Der Fall des Dr. Watson

Thomas Tippner

Thomas Tippner ist kein unbekannter Name im Sherlock Holmes Kanon. In den letzten Jahren hat er in Form vor allem von Novellen eine Reihe von Geschichten veröffentlicht. Schriftstellerisch kommen dem in Norddeutschland geborenen Autoren seine Erfahrungen mit der Produktion einer Reihe von Hörspielen entgegen. Seine Novellen zeichnen sich nicht nur durch gut geschriebene Dialoge, sondern auch ein hohes Tempo aus. 

Wieder werden zwei Novellen (“ Der Fall des Doktor Watson” und “Das Landgut der Teufel”) in einem Taschenbuch zusammengefasst.   

In der ersten Novelle ist Doktor Watson alleine auf weiter Flur. Der Titel bezieht sich daher auch auf mindestens einen Kriminalfall, den Doktor Watson teilweise mit Lestrades Hilfe lösen muss. Das mindestens bezieht sich auf die Tatsache, dass Sherlock Holmes spurlos und ohne eine Nachricht hinterlassend verschwunden ist. Die aufgelöste Mrs. Hudson ruft Doktor Watson zu Hilfe, der inzwischen nicht mehr in der Baker Street wohnt. In dem berühmten Wohnzimmer finden sie Blutspuren, abgedeckt durch eine Zeitung. Auch soll es einen Tag vorher eine heftige Diskussion mit einem Besucher gegeben haben. Dabei hat Sherlock Holmes ausgerufen, das er über Beweise verfügt.

Watson folgt den dürftigen Spuren und kommt dabei einem Räuber auf die Spur, der in der Baker Street Frauen überfällt. Ein weiterer Weg führt ihn zurück zur Familie Musgrave - Thomas Tippner nimmt gerne Bezug auf Kanongeschichten, aber auch Originalromane -. Mit Lestrade in seinem Schatten fühlt sich Doktor Watson nicht immer, aber ein wenig wie Sherlock Holmes. Er kann plötzlich dessen Unruhe verstehen, wenn der Detektiv im übertragenen Sinne Blut geleckt hat und die Spur noch heiß ist. 

Am Ende ist alles wieder eine Frage der Interpretation. Ohne die Pointe zu verraten macht es sich Thomas Tippner ein wenig zu einfach. Alle Wege führen auf der einen Seite nach Rom und mittels eines Informanten gelingt ihm die Überführung des Straßenräubers. Sherlock Holmes ist zwar dem gleichen Täter auf der Spur, aber sein Ansatz ist deutlich komplizierter und weniger pragmatisch als der direkte Weg, den Lestrade und Watson bis quasi zur frischen Tat folgen. Die rückblickenden Erklärungen wirken in dieser Hinsicht ein wenig zu umständlich. 

Hinsichtlich des Verschwindens von Sherlock Holmes geht Thomas Tippner einen gewagten Weg. Damit alles funktionieren kann, muss Doktor Watson so denken wie Sherlock Holmes. Und gleichzeitig auch an dieser Vorgehensweise scheitern. Dazu bedarf es einigen Fragen hinsichtlich nicht nur der jeweiligen Perspektive, sondern der Hintergrundinformationen. 

Ob Sherlock Holmes exzentrisches Benehmen und Doktor Watsons korrektes Verhalten dem Freund gegenüber basierend auf einer Reihe von Missverständnissen kritisch betrachtend den Plot in dieser Form tragen können, bleibt abschließend offen. Bis zur Auflösung des “Falls” ist Doktor Watsons resolute Vorgehensweise jederzeit für den Leser nachvollziehbar und die teilweise belehrenden Passagen aus Doktor Watsons Berichten werden durch eigene Beobachtungen und Schlüsse ersetzt. Ein Faktor bleibt allerdings gleich. Lestrade ist immer noch kein wirklicher Helfer. Es ist auch kein Zufall, dass er sich zum richtigen Zeitpunkt in der Baker Street aufhält. Er braucht wieder einmal Hilfe. 

Da der Autor den Hintergrund seiner Geschichte wie eingangs erwähnt mit Bezügen auf den Kanon, aber auch teilweise die eigenen Originalgeschichten belebt, liest sich “Der Fall des Doktor Watson” kurzweilig, auch wenn es abschließend eben doch nur ein gewöhnlicher Kriminalfall und keine kriminaltechnische Katastrophe für ganz London ist.   

Auch “Das Landgut der Teufel” fängt gut an. Doktor Watson trifft Sherlock Holmes in einem Park. Während der Doktor deduziert, macht Sherlock Holmes ihm pragmatisch klar, dass er auf seinen Partner und einen Klienten gleichzeitig gewartet hat. Anscheinend gibt es auf einem schottischen Landgut Geistererscheinungen. Ein junger Mann ist gelähmt worden. Der abergläubische Sohn des Gutherrns bietet den Detektiv um Hilfe, der nach seinen zahlreichen Erfahrungen unter anderem mit dem Hund der Baskervilles auch nichts Übernatürliches glauben möchte. 

Wie “Der Fall des Doktor Watson” beginnt die Novelle spannend. Kaum im Norden des Königreichs angekommen, dürfen nach sie einer Nacht quasi wieder gehen. Der Hausherr gewährt ihnen diese kurze Gastfreundschaft, möchte aber nichts mit den Fremden zu tun haben. Da hilft auch nicht der eher spärlich bekannte Ruf des Detektivs. Also beschließt Sherlock Holmes, den Fall quasi auf zwei Ebenen in dieser Nach zu lösen. Von den anfänglich eineinhalb Dutzend Theorien beginnt er mehr und mehr zu streichen. Sherlock Holmes will den gelähmten Sohn befragen, während Doktor Watson den Geistererscheinungen in die unwirtliche Landschaft folgen soll. Nicht unbedingt die Begeisterung des Doktor weckend. 

Wie auch bei “Der Hund der Baskervilles” geht es schließlich in dieser Geschichte nicht nur um zwei verfeindete Familien, die gleichzeitig die größten Landbesitzer in dieser Region sind, sondern um die Beziehungen der Kinder untereinander und verschmähte Liebe. Die Auflösung des Plots wird komplizierter präsentiert als sie in Wirklichkeit ist. Im Gegensatz zu einigen anderen Sherlock Holmes Geschichten verfolgt der Leser das Geschehen nicht nur auf Augenhöhe des Detektivs und wird an der Seite Doktor Watsons belehrt. Viel mehr wirft der Ermittler den Lesern und damit auch seinem Doktor Watson Bröckchen hin. Die übernatürlichen Elemente werden während des dann allerdings effektiv beschriebenen Showdowns entlarvt und der Fall gelöst. 

Ein großes Problem liegt in der Zeichnung der Nebenfiguren. Sie sind alle eindimensional. Angesichts auch des Shakespeare Bezugs ist diese Unterentwicklung der potentiellen Verdächtigen unglücklich. Sie reagieren auf wirklich tragische Nachrichten anfänglich mit stoischer Verschlossenheit, Dickköpfigkeit. Natürlich könnte die Frage offen bleiben, ob sie nicht mit Gewalt ihre eigenen Angelegenheiten weiter verfolgen und die Täter selbst hinrichten wollen. Aber auch dieser Punkt bleibt vage. 

Sherlock Holmes Ablehnung jeglicher übernatürlicher Möglichkeiten reduziert den Plot auch auf eine klassische Familienfehde. Das größte Motiv ist der umfangreiche Landbesitz inklusiv des Rechts, Steuern zu erheben. Damit sind die beiden Familien wirtschaftlich unabhängig. Jede Familie hat Kinder. Spätestens ab der Mitte der Geschichte ahnt der Leser wie Sherlock Holmes, welche Tragödie sich in den nebligen Mooren abgespielt haben könnte. Alleine Doktor Watson läuft dem roten Handlungsfaden noch ein wenig hinterher. 

Sowohl “Der Fall des Doktor Watson” als auch “Das Landgut der Teufel” mit einem eher unglücklichen proklamatischen Titel lesen sich oberflächlich kurzweilig. Die Zeichnung von Sherlock Holmes und Doktor Watson ist Thomas Tippner nicht zum ersten Mal gut gelungen, aber den Fällen fehlt der intellektuell brillante Funke, um sie aus der Masse vergleichbarer Geschichten positiv herauszuheben.   

Band: 32, Historische Kriminal-Erzählungen
Seiten: 162 Taschenbuch
Exklusive Sammler-Ausgabe

Verlag: Blitz- Verlag (direkt beim Verlag bestellbar: www.blitz-verlag.de)

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