Mars Override

Richard Morgan

Mit im Original „Thin Air“ kehrt Richard Morgan nach einigen Exkursen in den Bereich der Spielewelten zur Science Fiction zurück. Der deutsche Titel „Mars Override“ soll das Actionelement der Serie ausdrücken, nimmt dem mit über siebenhundert Seiten aber auch epochal aufgebauten Roman einen Teil seiner Thematik. Es handelt sich auch auf der charakterlichen Ebene um eine art Fortsetzung. Im Vergleich zur deutschen Ausgabe erschien schon vor dreizehn Jahren mit „Skorpion“ (im Original „Black Man“) ein ausschließlich auf der Erde spielender erste Teil.

 Richard Morgan ist grundlegend dem modernen und modernisierten Cyberpunkgenre treu geblieben. An einigen Stellen hat der Leser das wohlige Gefühl, ein Buch eher aus den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts denn des 21. Jahrhunderts zu lesen. Wie William Gibson oder Bruce Sterling geht es Richard Morgan in Teilen zwischen den brutalen Actionszenen, die allerdings mehr und mehr von Hollywoods Blockbustern eingeholt worden sind und natürlich einer Reihe erotischer wie perfekter Liebesgeschichte um eine fast antikapitalistische Botschaft, wobei das Japan des 20. Jahrhunderts als globale Bedrohung vor allem des eher theoretisch vorhandenen amerikanischen Fortschrittsglaubens durch die bösen Machenschaften der Konglomerate auf der Erde gegenüber dem besiedelten, aber auch nach innere Freiheit strebenden Mars abgelöst worden ist.

 Hak Veil hat am Ende von „Skorpion“ eher einen Pyrrhussieg errungen. Natürlich hat er die unmögliche Mission erfüllt, aber der mit dem militärischen AI System Osiris aufgemotzte Ex Soldat und Spezialist hat derartig viele einflussreiche Menschen provoziert oder getötet, dass es zeitweiliges Abtauchen in einer Schlafkapsel sinnvoll ist.

 Zwischen den beiden Romanen hat Richard Morgan aus seinem Antihelden eine Art Ein-Mann- Eingreiftruppe gemacht. Zwischen den Einsätzen wird er wie angesprochen in einer Art Stasisfeld an Bord eines der Raumschiffe zwischen den einzelnen besiedelten Welten untergebracht. Bis ihn seine persönliche kybernetische „M“ Inkarnation namens COLIN weckt und in den Einsatz schickt. Nicht jeder Einsatz ist zumindest für die monetäre Schicht von Erfolg gekrönt.

 Der Roman beginnt mit Hak Veils Erwachen. Ein wenig unwahrscheinlich erscheint, dass in der Zwischenzeit so viele Updates eingetroffen sind, das er im Grunde zu Beginn seiner eher ambivalenten Mission – er soll einen Vermissten suchen, der in der marsianischen Lotterie einen Freiflug zur Erde gewonnen hat und plötzlich verschwunden ist – nur auf einer zwischenmenschlichen Ebene agieren kann. Angesichts der Wichtigkeit seiner Missionen erscheint es sinnvoll, ihn auch während der Stasis upzudaten. Aber so hat Richard Morgen Zeit, einige Anekdoten in die sich allerdings sehr langsam entwickelnde Handlung einzubauen.

 Parallel findet auf dem Mars eine Art Revision statt. Die Erde schickt immerhin einhundertdreizehn ihrer besten Prüfer, welche vor allem die einzelnen Unternehmensbereiche dieses eng verzahnten industriellen Molochs prüfen sollen. Hak Veil soll als eine Art Zweitauftrag auf die Leiterin dieser Expedition aufpassen.

 Grundsätzlich unterscheiden sich die im Original inzwischen vier Romane um Takeshi Kovacs und Hak Veil sehr wenig. Auch wenn „Thin Air“ fast ausschließlich auf dem Mars spielt, sind die sozialen Bezüge auf der Erde und dem Mars fast gleich. Eine Art „Blade Runner“ Atmosphäre mit einer in den Fabriken arbeitenden Unterschicht sowie einer sozial dekadenten, abgehobenen Oberschicht, bestehend vor allem aus berühmten sich für die Öffentlichkeit prostituierenden Männern und Frauen sowie den mächtigen Industrielenkern. Auf dem Mars werden grundlegend alle Menschen getrackt. Natürlich ist der Tracker des glücklichen Gewinners der Lotterie ausgeschaltet, so dass Hak Veil mit Händen und Füssen arbeiten müssen. Es ist eine Art Kunstwelt, in welcher alles gefälscht und manipuliert werden kann. Das macht es einem Ermittler nicht leicht, denn er kann sich weder auf seine natürlichen, verstärkten fünf Sinne verlassen noch ist jegliches Beweismaterial fälschungssicher.

 Wie paranoid diese Welt sein kann, zeigt sich an der Tatsache, dass ausgerechnet COLIN die wahrscheinlich größten Geschäfte zwischen dem Mars und der Erde anleiert. Richard Morgan hat sichtlich Freude dran, gegenwärtige Trends bodenständiger, aber auch nachhaltiger zu extrapolieren als es sich die ersten Cyberpunks überhaupt vorstellen konnten.

 Neben den nicht unbedingt komplexen, aber unnötig und manchmal auch zwischen den einzelnen Höhepunkten umständlich kompliziert erzählten beiden Fällen – Suche nach dem Vermissten und Personenschutz – reihen sich einige gut erzählte, aber auch grundsätzlich nicht unbedingt innovative Actionszenen aneinander. Im Gegensatz zu einer Reihe anderer Autoren wie Ian McDonald mit seinen „Mond“ Romanen oder auch Kim Stanley Robinson mit seinem kürzlich veröffentlichten Werk „Roter Mond“ schafft es Richard Morgan zu wenig und dann nicht nachhaltig genug, die Besonderheiten des Mars wie eben die sehr dünne, kaum atembare Atmosphäre oder die geringere Schwerkraft, selbst die Sonnenverhältnisse überzeugend in seinen Roman einzuarbeiten. Viel mehr vergisst er diese Aspekte und konzentriert sich auf eine stetig unglaubwürdiger, aber auch intensiver werdende Abfolge von brutalen Sequenzen, deren Ziel eher die Ablenkung des Lesers als die abschließende Aufklärung des Falls ist.

 In der Ich- Perspektive erzählt fühlt sich der Leser nahe dran am Geschehen. Das ist aber nur bedingt der Fall, denn Richard Morgan öffnet bei jeder ihm opportunen Gelegenheit die Perspektive und fügt teilweise aus dem Nichts, dann wieder durch einen Zufall entdeckt weitere Informationen hinzu. Wie Kovac ist Hak Veil ein „geselliger“ Zeitgenosse, der nicht zuletzt durch die zahlreichen Zwiegespräche mit seinem persönlichen wie zynischen Extrasinn Osiris gut aus der Distanz zu leiden ist. Der Sinn dieser inneren Partner erschließt sich nicht immer dem Leser, denn außer den verschiedenen zynischen Kommentaren über Hak Veils Liebespartnerinnen – selbst eine Amüsiertänzerin mit einem Herzen aus Gold darf nicht fehlen – wirkt Osiris in einigen entscheidenden Szenen nicht unbedingt auf der Höhe. Hak Veil ist ein Killer, der seine Arbeit mit einem nur vordergründig schlechten Gewissen erledigt. Wie es sich für diese höchstens ambivalenten, aber nicht immer ambitioniert gezeichneten Charaktere gehört, müssen sie ihr Böser-Junge-tut-nur-echten-Schurken-sehr-weh gleich zu Beginn des Buches zeigen. Damit die Fronten für die vielleicht moralisch nicht so abgehärteten Leser klar ist. Hak Veil ist zwar ein brutaler Killer, aber er ist auch der Antiheld des Buches und damit die einzige Institution, welcher der Leser vertrauen kann. Widerspruch ist in diesem Fall wie in jedem anderen Richard Morgan Buch wirklich zwecklos.

 Mit dem Lokalpolitiker Boyd Mulholland führt der Autor aber auch seine persönliche Parodie auf die gegenwärtigen Narzissten wie Donald Trump ein. Alleine seine Kampagne als Gegenentwurf zu „America First“ ist köstlich und lohnt einige gequälte und arg in die Länge gezogene Passagen in diesem Buch. Als Leiterin der Prüfer erscheint die kühle wie attraktive Madison Madekwe zu perfekt, obwohl sie zumindest in einer der ausführlichen Sexszenen den lange an der Leine gehaltenen Hak Veil dominiert. Sie hat eben buchstäblich die Hosen an. Daneben finden sich neben der angesprochenen Amüsierdame/ Tänzerin mit dem Herzen aus Gold der obligatorische Polizist mit einem blinden Auge für die jeweiligen Anweisungen und die Triaden schicken auch ihren buchstäblich offenherzigsten Mann, damit Hak Veil auf seiner Mission zwar nicht alle, aber zumindest einige wichtige Türen geöffnet werden. Aber viele Figuren sind eben wie erwähnt zu pragmatisch entwickelt und dienen weniger als Ergänzung der Handlung vor dem angesprochenen nur in der Theorie exotischen Hintergrundes des Mars, sondern sie füllen Seiten, liefern einige wichtige Informationen und werden notfalls nicht nur von den Schurken getötet, sondern auch von Hak Veil geopfert, damit der Plot funktionieren kann. Und das ist angesichts der langjährigen Erfahrung Richard Morgans als Autor teilweise enttäuschend.

 Wer sich intensiver mit Richard Morgans quantitativ nicht umfangreichen, aber qualitativ interessanten Werk auseinandergesetzt hat, wird trotz einiger technischer Errungenschaften viel, fast schon zu viel Vertrautes zwischen den vielen Seite erblicken. Dazu die gut geschriebenen, auch in der deutschen Übersetzung pointierten Dialoge und eine Reihe von wie mehrfach erwähnt packenden, aber nicht mehr wirklich nachhaltig überraschenden Actionszenen. „Mars Override“ ist in dieser Form wie die Rückkehr eines alten Freundes, den man jahrelang weniger nicht gelesen, als nicht getroffen hat. Er ist dem Leser gleich vertraut, auch wenn der Lack ein wenig ab ist und sich stellenweise doch ergraute Haare am Kopf des Freundes finden.

  

Mars Override

Aus dem Englischen von Bernhard Kempen
Originaltitel: Thin Air
Originalverlag: Gollancz
Paperback , Klappenbroschur, 736 Seiten, Heyne
ISBN: 978-3-453-32022-2