Ashes of Candesce

Karl Schroeder

Der wichtigste Handlungsfaden aus “The Sunless Countries” wird in den Abschlussband der „Virga“ Serie rückblickend unnötig übertragen und überraschend schnell indirekt abgeschlossen. Die Botschaft der Historikern Leal Hieronyma Maspeth erreicht ihr Ziel und damit die ehemaligen Weltenretterin und das frühere Mitglied der legendären Heimatgarde Antaea Argyre, die einzige Liebe des Sonnenschöpfers Hayden Griffin. Mit einem simplen, allerdings im vierten Band zu ausführlich extrapolierten Trick führt Karl Schroeder drei der insgesamt fünf wichtigen Figuren – theoretisch für jeden Roman stellvertretend einen Protagonisten, gäbe es nicht im vorliegenden Band ein weiteres, neues Gesicht – nicht an einem Ort, aber mittels einer Mission zusammen. Ergänzt wird die Handvoll Helden im Kampf gegen die von außen zum zweiten Mal Virga unterwandernde   „Artificial Nature“ durch die Adligen Venera Fanning und ihrem Ehemann Admiral Chaison Fanning. Fünf Jahre nach dem ersten Versuch greift die künstliche Intelligenz – hier bleibt Karl Schroeder relativ vage – mit einer jetzt neuen, aber auch komplizierten Strategie nach Virga. Es „züchtet“ sich eigene Verbündete in der großen künstlichen Blasenwelt.  

„Ashes of Candesce“ als eigenständigen Roman zu beurteilen ist unmöglich. Die Faszination der ersten „Virga“ Bände bestand ja auch aus der in sich geschlossenen Blase mit den künstlichen Sonnen und den teilweise an Abenteuerfilme erinnernden Verbindungen aus Luftschiffen, Seilen und teilweise mechanisch moderner Technik. In „The sunless Country“ schauten seine Protagonisten in den „Virga“ begleitenden Hohlkörper, der über im Gegensatz allerdings zum großen Hohlkörper über eine Eigenrotation verfügte. Selbst die Legende, dass Hayden Griffin als Retter und Sonnenerschaffer Fremden den Zutritt gestatten musste, passte sich harmonisch in das Szenario ein. Anstatt allerdings auf dieser Basis den Plot zu einem euphorischen Ende zu führen, versucht Karl Schroeder mit der Einführung eines weiteren nicht unbedingt überzeugenden Charakters und somit einer weiteren Perspektive den Band unnötig und künstlich aufzublähen.  Der anscheinend rückwärts lebende Junge Keir wirkt von seiner Konzeption an genauso wie ein Fremdkörper wie die Idee der potentiellen Unsterblichkeit, wahrscheinlich in Form eines Aufgehens in ein Kollektiv. Seine Ansichten widersprechen nicht selten den Handlungen seiner „Verbündeten“ und die unsinnigen Diskussionen und theoretisch taktischen Planungen, in die Keir eher beiläufig durch Anwesenheit eingebunden ist, lassen „Ashes of Candesce“ in der ersten Hälfte deutlich phlegmatischer erscheinen als der Leser es vom Abschlussband einer bislang rasant strukturierten Serie erwarten oder besser erhoffen kann. Dieser Effekt wird verstärkt durch die Tatsache, dass Karl Schroeder auf der anderen Seite positiv alle wichtigen Figuren der ersten vier Bände – soweit sie die Ereignisse überlebt haben –  scheinbar nahtlos in den Plot eingepasst. Auf der anderen Seite versucht es der Autor allen Figuren recht zu machen. Darunter leidet insbesondere die Historikerin Leal, deren Aufgabe auf Stichworte reduziert wird, obwohl sie zumindest theoretisch zur Sprecherin der „Artifical Nature“ wird. Mit ein wenig mehr Mühe über das Auftauen bekannter Protagonisten hinaus hätte Karl Schroeder mittels kleiner Gruppen den Roman kompakter erscheinen lassen. So behindern sich insbesondere mit dem überflüssigen Keir die einzelnen Figuren. Neben den verbalen Duellen, die allerdings pointiert geschrieben worden ist, und dem berechtigten Misstrauen – Argyre/ Griffin und die Fammings waren in den ersten Romanen Gegner – beschwört Karl Schroeder im Vergleich zu „The sunless Countries“ den Faktor politische Paranoia auf ungewöhnliche, nicht immer befriedigende Art und Weise. Während im vierten Teil der Serie das nicht zufällig an die Nationalsozialisten mit ihrer Auslöschung andersartiger Gedankenmodelle gegen jede historische Logik erinnernde Vorgehen der politisch religiösen Extremisten hinsichtlich ihrer Auswirkungen untersucht worden ist und die zahllosen Volksabstimmungen mittels Kreuzen in der Zeitung jegliche Politik unmöglich machten, hat der Leser das Gefühl, als ginge es bei den hier vorliegenden Diskussionen eher um die Quadratur des Kreises, bevor die Figuren gedanklich mit ihrem Schöpfer in die finale Auseinandersetzung aufbrechen.  Betrachtet man den vorliegenden Roman als Ganzes, so wirken diese langen Passagen übertrieben dargestellt und zu wenig hintergründig in die Handlung eingeführt. Anhänger der Serie brauchen keine Extraauftritte dieser Helden und Neueinsteigern kann dieser Band aufgrund der bis zum zweiten Roman zurückreichenden Rahmenhandlungen nicht empfohlen werden. Sie dienen auch nicht als Vorbereitung hinsichtlich der finalen Konfrontation, die sich auf einer greifbaren Ebene sowie auf einer politisch philosophischen Ebene abspielt. Bei der greifbaren Ebene bereitet Karl Schroeder bis weit in die zweite Hälfte des vorliegenden Romans die einzelnen Positionen sehr differenziert und von unterschiedlichen „Helden“ unterstützt vor. Dem Leser wird lange keine finale, abschließende Lösung angeboten, die verschiedenen und positiv mehr als zwei aufgezeigten Wege haben ihre Stärken aber auch hinsichtlich der Gefahren Schwächen. Die Argumente der sie begleitenden Charaktere sind klar formuliert und nachvollziehbar. Um aus dieser Zwickmühle herauszukommen, muss Karl Schroeder schließlich einen Weg nicht immer konzeptionell glatt gehend als schurkischen Irrweg brandmarken. Aber es gibt ausreichend Alternativen, aus denen der Autor schließlich eine Art Konsens schmiedet, der weniger überrascht als das er viele Seite befriedigt und keinem der positiven Charaktere vor den Kopf stößt. Alleine der Versuch, den klassisch klischeehaften Lösungen aus dem Weg zu gehen, hebt die „Virga“ Serie aus der Masse des Steampunks heraus und rückt die Serie an die politische Science Fiction eines Ken MacLeod, Vernor Vinges oder Greg Egans. Das ist ohne Frage bewundernswert, aber die ersten Bücher lebten auch vom exotisch abenteuerlichen Flair eines futuristischen „Piratenabenteuers“ vor einem extrem exotischen, intelligent mit der technische Expansion hemmenden Strahlung der wichtigsten Sonne Candesces entwickelten Hintergrunds, der jetzt unfreiwillig in den Hintergrund tritt und größeren, aber nicht immer adäquat umgesetzten Zielen Platz macht. Statt das wilde Garn weiterzuspinnen, nähert sich Karl Schroeder Ideen seiner eigenen „Ventus“ Serie an und versucht die Universen nicht greifbar, aber über die zugrundeliegende Idee eines Existentialismus miteinander zu verknüpfen.  Dabei reicht das Spektrum vom Hinterfragen jeglicher Form von Intelligenz bis zum Phlegma des Menschen, der sein Potential genauso wenig ausschöpft wie Karl Schroeder Diktaturen zugesteht, dass sie weniger Kontrollmöglichkeiten erschaffen, sondern bestehende Potentiale effektiv ausnutzen. Diese den Roman durchziehenden Formulierungen wirken angesichts der Entwicklungen in der Zeit nach dem 11. September brandaktuell und gesellschaftskritisch, gehen aber in einer viel elementareren Frage weniger auf denn unter. Ob diese sich am Rand der Floskel  bewegenden Thesen nur eines von mehreren Mittel zum Zweck darstellen oder Karl Schroeder seine futuristische Serie doch näher und vor allem nachhaltig an der Gegenwart platzieren wollte, ist schwierig herauszuarbeiten. Viel einfacher ist es, seine Position zum „Aggregatzustand“ seiner Menschennachkommen zu erkennen.    

Es geht Karl Schroeder um die Evolution seiner Charaktere über die existentielle Daseinsberechtigung hinaus. Das beginnt mit der Artificial Nature und ihre sich im Randbereich, in der dunklen Zone „Virgas“ ansiedelnden Helfern, die versucht mit dem wieder erstarkenden technischen Einfluss die bisher eher mechanische Ordnung zurückzudrängen. Die Flüchtlinge der Renaissance – ein Begriff, der im Grunde ein Widerspruch zu ihrer Existenz ist, denn Virgas Gesellschaft ist aus einem technokratischen Blickwinkel degeneriert und hat sich dabei intellektuell erneuert – stellen das erste Level einer in Richtung künstliche Gemeinschaftsintelligenz strebenden Menschheit mit primitiven kybernetischen Körpern, ihren erweiterten Sinnen und ihren mechanischen Überbrückungen dar. Der Unterschied zu den spätmittelalterlichen Helden der ersten Romane könnte schon nicht größer sein. Ein Mittler könnte bei einer besseren Entwicklung der Figur Kira sein, der mittels elektronischer Fühler – „Dragonflies“ im Original genannt – und vielleicht primitiv erscheinender Interfaces bei seiner Mission in das Innere von Virga förmlich geblendet wird. Er muss seine Arten der Datenaufnahme lernen und wird zu teilweise wieder zu einer Art Mensch. Übertrieben wird, dass Karl Schroeder außerhalb von Virga zu viele Ideen in seinen Roman packt und selbst Pflanzen zu einem Teil eines soziotechnokratischen Komplexes macht, der zu perfekt, zu abgeschlossen erscheint als das die Integration Virgas über  klassisches und damit nicht virtuelles Machtstreben hinaus keinen Sinn macht. Damit schließt sich im Umkehrschluss ein interessanter Kreis, der die Artificial Nature wieder nahe an die Bewohner Virgas heranrückt. Näher als es sich alle Parteien inklusiv des Autoren eingestehen wollen.

Auf den letzten Seiten als Vorbereitung auf die finale Auseinandersetzung konzentriert sich Karl Schroeder wieder auf seinen Plot. Am Ende wenn alle Parteien sich zur finalen Auseinandersetzung inklusiv einiger actionorientier „Raumschlachten“ – Virga hat ja eine Atmosphäre und erinnert trotzdem ein wenig an die Tiefen des Alls – treffen, dann übernimmt wieder ein stringenter und intensiver Plot die Führung und verdrängt die intellektuell faszinierenden, aber auch gekünstelt übersteigerten Evolutionstheorien. Es ist der Kampf um die künstliche Sonne Candesce und für zwei der Charaktere sogar eine Rückkehr zu einer spektakulären, inzwischen Bestandteil der Legenden seienden Aktion, welche das Gesicht Virgas zumindest teilweise veränderte und wieder Licht ins Dunkle brachte.

Zusammenfassend ist der Schlussband vielleicht ein wenig zu ambitioniert, zu vielschichtig und angesichts der zahllosen Figuren vielleicht auch zu dicht konzipiert, während der befreiende Schwung der ersten, sehr viel interessanteren und farbenprächtigeren Romane einer existentiellen Auseinandersetzung gewichen ist. Als Serie betrachtet ist „Virga“ aber mit seiner Mischung aus abenteuerlichen Steampunk mit viktorianischen Wurzeln und dem Versuch, die nächste Daseinsebene zu erreichen, einmalig und unterhaltsam. Überraschend pointiert stellenweise in ungewöhnlichen Situationen mit einem zwinkernden Auge für intelligenten subversiven, aber niemals in Klamauk ausartenden Humor geschrieben sind es vor allem die so unterschiedlichen und doch ihren Zielen zustrebenden Charaktere, die individuelle ihr Leben auf den Kopf stellenden Reifeprozesse unterliegen, in deren Verlauf sie feststellen, dass ihr bisheriges Dasein nicht selten aus unsichtbaren Zellen bestanden hat. Diese Veränderungen vom ersten Buch ausgehend lassen sich auf der großen Bühne des finalen Bandes vielleicht nur erkennen, wenn man die fünf Romane hintereinander liest, was bei „The sunless Countries“ und „Ashes of Candesce“ aufgrund des inhaltlichen Überganges und wegen zahlloser übertragener Details auch elementar notwendig ist. Sie bilden einen zufriedenstellenden Kontrast zu den Hohlwelt globalen Entwicklungen einer der ehrgeizigsten Schöpfungen der letzten Jahre innerhalb der Science Fiction.  

 

  • Taschenbuch: 384 Seiten
  • Verlag: Tor Books; Auflage: Reprint (2. April 2013)
  • Sprache: Englisch
  • ISBN-10: 0765324938
  • ISBN-13: 978-0765324931