Clarkesworld 176

Neil Clarke (Hrsg.)

Herausgeber Neil Clarke berichtet über seine Tage in der Isolation. Nur indirekt wegen Corona, sondern in Hinblick auf die bevorstehenden Operationen. Alex Shvartsman fügt eine kurze Geschichte der russischen Science Fiction hinzu. Diese ist aber wirklich kurz, weil er nach einer ausführlichen Einleitung hin und her springt. Nur wenige relevante Autoren und deren Werke werden erwähnt. Dabei konzentriert sich auf Arbeiten, die auch in die USA übersetzt worden sind.

Arley Sorg interviewt mit Kelly Robson und Octavia Cade zwei relativ junge Autoren, deren Fokus auf der Etablierung ihrer Namen im Genre liegt. Beide zeigen auf, dass es nicht selten schwer ist, den ersten auch erfolgreichen Verkäufen weitere Arbeiten folgen zu lassen und die Herausgeber/ Verlage immer kritischer gegenüber nicht stromlinienförmiger Science Fiction sind.

Insgesamt sieben thematisch unterschiedliche Kurzgeschichten inklusiv einer Übersetzung finden sich in der Sammlung.  Weiterhin sind Einsamkeit und persönliche Verluste wichtige Aspekte vieler der hier gesammelten Storys.

David D. Levine eröffnet den Mai mit seinen „Best- Laid Plans“ trotzdem auf einer lustigen Note. Der Erzähler arbeitet im All mit einem besonderen Team zusammen: genetisch manipulierte Mäuse, die sich schnell dran machen, ihren nicht intelligenter gemachten Artgenossen eine Reihe von Tricks beizubringen. Als es zu einer Katastrophe an Bord kommt, muss der Erzähler aktiv eingreifen. David D. Levine bewegt sich dank der pointierten Dialoge und dem soliden Ende nicht an der Grenze zum absurden Kitsch. Der Erzähler agiert dank seiner Vorbildung als Wissenschaftler nachvollziehbar und mutiert nicht zu einem den Tag rettenden Überhelden. Das Ende ist konsequent und die beschriebene Katastrophe im Grunde im erdnahen Raum alltäglich, so dass sich der ganze Plot kurzweilig liest.

Amal Singh vertraut in „A Home for Mrs. Biswas” seinen indischen Wurzeln. Manches erinnert an wenig an einen Bollywood Filme. Diese werden schließlich bis zum Mars mitgebracht. Eine ältere Frau hat Zeit ihres Lebens immer Glück gehabt. Sie möchte gerne auf den Mars, die finanziellen Mittel fehlen. Natürlich gewinnt sie in einer Lotterie und kann die verschmutzte Erde verlassen. Auf dem Mars befindet sich eine kleine Kolonie. Allerdings endet die Reise vorzeitig. Amal Singh bricht dann den Handlungsbogen ab und nähert sich Ray Bradburys Marsreich, in dem sein junges Mädchen auf dem roten Planeten einem Marsianer begegnet und mit ihm Freundschaft schließt.

Wie Bradburys Geschichten ist „A Home for Mrs. Biswas“ weniger Science Fiction, sondern Make Believe Fantasy. So fliegen zwischen der Erde und dem Mars Generationenraumschiffe, was keinen Sinn macht. Weitere SF Ideen werden in diese gut geschriebene, aber auch ein wenig frustrierend aufgebaute Geschichte eingebaut, aber nicht zu Ende geführt.  Die Zeichnung der Charaktere mit ihren sympathischen Neurosen ist allerdings gut und gehört aus diesem Blickwinkel zu den schönsten Geschichten dieser „Clarkesworld“ Nummer.   

Bo Balder geht mit der Ausgangsprämisse nicht so verspielt/ verträumt um. Schon „Alien3“ hatte Probleme mit hölzernen Raumschiffen und bei Bo Balder hat sich das nicht geändert. „The Force Exerted on the Mass of a Body“ spielt auf einem Planeten mit einer doppelten Erdschwerkraft. Der Erzähler arbeitet mit einem Exoskelett. Angeblich sind es die einheimischen Bäume, welche die Hüllen für die moderne Raumfahrt liefern.  Aber es gibt eine Wechselwirkung zwischen den Raumschiffen und dem Weltall. Die Erklärungen sind unglaubwürdig, auch wenn der Planet per se mit den gigantischen Bäumen überzeugend beschrieben worden ist.

Schon in der Aprilausgabe von „Clarkesworld“ konnte die ausgesuchte Novelle mehr überzeugen als viele der Kurzgeschichten. Robert V.S. Redicks “Vanishing Point” ist aktuell und packend, wobei sie vor allem auf einen phantastischen Gegenstand zurückgreift. Die Familie bringt bei ihrer Flucht vor den gewalttätigen Auseinandersetzungen eine Art Auge in Sicherheit, mit dem man in die Vergangenheit, aber auch eingeschränkt in die Zukunft schauen kann. Die Eltern kommen bei der Flucht ums Leben, die Kinder (Bruder und Schwester) wachsen in einem neuen, friedlicheren Land auf. Als die Regierung gestürzt wird, flieht die Schwester ohne ihre Familie. Erst Jahre später wird sie feststellen, wie sehr sich ihr Leben durch das „Auge“ verändert hat. Aber es auch ihre Handlungen beeinflusst.

Die Geschichte beginnt aus Sicht der Leser in der Vergangenheit. Kinofilme sind zu Beginn des Plots eine Besonderheit, am Ende finden sich unter anderem selbstfahrende Autos. Diese technologischen Veränderungen erklären nicht die Herkunft des magisches Auges oder seine sehr persönlichen, niemals allgemein gültigen Vorhersagen, aber der Autor hat sich bemüht, das Umfeld so realistisch wie möglich zu konzipieren, um nur ein einziges phantastisches Element hervorstechen   zu lassen.

Alle Protagonisten und ihre zutiefst menschlichen Handlungen/ Reaktionen auf die politischen Veränderungen sind überzeugend gezeichnet worden. Auch menschliche Fehler bilden den Charakter dieser Figuren aus, so dass der Leser grundsätzlich nicht nur Sympathie oder manchmal Mitleid empfinden kann oder muss, sondern sich mit ihren Aktionen durchaus konträr auseinandersetzen kann. Der Autor gibt gegen Ende keine einfachen Antworten, sondern lässt seine Figuren Entscheidungen treffen, die aus ihrer persönlichen subjektiven Sicht sogar verständlich sind. Damit wird die Geschichte eher zu einer schwierigen Reise als eine in sich abgeschlossene Geschichte. Die Form der Novellette kann nur bedingt die subtilen Zwischentöne darstellen, auf welche der Autor konsequent setzt. Ein Roman wäre das akzeptablere Medium gewesen.

Sameen Siddiqui vergisst in seiner „Dancing with Ereshkigal“ im Grunde die Handlung. Der Erzähler erinnert sich an seine ehemalige Geliebte und vergleicht diese mit einer mesopotamischen Legende, auf welche auch der Titel anspielt. Die Geschichte spielt zwar auf dem Mond und später dem Mars, könnte aber auch auf der Erde angesiedelt werden. Der Erzähler fasst in erster Linie die Liebesgeschichte inklusiv des aus seiner Sicht bedauerlichen Endes zusammen. Es kommt aber zu keiner über die subjektive Perspektive hinausgehenden Aktion. Der Erzähler wird dreidimensional beschrieben, aber die übernatürlichen Ereignisse könnten im Gegensatz zum futuristischen Hintergrund auch eingebildet sein. 

 Andy Dudak hat Tang Feis „Spore“  übersetzt.  Der Protagonist hat eine Variation von Tätowierungen entwickelt, die nach einigen Tagen spur- und vor allem schmerzlos verschwinden.  Unabhängig von der Tatsache, dass diese Weg angesichts der vorhandenen Alternativen erstaunlich umständlich ist, dient diese Einleitung eher dazu, den Leser mit dieser Figur vertraut zu machen. Er lernt eine Frau kennen, die in Wirklichkeit ein Roboter ist. Der Mann erzählt ihr von seinem Vater und am Ende führt Tang Fei die beiden Schicksale im Grunde konstruiert zusammen.  Die Auflösung ist nachvollziehbar. Klassische Themen wie Schuld und Sühne werden angesprochen. Aber der männliche Protagonist ist auch ein sich selbst bedauerndes Weichei, was den eher rudimentär vorhandenen Kontext unterminiert. 

 Kai Hudsons „A Star for Every Word Unspoken” ist keine leichte zu verdauende Geschichte. Aber das macht auch ihren Reiz aus. Der Protagonist ist als Kind ein mathematisches Genie mit autistischen Zügen. Wie in „Vanishing Point“ bzw. „Spore“ steht eine Idee, eine Erfindung und schließlich eine Art Artefakt im Mittelpunkt der Geschichte. Die Mutter erfindet eine Art Transporter,  mit dem man sich von einem Ort im All zu einem anderen bewegen kann. Als die Mutter stirbt, führt die Tochter allerdings mit einer etwas anderen Intention des Projekt fort.

Die Erfindung dient eher als eine Art roter Faden. Vor allem geht es dem Autoren darum, die Leiden eines in diesem Fall wirklich hochbegabten Kindes zu beschreiben, dessen Suche nach Liebe und später der Vollendung des Projektes zu einer Art Sucht wird. Wie bei allen Geschichten dieser „Clarkesworld“ Ausgabe stehen die Science Fiction Elemente deutlich hinter den überdurchschnittlichen Charakterisierungen der Protagonisten. 

Der Mai ist eine überzeugende „Clarkesworld“ Ausgabe mit einem stimmungsvollen Titelbild und wie mehrfach erwähnt emotionalen, aber nicht kitschigen Geschichten zum Thema Einsamkeit und vor allem auch dem Verlust von geliebten Menschen.

cover

E Book, 122 Seiten

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