Mit „Das Zwillingsparadoxon“ legt Michael Haitels p.machinery den ersten Roman aus der Feder Ron Müllers neu auf. Es handelt sich um eine überarbeitete Neuauflage des ursprünglich im Jahre 2015 veröffentlichten E Books. Im November 2020 publizierte Michael Haitel schon mit „Das Theodizee Problem“ einen herausfordernden zweiten Roman aus der Feder des inzwischen in Cottbus lebenden Autoren.
In Form eines Paranoia Thrillers erzählt Ron Müller modern, stringent und dank des zynischen Endes auch konsequent eine im Grunde abgewandelte alte Idee. Viele Grusel und Horrorgeschichten haben sich mit der Suche nach Seele auf unterschiedliche Art und Weise beschäftigt. 21 Gramm soll sie wiegen. Bei Ron Müller geht es zwar um eine andere Essenz, die sich nicht in Gramm, sondern in Nanosekunden „beweisen“ lässt. Aber der Autor folgt den markanten Mustern dieser Suche.
Doktor Geiger tötet Menschen und zeichnet mit Präzisionswaagen das Gewicht der Menschen auf. Kurze Zeit später wird auch die Leiche des Mediziners gefunden. Die Idee der Waagen lockt die Leser anfänglich auf eine falsche Spur und spätestens im letzten Drittel des Buches beginnt man sich zu fragen, warum Ron Müller diesen „Aufwand“ betrieben hat. Doktor Geiger vertritt von Beginn an eine andere These, die auf Einsteins Zwillingsparadoxon verweist, aber deutlich komplexer ist. Nicht unbedingt komplizierter, aber wie die Thesen um Schrödingers Katze auch schwer zu beweisen.
Nach Geigers Tod erscheinen in einer örtlichen Tageszeitung auf dessen Wunsch und im Auftrag seiner Stiftung kryptische großformatige Anzeigen. Als wenn der Arzt auf etwas hinweisen möchte. Auch die Stiftung, in welche sein ganzes Vermögen geflossen ist, beginnt zu agieren.
Bis auf ganz wenige Szenen gegen Ende des Romans konzentriert sich Ron Müller ausschließlich auf die „Ermittlerebene“. Dabei liegt die Arbeit auf den Schultern dreier sehr unterschiedlicher Charaktere.
Henning Geiger ist nie wirklich gut mit seinem Vater zurecht gekommen. Er hatten dessen herrschsüchtige Art abgelehnt. Im Gegensatz zu seinem insolventen Bruder kommt der Single sehr gut mit seinem bisherigen Leben zu Rande. Die Anzeigen und vor allem die Befragungen durch den Journalisten Martin machen ihn neugierig.
Martin arbeitet als frischer Vater bei der örtlichen Tageszeitung. Stetig unter Druck sucht er immer wieder die neue Geschichte und stößt über die in seiner Zeitung geschalteten Anzeigen und die seltsamen Todesumstände auf Geigers Experimente. Er kann sich aber keinen Reim daraus machen.
Ewa ist eine junge Ärztin. In diesem kleinen Trio ist sie für den medizinischen Bereich zuständig. Neugierig geworden nimmt sie sich die Falldaten aus Geigers Altersheim vor und stößt auf eine Vielzahl von Verstorbenen, deren Todesursachen so nicht stimmen können oder bei denen eine unbekannte Todesursache eingetragen worden ist.
Gleichzeitig beginnt die Stiftung auf ein neues medizinisches Produkt mit einer eher obskuren Heilmethode hinzuweisen. Dazu müssen sich die Menschen allerdings testen lassen. Nur eine kleine Zahl von ihnen kommt für dieses angebliche Wundermittel in Frage.
Im Laufe ihrer Ermittlungen finden die Drei heraus, das Geiger selbst für das Mittel gar nicht in Frage kommt und allen Probanten nicht nur etwas entnommen, sondern vor allem auch etwas gespritzt worden ist.
Wie in seinem zweiten Roman „Das Theodizee Problem“ konzentriert sich Ron Müller auf eine auf den ersten Blick absurde Prämisse, die er mit eine minutiösen wissenschaftlichen Genauigkeit nicht nur den staunenden Protagonisten, sondern vor allem auch den Lesern präsentiert. Einen schlagenden Beweis bleibt der Autor bis zum letzten tragischen Absatz schuldig. Das unterscheidet „Das Zwillings Paradoxon“ von „Das Theodizee Rätsel“. Aber diese Unbestimmtheit macht auch den Reiz des Buches aus. Nach einigen für zarte Gemüter vielleicht unangenehmen Seiten hinsichtlich des Sterbens generell und von alten Menschen in unterbesetzten Pflegeheimen im Speziellen baut Ron Müller seinen Thriller konsequent auf. Jede der gemachten Entdeckungen lässt sich isoliert betrachtet nicht abschließend erklären. Jede der gefundenen Spuren könnte aber auch ein Stück des Puzzle sein, welches das organisierte Verbrechen in Form einer vernünftigen Netzwerkstruktur und einer nicht am Gemeinwohl interessierten Stiftung miteinander verbindet.
Ron Müller baut diesen Aspekt relativ spät in die Handlung ein. Damit versucht er dem Leser die unmittelbare Gefahr für die Protagonisten anschaulich zu vermitteln. Es stellt sich die Frage, ob diese Bedrohung vielleicht nicht sogar unnötig ist. Das Ziel ist derartig verführerisch, das die Welle wahrscheinlich nicht mehr zu stoppen ist. Selbst mit den Mitteln der Regierung. Aber handlungstechnisch geht Ron Müller mit diesem eher klassischen Szenario wieder einen Schritt auf die Leser zu, nachdem er sie intellektuell nicht nur stimuliert, manche vielleicht auch ein wenig überfordert hat.
Wie bei „Das Theodizee Problem“ ist die Ausgangsprämisse faszinierend und verstörend zu gleich. Sie macht den Reiz dieses kurzweiligen Thrillers aus. Wie mehrfach erwähnt erscheint sie absurd, aber jede Versuchsanordnung kann dem eigenen, in diesem Fall schriftstellerischen untergeordnet werden. Das ist positiv gemeint und wird von Ron Müller mit der Kombination verschiedener Thesen auch so gelebt.
Die Protagonisten mit ihren Ecken und Kanten, ihren Sorgen und Nöten, Wünschen und Ängsten sind dreidimensional gezeichnet. Ron Müller bemüht sich, Klischees zu vermeiden und aufgesetzte Liebesgeschichten nicht als Schlüssel zu den Figuren zu nutzen.
Das Ende ist wie erwähnt pragmatisch wie zynisch. Ob die Erkenntnisse schließlich verbreitet wird, bleibt unausgesprochen. Es erscheint unwahrscheinlich. Vielleicht wirkt es auch ein wenig hektisch. Ron Müller will für den Leser und vielleicht auch sich selbst nur klarstellen, das Geigers Forschung einen „wahren“ wie absurd erscheinenden unerklärlichen Kern enthält. Das macht aber auch den Reiz dieses Science Fiction Thrillers aus. Der Leser kann und muss vielleicht die Geschichte weiterdenken.
Mit seinen beiden bislang vorliegenden Science Fiction Romanen hat Ron Müller bewiesen, dass er zu den originellen, auch vor allem in „Das Theodizee Problem“ mit steilen Thesen provozierenden, aber vor allem auch kantigen deutschsprachigen Science Fiction Autoren gehört. „Das Zwillings Paradoxon“ wirkt im direkten Vergleich zu seinem Nachfolger sogar intimer, fokussierter und nicht weniger intellektuell stimulierend.
Die Neuauflage dieses als E Book eher untergegangenen Romans ist überfällig.
- Herausgeber : p.machinery; 1. Edition (16. April 2022)
- Sprache : Deutsch
- Taschenbuch : 204 Seiten
- ISBN-10 : 3957652790
- ISBN-13 : 978-3957652799