mehr Mühe gemacht hat. 

Eddy C. Bertins „Die Todesträume der Sybillen Sternenstaub“ reiht sich in diese Riege ein.  Ein skrupelloser Wissenschaftler hat beginnend mit seinem Sohn und folgerichtig seiner Enkelin mit Medikamenten Gene manipuliert, damit eine zeitlose Kommunikation mittels einer Mischung aus Telepathie und Empathie möglich ist. Damit soll die Eroberung des Raums problemloser erfolgen. Natürlich kommt es im All zu einer Katastrophe und die Fähigkeiten der jungen Protagonistin schlagen quasi zurück.  Die Geschichte setzt sich aus zwei Handlungsebenen zusammen, die gut miteinander verbunden sind. Ohne Pathos und vor allem Klischees zeigt der Autor die Willkür des Großvaters, der aber kein verrückter Wissenschaftler, sondern ein von seiner Idee besessener Mann. Seine Argumentation ist unabhängig von den eigegangenen Risiken absolut nachvollziehbar.

„Ein beschwingter Morgen“ von Wladimir Scherbakow ist eine ungewöhnliche First Contact Geschichte, in welcher der Leser nicht sicher sein kann, wer die Fremden und wer die Menschen sind. Ob die Geschichte wirklich auf der Erde spielt oder es eine Spiegelwelt in den Tiefen des Alls gibt. Wie bei einer Zwiebel wird gegen Ende mindestens eine Schale abgelöst und die Handlungen der einzelnen Protagonisten klarer. Wie viele russische Autoren definiert Scherbakow seinen Spannungsbogen weniger über Action oder Tempo, sondern entwickelt ein intellektuelles, intimes, durchaus auch provozierendes Spiel, das insbesondere aber zu Beginn auch sehr viel Geduld vom Leser verlangt.   

  Zwei Beiträge ragen durch ihren besonderen Humor hervor. Fast eine autobiographische Geschichte ist „Dämon“ von James Patrick Kelly. Sein Freund John Kessel spielt auch eine Rolle. Auf einem Con wird Kelly von einer Frau angesprochen, die er vor vielen Jahren auf einer der Clarion Schreibwerkstätten unterrichtet hat. Sie bringt ihm eine phantastische Geschichte und will, dass Kelly daraus eine Kurzgeschichte gegen Bezahlung macht. Das Ende ist offen, vielleicht nicht unbedingt subtil, aber interessant. Vor allem überzeugt der Plot aber wegen den nicht unbedingt intimen, aber interessanten Einblicken in das Alltagsleben eines vor allem Kurzgeschichtenautors, der nur dank der regelmäßigen Arbeit seiner Frau über die Runden kommt. Noch exzentrischer ist Ernst Petzs als Vortrag verfasste Kurzgeschichte „Warum Frankenstein scheitern musste“. Da der Wissenschaftler bei seinen Experimenten nicht auf die Öffentlichkeitswirkung geachtet und politische Seilschaften ignoriert hat, wurde er unabhängig von den Handlungen seines Monsters zu einem Buhmann. Mit den modernen soziologischen Analysen der gegenwärtigen Elfenbeinturmlehre zerreißt Ernst Petz mit sichtlichen Vergnügen die damaligen Vorgänge, nachdem er sowohl Frankenstein als auch sein Monster als reale Protaginsten etabliert hat. Die Story ist wunderbar abgehoben, voll überzogenen Fachausdrücken, die sich um die Quadratur des Kreises dreht.     

Zu den besten Geschichten gehört David Brins "Thor trifft Captain America". In einem alternativen Universum kämpfen die Alliierten nicht nur gegen die Nazis, sondern auch gegen die nordischen Götter. Die Asen helfen bis auf dem ambivalenten Loki den Nazis. Trotzdem ist der Kampf der Verbündeten gegen die Nationalsozialisten nicht gänzlich aussichtslos. Ein geheimes Kommandounternehmen angeführt von der menschlichen Inkarnation Captain Americas und Lokis will direkt in Wallhalla einen nuklearen Sprengkopf platzieren. David Brin hat ein dunkles Garn entwickelt, das sich vor allem auf die nordischen Mythen, aber weniger die Heldensagen konzentriert. Das Ende ist zynisch und optimistisch zugleich. Die Charaktere sind gut gezeichnet, die Comicvorbilder genauso gut zu erkennen wie die mystischen Figuren.

Die längste Geschichte der Sammlung ist George R.R. Martins "Die Glasblume". Lange vor seinen Erfolgen als "Games of Throne" Autor ist Martin ein exzentrischer Science Fiction Autor gewesen, der nicht selten simple Handlungen wie ein Duell der Seelen geschickt extrapoliert und vor allem exotische Hintergründe geschaffen hat. Seine Figuren sind immer überlebensgroß. Die meisten vereinigen auf eine seltsame Art und Weise Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ihre Wünsche und Neigungen fokussiert der Autor  auf Schlüsselmomente und nicht selten ergibt sich weniger aus ihren Handlungen denn Stimmungen ein ausgesprochen ambivalentes Bild.

Dabei bewegt sich George R.R. Martin auf einem schmalen Grat, denn die Mythen dürfen niemals die Handlung erdrücken und die Fremdartigkeit der Hintergründe, die anscheinend mit jeder kleinen Bemerkung eine eigene Geschichte erzählen, sollten nicht den Fluß des Handlungsbogen unterminieren. Wenn am Ende der Autor die erzähltechnische Dimension verlässt und seinem Universum eine weitere Haut in Form der angesprochenen Glasblume überstülpt, wirkt es fast zu viel. Aber Martin ist ein ideenreicher und natürlicher Erzähler, so dass weniger Form und Logik im Mittelpunkt seiner Novellen stehen als die reine Freude am Erzählen.  

 Jörn J. Barmbecks "Ich werde immer da sein, wenn du mich brauchst" ist eine dieser dunklen psychologischen Storys, in denen die auf den ersten Blick ehrliche Hilfe sich als etwas gänzlich Anderes entpuppt. Die Pointe ist nicht klar erkennbar, sie ist aber folgerichtig. Anfänglich ein wenig zu lang, zu ambivalent fokussiert sich der Text relativ schnell und steuert dann das offene, aber wie angesprochen auch konsequentes Ende solide an. 

 Andere Texte wie Hans Altmeyers "Sprung in die Tiefe" verfügen nur über indirekte phantastische Elemente. Auch wenn die Pointe vorhersehbar ist, unterhält sie pointiert und kurzweilig. Die Grundidee mit der wissenschaftlich extrapolierten Idee ist bizarr und kann nur einer Runde Alkohol entspringen, aber der Autor bringt es förmlich auf den Punkt. Auch Karen Joy Fowlers "Das Geistertor" könnte als Alptraum durchgehen. Die phantastischen Elemente sind spärlich, aber die Angst eines kleinen Mädchens vor einem anderen Ort, die Liebe der Eltern und schließlich die finale Auflösung, die als Vision genauso durchgehen kann wie als "wahre" Begebenheit runden eine inhallich ausgesprochen ruhige, auf die Zwischentöne und glaubhaften Figuren abgestimmte Story sehr gut ab. 

Florian F. Marzins „Traumzeit“ ist eine stimmungsvolle Reisegeschichte, an deren Ende die phantastischen Elemente entweder vom Leser als real akzeptiert worden oder ein Teil einer weiteren Legende geworden ist. Der unbedarfte Tourist, der verschlagene Erzähler, die Alkoholschwangere Stimmung und schließlich anfänglich eine Erzählung, die wie eine Zeitreise erscheint und ein wenig an eine Machoversion von Peter Weirs einzigartigem „Picnic at Hanging Rock“ erinnert. Nicht nur in dieser Story entpuppt sich Florian F. Marzin als ein ausgesprochen stilsicherer Erzähler, der genaue die richtige so bodenständige, so fast proletenhafte Stimmlage trifft, um den Touristen wie auch den Leser in die mystische Niemandswelt der Ureinwohner zu ziehen. 

Zusammengefasst gehört "Wassermans Roboter" auch der Graphiken Bruno Gräfs, Klaus Porschas, Klaus D. Schiemanns und Jobst Telschik zu den besten Anthologien der achtziger Jahre mit herausragend thematisch unterschiedlichen Geschichten vor allem sehr bekannter amerikanischer Autoren bis zu den guten Beiträgen aus verschiedenen europäischen Ländern wie Österreich, den Niederlanden oder Russland. Die deutschen Beiträge sind auf sehr unterschiedliche Art und Weise ausgesprochen unterhaltsam und runden wie angesprochen eine wirklich überdurchschnittlich und deswegen zum Einstieg auch sehr gut geeignete Anthologie ab.

 

Wassermans Roboter

Verlag/Jahr/Seiten: Heyne / 1988 - 620 Seiten
Reihe: Heyne Science Fiction & Fantasy 4513
ISBN: 3-453-02768-X     ISBN13: 978-3-453-02768-8