Osama

Lavie Tidhar

Der Israeli Lavie Tidhar zeichnet sich von Beginn seines phantastischen Werkes als Mann der Ideen aus, dem es mehr als einmal am Handwerkszeug fehlt, seine Welt auch dreidimensional und „natürlich“ erscheinen zu lassen.  In „An Occupation of Angels“ erscheinen die Engel am Ende des Zweiten Weltkriegs und versprechen eine andere, aber nicht bessere Welt. In seinem Roman „the violent Century“ steht im Mittelpunkt des Chaos die Freundschaft zweier Superhelden in einer dem Leser unrühmlich vertrauten wichtigen wie abartigen Epoche des 20. Jahrhunderts. Während die Novelle „An Occupation of Angels“ eher wie eine Agentenactiongeschichte daher kommt,  konzentriert sich „The violent Century“ auf den Comicaspekt. Dazwischen steht mit „Osama“ Tidhars umstrittenes mit dem World Fantasy Award ausgezeichnetes Werk, in dem der Terrorführer Osama Bin Laden eine Pulpfigur ist. Bestandteil einer langlaufenden, von einem Mike Longshot geschriebenen Reihe von äußerst erfolgreichen, aber in einem kleinen Verlagshaus gedruckten Thrillern, die unter dem Obertitel „Vigilante“ zusammengefasst werden. „Osama“ ist wie eine Hommage an die Hardboiled Detektiv und eben die Pulpgeschichten auf beiden Handlungsbögen gestaltet worden.   Das ist vielleicht auch das beunruhigende Element der vorliegenden Parallelweltgeschichte, denn die Zitate aus Mike Longshots Romane sind exakte, distanziert verfasste Zusammenfassungen der Attentate, welche verschiedene Terrororganisationen mit einem Schwerpunkt auf Al Kaida in der Vergangenheit durchgeführt haben.  Nur der 11. September wird zu einem (Alp-) traum des Protagonisten, der immer mehr aus seiner eigenen „Realität“ zu verschwinden droht.

„Osama“ eröffnet und endet mit einem typischen Klischee. Joe ist ein erfolgloser Detektiv in einer Ein-Mann- Detektei, der eher von der Hand in den Mund lebt. Eines Tages taucht eine junge, attraktive Frau bei ihm auf und bittet ihn, nach dem Autor der erfolgreichen, auch von Joe geschätzten „Obama: Vigilante“ Romane zu suchen. Ohne weitere Gründe zu nennen erscheint es ihr wichtig und sie stattet Joe mit einer schwarzen Kreditkarte mit unbegrenztem Limit aus. Am Ende begegnet Joe der Frau noch einmal und Erinnerungen an „Casablanca“ kommen auf. Es ist aber nicht der Beginn einer wunderschönen Freundschaft, sondern das implizierte Ende einer im Grunde eher fiktiven Welt. An keiner Stelle kann Tidhar seine Parallelwelt ohne fundamentalistischen Terror nachhaltig mit Leben erfüllen. Sie wirkt eher wie aus einem der Pulpromane, die Joe so gerne liest, während Longshots brutal exakte Beschreibungen des islamistischen Bombenterrors so prägnant sind, dass sie die Realität dieser Alternativweltgeschichte bilden müssten. Es ist nicht die einzige Stelle, in welcher die für dieses Subgenre so interessanten wie relevanten Spiegelungen nicht nachhaltig genug funktionieren.

   Auch wenn der Auftakt des Romans klassisch klischeehaft ist, kann sich Tidhar im Verlaufe des Buches nicht für eine Seite entscheiden. Der Leser wäre nicht überrascht, wenn Joes Welt wie in "Welt am Draht" oder den "Matrix" Filmen eine weitere virtuelle Realität in einem Zwiebelschalenmodell sein könnte. Dazu wirkt auch Joes Existenzebene zu sehr nach Gutdünken zusammengestückelt. Es ist eine Welt ohne Terror, aber mit brutalen Gangsterbanden, welche das Auffinden des zurück gezogen lebenden Autoren erschweren bis unmöglich machen wollen. Es ist eine Welt anscheinend ohne eine Beeinflussung durch das Internet, durch die augenblickliche Manipulation von Daten und vor allem eine Welt ohne Handys. Die Kommunikationsarmut fließt in die stoisch spärlichen Dialoge ein, wird aber immer wieder von Tidhar auch an wichtigen Stellen relativiert. Es ist eine Welt, die aus unterschiedlichen Zeitzonen zusammengesetzt worden scheint. Es ist kein Problem, an Bord moderner Flugzeuge große Entfernungen zurückzulegen und Reisen mittels Kreditkarte zu bezahlen. Joe reist aus Asien erst nach Paris und London, später in die USA und schließlich in ein unbestimmbares Niemandsland, wo eine Reise sein Ende nimmt und eine zweite Reise beginnt. Die Zeitzonen verschischen sich wie die menschliche Geschichte. Insbesondere die in Paris spielenden Szenen zwischen Rotlichtmilieu mit ehrbaren "Damen" und Hinterhausverlegern wirkt wie aus der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Gegenbeispiel ist die absurde, fast surrealistisch erscheinende "Osama" Convention, auf der eine kleine Gemeinde nach den Vorbild des Science Fiction Fans ihrem Idol und dessen "Abenteuern" huldigt. Es wirkt über die Indentität des Autoren diskutiert, über die politischen Botschaften der Romane und Fanzines werden verkauft. Höhepunkt ist ein Zitat aus einem Gedichtband, der eine Hommage an Obama darstellen könnte. Leider fehlt Tidhar an dieser Stelle nicht zum letzten Mal im Roman der Mut, den entscheidenden Schritt weiterzugeht und Obamas Gewaltakte in eine poetische wie surrealistische Sprache umzuwandeln. Was als Höhepunkt des Romans geplant gewesen ist, wirkt rückblickend auf den ersten Blick profan und enttäuschend. Die Begegnung mit dem unscheinbaren Longshot stellt keine echte Verbindung zum realen Obama dar, sondern distanziert den Leser noch weiterem vom Objekt der Begierde und damit auch dem Jäger der im Grunde unwichtigen und nicht verlorenen Identität. Es ist selten, dass eine Suche derartig erfolgreich und doch unwichtig ist.

Aber Tidhars Parallellwelt ist mehr als nur ein in der Phantasie perfekter Planet ohne Terror. Es ist die Vermischung verschiedener Elemente oder eher der Versuch, einen Film Noir innerhalb eines Film Noirs zu erzählen. "Casablanca" erscheint mehrmals Hintergrund und Antrieb zugleich zu sein. Selbst die Bars erinnern in ihrer unrealistischen Schmierigkeit weniger an das gegenwärtige Kino, sondern die weich gespülten Abbilder, die Hollywood in schwarzweiß eben in den vierziger/ fünfziger Jahren für seine Zuschauer produzierte. Wenn Joe in einem Pariser Kino offensichtlich "Freaks" anschaut, dann wirkt die Allogorie auf seine Realität überzogen. Keiner der Charaktere ist ein Freak, sie sind armseelig, emotional unterentwickelt oder egoistisch. Aber es sind einfache Menschen in einer schwierigen Welt. Am Ende löst sich zumindest Joe zusammen mit seiner Auftraggeberin und der Informantin vor ihm aus dieser Welt. Emotional war Joe während des ganzen Romans eine Chiffre, eine Art MacGuffin auf einer sinnentleerten Suche. Dioese Vorgehensweise bürgt viele Risiken. Der Leser verfügt über keine Identifikationsfiguren. Genrefans werden diese Vorgehensweise lieben, ein Mainstreampublikum eher irritiert ablehnen. Ein schmaler Grad, auf dem sich der Autor zu bewegen sucht und der am Ende nicht gänzlich befriedigend abgeschlossen wird.

Tidhar weigert sich zusätzlich, seinem Buch eine Botschaft mit auf den Weg zu geben. Zynisch spricht er impliziert davon, dass der fiktive Pulpheld Osama kein Terrorist ist. Er ist im Original ein Vigilant, ein Mann, welcher der Tradition der Superhelden folgend das Recht in die eigenen Hände nimmt und die aus seiner Sicht Schuldigen drakonisch bestraft. Diese irritierende, niemals begründete Vorstellung endet in dem Hinweis, dass die Briten und Amerikaner bei der Entstehung der letzten Al Kaida Bastion "Bora Bora" geholfen haben, bevor Osama - einen direkten Zusammenhang gibt es nicht - das Joe unbekannte World Trade Center mit Flugzeugen angegriffen hat. Diese Veränderung von Geschichte in Form einer zu offensichtlichen Simplifizierung kann nicht funktionieren. Kaum ist das Überraschungsmoment - Longshots Romane beschreiben die Terrorakte mit einer unheimlichen, unter die Haut gehenden Präzision, nur am Ende wird das Leid der Opfer in drastische Bilder gepackt - abgeklungen, erwartet der Leser auch hier mehr als Tidhars angesichts seiner interessanten Idee bereit ist, zu geben.

Der Fokus liegt auf dem einsamen, eindimensionalen Joe. Einblicke in diese fremdartige und doch stellenweise vertraute, aber auch zeitlose Welt gibt es kaum. Alles wird aus seiner subjektiven Perspektive gezeigt, was handlungstechnisch nachvollziehbar, aber angesichts Tidhars Interesse an Stimmungen, an Strömungen und weniger greifbaren Handlungen auch oberflächlich, eindimensional und zu manipulierend subjektiv erscheint.    

Rückblickend ist „Osama“ ein interessantes, ohne Frage auch in Ansätzen diskussionsfähiges, aber nicht immer entsprechend diskussionswürdiges Werk, das aus seiner perfiden Idee eben nicht mehr als eine weitere Pulpgeschichte mit mystisch esoterischen Einbrüchen – das Verschwinden ganzer Personen aus einer irrealen Daseinsebene ins buchstäbliche Nichts – erschaffen hat und die Spirale des Terrors als Versatzstück mit einer Weigerung jeglicher Reflektion nutzt.  Vielleicht sogar einfach nur ausnutzt.     

 

  • Gebundene Ausgabe: 400 Seiten
  • Verlag: Rogner & Bernhard; Auflage: 1 (20. Mai 2013)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3954030144
  • ISBN-13: 978-3954030149
  • Originaltitel: Osama