Im Rahmen ihrer „Nero Wolfe“ Neuauflage legt der Klett Cotta Verlag mit „Die goldenen Spinnen“ einen weiteren Roman dieses Mal zwar weiter in einer ungekürzten Neuübersetzung, aber ohne Nachwort oder weitere Ergänzungen in den bekannten handlichen kleinen Buchformaten neu auf.
Es handelt sich um das 22. Nero Wolfe Abenteuer, das in den USA 1953 erschienen ist. Rex Stout folgt zwar während der finalen Konfrontation aller in Frage kommenden Verdächtigen natürlich in seinem Büro den bekannten Mustern und kann nur bedingte Beweise präsentieren, aber der Weg bis zum finalen Treffen unterscheidet sich von Beginn deutlich von den vorangegangenen, ein wenig stereotyp erscheinenden „Nero Wolfe“ Abenteuern.
Ein Junge aus der Nachbarschaft Pete Drossos – bittet Nero Wolfe um Hilfe. Er putzt immer an Ampeln die Fensterscheiben von stehenden Autos. Dabei hat ihn eine Frau mit auffälligen Ohrringen in Form von goldenen Spinnen um Hilfe gebeten. Er soll die Polizei rufen, anscheinend wird sie von ihrem Beifahrer bedroht. Nero Wolfe kann dem Jungen nicht helfen, aber er gibt dank Archie Goodwin die Informationen an die lokale Polizei weiter. Am nächsten Morgen wird der Junge anscheinend vom gleichen Auto überfahren und tot zurückgelassen.
Die Mutter bittet Nero Wolfe, nach dessen Mörder zu suchen. Einen Tag später wird mit dem gleichen Wagen ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation für mittellose Flüchtlinge überfahren. Nero Wolfe setzt eine Anzeige in die Zeitung, um nach der Frau im Auto zu suchen. Kurze Zeit später meldet sich mit der reichen Witwe Lara Fromm eine Frau, welche die auffälligen Ohrringe trägt und die in der Flüchtlingsorganisation aktiv mitarbeitet. Sie ist zwar selbst nicht den Wagen gefahren, ahnt aber, wer es sein könnte. Der Tod nicht nur des Jungen schockiert sie. Sie übergibt Nero Wolfe einen Scheck, um bei der Suche nach dem Mörder aktiv zu werden. Nero Wolfe weigert sich anfänglich. Am nächsten Tag erfährt er, dass Lara Fromm ebenfalls von einem Wagen überfahren und ermordet worden ist.
Zwei potentielle Klienten durch vorsätzlichen Mord zu verlieren, reizt Nero Wolfe und er sieht sich gezwungen, auch ohne lebenden Klienten nach dem mehrfachen Mörder zu suchen.
Während in den meisten Nero Wolfe Romanen durch direkte oder indirekte Verhöre den Kreis der Verdächtigen klein halten kann, ufert „Die goldenen Spinnen“ von Beginn an positiv aus. Der Anwalt und jetzt Nachlassverwalter von Lara Fromm will keine Untersuchungen, der Rechtsberater der Stiftung schwirrt wie eine Motto um Nero Wolfe und ist damit von Beginn an verdächtig. In einem Nero Wolfe Krimi heißt das, er ist auf jeden Fall nicht der Mörder.
Um Ergebnisse zu erzielen, reicht in diesem Fall eine Befragung nicht aus. Sollte die Anzeige in der Zeitung die Aufmerksamkeit von möglicherweise indirekt beteiligten Personen auf die Tatsache lenken, dass Nero Wolfe sich mit dem Fall beschäftigt, versucht Archie Goodwin als Erpresser im Umfeld des zweiten und dritten Opfers für Unruhe zu sorgen. Parallel schleicht sich jemand aus Nero Wolfes erweitertem Team als Flüchtling quasi durch die Hintertür in die Organisation ein.
Rex Stout bewegt sich in dieser Hinsicht auf einem sehr schmalen Grat- wie weit darf selbst ein Wort gewandter Ermittler gehen und potentielle Verdächtige vielleicht nicht offen belügen, aber absichtlich die Wahrheit verdrehen? Eine Frage, die selbst die immer auf Augenhöhe involvierten Polizisten nicht beantworten können. Um sich und seine Angestellten in diesem besonderen Fall zu schützen, informiert Nero Wolfe lange Zeit eine ganze Phalanx von ermittelnden Polizisten immer auf Augenhöhe und schiebt gerne für die intensiveren Verhören die potentiell, aber niemals für ihn wirklich Verdächtigen an die Ordnungshüter ab. Am Ende folgt Rex Stout aber dem bekannten Muster, in dem wie eingangs erwähnt alle Verdächtigungen zusammengetrieben werden. Rex Stout kann aber die Spannungskurve nicht aufrechterhalten. Im Grunde hat sich der potentielle Täter schon viel früher „verraten“, in dem er tatsächlich nicht direkt, aber indirekt auf die Erpressungsversuche von Archie Goodwin reagiert hat. Damit hat Nero Wolfe ein Ziel erreicht, kann aber noch keine Beweise beibringen.
Im mittleren Abschnitt des Buches dominiert Archie Goodwin immer nur einen Telefonanruf von Nero Wolfe entfernt die Handlung. Zusammen mit seinen Kollegen scheut er sich auch nicht, mittels Folter kein Geständnis, aber wichtige Informationen aus einem Kleinkriminellen herauszupressen. Dazu gerät einer aus Nero Wolfes Team ins Lebensgefahr und kann nur dank des beherzten Eingreifens Goodwins gerettet werden. Diese Szenen passen nicht unbedingt in die intellektuell angelegten Nero Wolfe Krimis, in denen die meisten Verbrechen in der oberen Gesellschaftsschicht begangen werden und nicht selten auf gekränkten Eitelkeiten oder Eifersüchteleien basieren.
Mit dem vorliegenden Roman geht Rex Stout einen gewichtigen, aber anfänglich auch irritierenden Schritt in die andere Richtung. Vor allem die Nebenfiguren mit ihren bodenständigen besonderen Fähigkeiten und ihrer absoluten Loyalität Nero Wolfe und damit auch Archie Goodwin gegenüber bleiben lange im Gedächtnis. Ihre Rolle ist aktiver. Sie erreichen nicht die Popularität der Baker Street Jungs, aber vor allem Saul mit seiner magischen Fähigkeit, Menschen absolut unauffällig zu folgen ist in diesem Fall ein elementarer, aber nur indirekte Schlüssel zum ersten von zwei Verbrechen. Wie bei vielen Detektivkrimis – die Serie „Elementary“ hat in seinen späteren Folgen daraus eine Kunst gemacht - überdeckt das zweite, deutlich schwerwiegendere Verbrechen die kriminellen Aktivitäten.
Die Erklärung bzw. der Katalysator wirkt allerdings schwach. Anscheinend aus dem Affekt heraus würde jegliches Einbeziehen der Polizei auch bedeuten, sich selbst schuldig zu bekennen. Zu diesem Zeitpunkt bestand aufgrund der dem Leser zur Verfügung stehenden Informationen keine Notwendigkeit, erstens einen Unschuldigen einzubeziehen und vor allem auch zweitens potentielle, aber eher theoretische Spuren zu verwischen.
Neben der Extrapolation des Falls überzeugen im vorliegenden Roman zusätzlich Nero Wolfes Macken. Das beginnt bei einem aus seiner Sicht falschen Gewürz, das Archie Goodwins Reaktion provoziert; geht über die Störung von Nero Wolfes Abläufen und endet schließlich in einer Ruhestörung. Nero Wolfe erscheint nerviger, gereizter und vor allem narzisstischer, während Archie Goodwin wie mehrfach erwähnt die Grenzen klassischer Ermittlungsarbeit zu Gunsten aktiver Provokation überschritten hat.
Zu den Stärken gehört ohne Frage die Eröffnung mit zwei Klienten, die Nero Wolfe vorzeitig durch Ableben verlassen, was den gewichtigen Detektiv persönlich stört. „Die goldenen Spinnen“ ist zusammengefasst eines der besseren mittleren Nero Wolfe Abenteuer, auch wenn vieles Vertrautes wieder in die geradlinig erzählte Handlung eingeflossen ist.
- Herausgeber : Klett-Cotta; 1. Edition (14. März 2020)
- Sprache : Deutsch
- Gebundene Ausgabe : 256 Seiten
- ISBN-10 : 3608963901
- ISBN-13 : 978-3608963908
- Originaltitel : The Golden Spiders