Clarkesworld 155

Neil Clarke (Hrsg.)

Neil Clarke geht auf die populärsten Kurzgeschichten der letzten Jahre ein und interviewt gleichzeitig im wahrsten Sinne des Wortes einen Kollegen. Jonathan Strahan gibt zusammen mit ihm die einzige „Year´s Best Anthologie“ heraus, nachdem David Hartwell und Gardner Dozois verstorben sind.  Neben der Exkursion über die Besonderheiten von Karbonplaneten findet sich mit „It Came from the Garage“ noch ein Essay über die Guerillafilmemacher in Hollywood, die dank der neuen Technologien und Verbreitungsmöglichkeiten eine neue Abnahmequelle gefunden haben.

 Wie in den letzten „Clarkesworld“ verzichtet Neil Clarke zu Gunsten der Kooperation sowohl mit China als auch Korea auf Nachdruck. Insgesamt fünf Kurzgeschichten und zwei kürzere Novellen bilden das Herzstück dieser Ausgabe.

 Beston Barnett eröffnet den August mit einer der stärksten Kurzgeschichten dieser Ausgabe. „Entangled“ beschreibt das Leben des ersten Außerirdischen, der ein Bürger der Erde wird. Es handelt sich nicht um den ersten Fremden, der die Erde besucht, sondern sich einbürgern lässt. In seinem tiefsten Herzen ist er unglücklich und da helfen auch keine Kontaktanzeigen im Internet. Barnett schafft es aber nicht, das eindringliche Ausgangsszenario zu einem zufrieden stellenden Ende zu bringen. Bei dem Fremden hat sich nichts verändert und das offene Ende frustriert mehr als das es eine mögliche Lösung aufzeigt. Stilistisch kann sich Beston Barnett nicht zwischen einem emotionalen Stil oder der distanzierten Erzählstruktur entscheiden, mit welcher wichtige Abschnitte der Kurzgeschichte präsentiert werden. Das die intergalaktische Kommunikation mit keiner Technik in Sekunden abläuft, steht auf einem anderen Blatt. Auf der anderen Seite ist die Ausgangslage interessant und spricht gegenwärtige Situationen überzeugend an. Das Aufwachsen auf einer fremden Welt erinnert an die mittelalterlichen Friedensbekundungen zwischen adligen Häusern, die ihre Kinder gegenseitig von den möglichen Feinden haben erziehen lassen. Es wird allerdings nicht die Frage beantwortet, warum die Außerirdischen nur einen Vertreter ihrer Rasse zur Erde schicken oder schicken müssen und ob als Gegenbesuch nur ein Mensch bei denen lebt. Es bietet sich unendlich viel Potential an, aus dieser Prämisse eine überzeugende Novelle zu machen.

 Die kürzeste Story der Sammlung ist gleichzeitig eine der Besten. „Your Face“ von Rachel Swirsky beschreibt die Gespräche mit ihrer Tochter über einen Computer. Ihrer Tochter ist einen Monat vorher etwas passiert. Der Leser erfährt anfänglich so gut wie nichts über ihr Schicksal. Im Laufe des Gesprächs wird der Mutter klar, dass diese Kommunikation eher einseitig ist und vor allem sie nicht ihre Tochter ersetzen kann. Es ist dieser ergreifende Moment, in dem sich die Handlung der Story nicht nur dreht, sondern vor allem der Leser erkennt, dass er ein im Grunde tragisches wie alltägliches Schicksal verfolgt.

 „Onyx Woods and the Grains of Deception“ von D.A. Xialon Spires greift ein ebenfalls alltägliches Thema auf. Staira arbeitet auf dem Feld, wo die gigantischen Onyx Bäume gefällt werden, um Platz für Weizenfelder auf einem besiedelten fremden Planeten zu machen. Sie beginnt sich zu fragen, ob diese Eingriffe in den ökologischen Kreislauf nicht langfristige Folgen haben werden. Sie ergreift die Initiative und will etwas verändern. Das zynische Ende impliziert, dass ein Mensch nicht zwangsläufig einen Unterschied machen kann oder muss. Aber bis dahin gibt es einige Veränderungen und vor allem Hintergrundinformationen, die in der vorliegenden Form keinen wirklichen Sinn machen und aufgesetzt erscheinen. Damit soll anscheinend das tragische Schicksal der Protagonisten weiter betont werden, wobei das Gegenteil der im Grunde der Fall ist. Ohne ihre Hintergrundgeschichte hätte hier Erwachen noch viel überzeugender und nachhaltiger gewirkt.

 Harry Turtledove präsentiert mit „The Yorkshire Mammoth“ eine humorvolle Alternativweltgeschichte. Das Eis ist immer noch bis nach Yorkshire vorgedrungen, auch wenn sich eine durchaus industrielle Gesellschaft im Schatten des gigantischen Eisfeldes entwickelt hat. Ein Tierarzt soll den ausgebrochenen Zahn eines Mammuts reparieren. Mit dem zahntechnischen Wissen aus den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts geht der Protagonist vor, wobei Turtledove einen Spannungsbogen vergisst und quasi die verschiedenen Techniken einfach zusammenlaufen lässt. Historisch macht der Autor kleinere Fehler, in dem er die schottische Geschichte nicht unter dem ewigen Eis vergräbt, sondern zumindest auf deren Thronfolge verweist. Dabei gibt es nördlich von Yorkshire keine echte Zivilisation.  

 Das koreanische Autorenkollektiv Dunja präsentiert mit „The Second Nanny“ eine über weite Strecken bedingt unterhaltsame Geschichte, deren wissenschaftlicher Hintergrund wie bei vielen anderen Texten aber furchtbar ist. So können Raumschiffe nicht auf dem Titan landen, weil deren Atmosphäre sie zum Explodieren bringen könnte. In erster Linie geht es um den Konflikt zwischen zwei künstlichen Intelligenzen, von denen die Nanny KI an Bord eine posthumanen Menschen gebauten Raumschiff ist, die von einer Art feindlicher „Vater“ KI angegriffen wird. Auch wenn Brook als Teenanger und jugendliche Identifikationsfigur angeblich so viel weiter als die Menschen entwickelt sein soll, ist sie ein erkennbar abenteuerlicher menschlicher Teenager. Ihre Ansichten sind überzeugend.

 Dagegen stehen bis auf die Actionszenen einige Schwächen, die sich sowohl durch die koreanischen wie auch die chinesischen Übersetzungen ziehen. Den Übersetzern fehlt das Gefühl, die Erfahrung für den Stoff. In diesem Fall kommt eine schwerfällige Erzählform mit distanzierten langwierigen Erklärungen genauso hinzu wie ein Ende, das den Leser staunen lässt. Nicht etwa wegen der Originalität oder Intensität, sondern vor allem, weil Dunja derartig frech eine dumme Auflösung präsentiert, welche jegliche menschliche Intelligenz, von künstlicher Intelligenz ganz zu schweigen beleidigt. Zusätzlich machen die Autoren hinter dem Pseudonym den Fehler, die künstlichen Intelligenzen mit allen Stärken und Schwächen zu sehr zu vermenschlichen, so dass eine echte Spannungskurve aufkommt und vor allem die Gefahren eher konzipiert als aus sich heraus entwickelt erscheinen. Bislang hat die Kooperation mit Korea nur eine lesenswerte Geschichte in den letzten vier Ausgaben zustande gebracht, was herzlich wenig ist.  

 Das Konzept des chinesischen Beitrags ist mehr als ambitioniert. Vier verschiedene Gruppen von Menschen diskutieren in einer Art fiktiven Fernsehbericht die Möglichkeiten der Reproduktion in der Zukunft. „Chen Qiufans Titel „In This Moment, We Are Happy“ könnte auch ironisch interpretiert werden, denn abschließend kommen die vier Segmente nicht wirklich zusammen. Teilweise beinhalten sie aufgrund der angedeuteten Zukunft das Potential für mindestens eine Novelle, wenn nicht sogar einen ganzen Roman. Im ersten Teil wird eine junge Frau als Ersatzmutter angeheuert, um das Kind einer reichen Chinesin zu gebären. Auch wenn die chinesische Kultur und damit auch die Rechtssprechung sich von westlichen Standards unterscheiden mag, zieht sich durch diesen Handlungsbogen kein für den Leser wirklich nachvollziehbarer roter Faden. Vieles wirkt zu sprunghaft, an anderen Stellen eher dem Plot geschuldet improvisiert. Ein Mann möchte gerne ein Kind selbst gebären. Auf dieser Handlungsebene wird auf eine Reihe von eher bemühten amerikanischen Filmen verwiesen, bevor die Autorin auf eine Reihe von fiktiven Filmen eingeht, welche das Unterfangen wissenschaftlich korrekter beschreiben. Das lesbische Paar fällt eher in den Bereich Klischee, während auf der vierten Handlungsebene eine geheime Organisation die menschliche Reproduktion im Allgemeinen, aber vor allem die genetische Auswahl im Besonderen kontrollieren und entsprechend manipulieren möchte.

 Der Todeswunsch des gebärenden Vaters wird ebenso wenig herausgearbeitet wie die Motivation der Geheimorganisation. Durch die Fokussierung auf Interviews und damit generell eine subjektive Wiedergabe wird nur ein fragmentarisches Bild gezeichnet und viele notwendige Hintergrundinformationen entweder ignoriert oder manipulierend präsentiert.

 Auch wenn die Grundidee und das Konzept interessant sind, ist die Kurzgeschichte oder selbst Novelle nicht das richtige Format. Daher bleibt der Leser verwirrt und enttäuscht zurück.

 Zusammenfassend ist auch die August Ausgabe von „Clarkesworld“ leider eher ernüchternd. Das Koreaprojekt hat bislang überhaupt nicht funktioniert, die asiatischen/ chinesischen Geschichten sind qualitativ deutlich schlechter als zu Beginn dieser Ära. Vielleicht ist „Clarkesworld“ in einem boomenden Markt nicht in der Lage, an die gegenwärtigen Spitzenautoren noch heranzukommen und/ oder es gibt nicht ausreichend wirklich gute Geschichten. Die starken und überzeugenden Nachdrucke haben die schwächere primäre Qualität in den letzten Monaten immer wieder ausgleichen können. Niemals vermisst man sie mehr als jetzt.     

Wyrm Publising

E Book 112 Seiten