Marsianischer Zeitsturz

Philip K. Dick

Der Fischer Verlag  legte 2014 mit „Martian Time- Slip“ einen der Schlüsselromane aus Philip K. Dicks zweiter und rückblickend in ihrer Konsequenz wie Qualität stärkster literarischer Phase zu Beginn der sechziger Jahre unter seinem übersetzten Originaltitel neu auf. 

Bislang ist das Buch als „Mozart für Marsianer“ sowohl im Marion von Schröder Verlag als auch als Bestandteil der phantastischen Bibliothek im Suhrkamp Verlag erschienen.  2002 übersetzte Michael Nagula den Roman noch einmal neu für den Heyne Verlag, auf dessen Veröffentlichung auch die Neuauflage im Fischer Verlag basiert. Michael Nagula griff zum ersten Mal  auf “Marsianischer Zeitsturz” zurück, wobei auch nach der Lektüre nicht klar ist, ob es wirklich eine Art Zeitsturz gegeben hat oder es sich um eine von Drogen beeinflußte Vision einer alternativen Vergangenheit handelt.  

Auch wenn vor allem in der zweiten Hälfte klassische Dick Themen wie Geisteskrankheit als Schlüssel zu anderen Zeitebenen und vielleicht Bewusstseinszuständen eine wichtige Rolle spielen, ist es der soziale Gegenentwurf zu Ray Bradbury  “Mars- Chroniken“ roten Planeten, welcher heute noch mehr fasziniert.

1964 erschienen spielt die Handlung gute 30 Jahre in der Zukunft. In einer Variation des Mars Terraforming ist die Menschheit auf dem roten Planeten einen Schritt weiter. Es gibt nicht ausreichend Wasser, aber zumindest Sauerstoff. Philip K. Dick vermischt den Hintergrund seines Mars nicht nur mit der amerikanischen Frontiermentalität inklusive der kapitalistischen Ausprägungen, sondern versetzt das originäre Australien quasi auf den roten Planeten. „Picknick at the Hanging Rock“ ist die Geschichte nicht, aber Philip K. Dick nutzt die Mysterien der Dunkelmänner auf dem Mars für den Höhepunkt der Geschichte. Nicht nur körperlich entsprechen die kaum noch in den Weiten des Mars lebenden Dunkelmännern den Aborgines. Beide haben eine alte auf Legenden basierende Kultur, in deren Mittelpunkt ein heiliger Ort steht. Philip K. Dick bezeichnet ihn despektierlich als schmutziger Knochen, in Australien ist es natürlich der Ayers Rock. Beide Kulturen wurden durch die eindringenden Menschen bzw. Europäer an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Sie leben entweder in Isolation und werden von der immer stärker werdenden Wasserarmut jenseits der Kanäle existentiell bedroht. Oder sie verrichten niedrige Arbeiten in den menschlichen Siedlungen, die sich um die Kanäle zurückgezogen haben.

Aber Philip K. Dick greift in diesem politischen Roman auch die Siedlungspolitik der U.N. im Allgemeinen, aber auch die Gewerkschaften und ihre vorgeschobene Solidarität mit den Massen im Besonderen an. Die U.N. hat den Mars besiedelt. Das Ziel ist eine autarke Zivilisation, sollte die Erde in einem Atomkrieg untergehen. Dieses klassische Science Fiction Szenario wird von Philip K. Dick nicht nur im vorliegenden Roman um die Nutzung von taktischen Atomwaffen für die eigenen Ziele erweitert. Im Grunde ist das Leben/ Überleben auf dem Mars genauso in ihrer grundlegenden Existenz bedroht wie die Menschen auf der Erde mit dem damals heißen Kalten Krieg leben müssen.

Die Kritik an den Gewerkschaften manifestiert sich in dem asozialen Arnie Kott, dem Vorsitzenden der Kanalarbeitergilde. Gleich zu Beginn beschreibt Dick, wie karg das Leben auf dem Mars ist und wie eng die Rationierung von Wasser erfolgt. Im Gegensatz liest man, das Arnie Kott sich eine Dusche hat bauen lassen, in welcher das Wasser nicht recycelt wird, sondern einfach in den Marsboden abfließt. Um Spaß mit seiner Geliebten zu haben, hat Kott das Wasser derartig aufgedreht, das sie im Wasserdampf kriegen spielen können. Kott ist ein Egomanne, ein Tyrann. Der klassische Schurke nicht nur aus den Karl May Romanen, der über Leichen geht. So lehnt er eine Rettungsaktion aufgrund eines U.N. Hilferufes ab, obwohl es schwere Folgen für seinen Piloten haben könnte. An einer anderen Stelle übernimmt er rücksichtslos agierend das Schwarzmarktgeschäft vom Nachfolger seines langjährigen Lieferanten und scheut nicht, seinen an ein Spinnennetz erinnernden Einfluss auf die U.N. und Polizeibehörden auszunutzen. Als ein großes Immobiliengeschäft auf dem Mars ruchbar wird, versucht er sich einzukaufen, in dem er nicht nur die Gesetze biegt, sondern schließlich auch die „Zeit“ verändern möchte. Philip K. Dick macht deutlich, was er von den aus seiner Sicht nutzlosen Funktionären hält.

Mit dieser Einstellung entfernt er sich mehr und mehr von seinen eher sozialistisch zu nennenden Wurzeln, wobei der Amerikaner dem klassischen Kapitalismus seines Heimatstaates genau kritisch gegenüber steht.

Wie in den meisten seiner Science Fiction Romane beschreibt der Autor ausführlich, detailliert und mit einer leicht ironischen Note das alltägliche Leben seiner durchschnittlichen Protagonisten.  Aber noch mehr als in seinen anderen Romanen stehen diese Protagonisten auch bewusst und unbewusst  miteinander in Verbindung. Es ist eine komplexe Gesellschaft, welche den Mars lange als einziges utopisches Element gar nicht benötigt. Jeder unwirtliche Ort auf der Erde hätte auch ausgereicht, um die Grundprämissen zu etablieren. 

Im Mittelpunkt der Ereignisse steht Jack Bohlen. Er arbeitet als Mechaniker auf dem Mars. Auf der Erde litt er unter Ausbrüchen von Schizophrenie, er sieht sich aber als geheilt an. Bohlen ist wie viele Männer die ganze Woche immer unterwegs. Er lebt zusammen mit seiner Frau Sylvia und David in einem der äußeren Bereiche der Marskanäle. Sein Vater Leo ist ein reicher Immobilienspekulant, der auf den Mars kommt, um Land im scheinbar wertlosen Franklin D. Roosevelt Gebirge zu kaufen, wo die U.N. eine neue Siedlung plant. Auch das ist ein klassisches Westernszenario, das Philip K. Dick eher als roten Faden, aber nicht als Spannungsmoment ausnutzt.

Die Nachbarn der Bohlens sind die Steiners. Sie haben vier Töchter und einen autistischen Sohn, der in einer besonderen Betreuungseinrichtung lebt. Nach einem Besuch im Heim bringt sich Norbert Steiner um. Es stellt sich heraus, daß Norbert Steiner vor allem als Lebensmittelhändler auf dem marsianischen Schwarzmarkt aktiv gewesen ist.

Bohlen und Kott treffen in der Wüste aufeinander. Kott will sich an dem ihn direkt verbal attackierenden Bohlen rächen. Er will ihn unter seiner Kontrolle bringen.

Bis dahin ist - wie schon erwähnt - die Geschichte ein klassisches Beziehungsdrama. Viele eher fragile rote Fäden lösen sich durch den unerklärten Selbstmord Steiners auf. Der potentielle Immobiliendeal und damit ein möglicher Verlust der Macht schreckt Kott auf, der mit seiner Ex- Frau ebenfalls ein schwerbehindertes Kind in der Einrichtung hat. Der Mars ist wie gesagt nur ein Mittel zum Zweck. Die Menschen leben dogmatisch mit ihren Vorurteilen. Dabei lässt Dick seine Protagonisten genauso über die jüdischen Siedlungen lästern wie die stoische Akribie der Russen eher parodierend herausgestellt wird. Die Menschen leben zwar auf dem Mars, haben aber ihre eigene teilweise rassistisch dargestellte Vergangenheit nicht abgelegt. Und werden es auch nicht tun.   

Philip K. Dick bedient bei den zwischenmenschlichen Beziehungen im Grunde alle Klischees. Die einsamen Hausfrauen, welche unter der Woche von ihren Männern alleine gelassen werden und ihre Affären. Es ist ganz natürlich, dass auch Jack Bohlens Frau schließlich dem Charmes eines Schwarzmarkthändlers, eines klassischen Vertreters erliegt und zumindest einen One Night oder besser One Day Stand hat. Mit dem entsprechenden schlechten Gewissen. Bohlen selbst erliegt Konts rothaariger Gespielin. Die Farbe Rot ist das markante Zeichen einer Reihe von erstaunlich modern denkender und sexuell aufgeschlossener Frauen in Dicks Werk. Eine Aneinanderreihung der unterschiedlichen Frauencharaktere findet sich in dem erst 1974 publizierten Alternativweltroman „Eine andere Welt“. Ihnen allerdings muss der getriebene Protagonist begegnen.

Die neue bessere Stadt soll in den unzugänglichen Bergen gebaut werden. Zynisch nennt Philip K. Dick sie „AM-WEB“ , eine Komprimierung aus Schillers „Ode an die Freude“: Alle Menschen werden Brüder. Aber auch diese Zeit wird nicht ewig halten. In einer der futuristischen Visionen wird sie schließlich erst zu einem Altersheim, in dem die Körper von den die Patienten erdrückenden Ärzten aufs Rudimentärste amputiert werden. Später verfolgen die Protagonisten an Hand von Manfred Steiners die Zukunft abbildenden Zeichnungen den Verfall der Siedlung.  Aber bis dahin ist Dicks Mars so simpel, so pragmatisch und so künstlich steril wie die amerikanische Vorstadt, mit ihren kleinen unter den Teppich der Häuser gekehrten Sünden.

Ein klassisches, auch den Titel prägendes Element tritt erst spät zu Tage. Der die Einrichtung für Kinder mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen leitende Dr. Milton Glaub ist der Ansicht, das der Autismus möglicherweise auf einer anderen Art der Zeitwahrnehmung basiert und Autisten in ihren Ausdrucksmöglichkeit beschränkt nicht nur die Zukunft sehen oder im Fall von Manfred Steiner, dem Sohn des Selbstmörders, malen können, sondern Kott versucht in Kombination mit dem Aberglauben der Dunkelmänner sogar die Zeit zu verändern.    

 Im letzten Drittel mit der Pilgerfahrt greift Philip K. Dick nicht nur auf sein Werk kennzeichnende Elemente zurück, sondern Dicks Mars wird zu dem klassischen alten Mars, den Ray Bradbury in „Die Mars- Chroniken“, aber auch Robert A. Heinlein in „Der rote Planet“ beschrieben haben. Dick impliziert die überwiegend vom roten Sand überdeckten Spuren einer lange untergegangenen marsianischen Zivilisation, die als ihren kulturellen Höhepunkt die Kanäle hinterlassen hat. Ohne die Kanäle gäbe es allerdings als ironische Fußnote kein menschliches Leben auf dem Mars. Die wenigen noch lebenden Dunkelmänner mit ihrem tief in der spärlichen Natur verwurzelten Glauben sind nur noch blasse Zeugnisse der eigenen Vergangenheit. Sie sind billig bezahlte Hilfskräfte, Sklaven oder darben in der Wüste. Erniedrigender Höhepunkt ist, das eine kleine Gruppe sogar vor dem Verdursten von den Menschen gerettet werden muss. 

Dick macht gleichzeitig deutlich, dass die von der Erde ausgewanderten Menschen nicht gegen ihre ureigene, raffgierige Natur ankönnen. Kont ist das klassische Beispiel. Auch wenn Jack Bohlen im Mittelpunkt der Ereignisse steht und damit dem Typus des Blue Collar Antihelden aus Dicks Werk entspricht, ist es der Gewerkschaftsführer Kont, welche das letzte Viertel des Buches dominiert. Er will mit dem Autisten Manfred Steiner und dem heiligen Ort der Dunkelmänner die Geschichte verändern und eine zumindest geistige Zeitreise wenige Wochen zurück unternehmen, damit er vor Bohlens Vater mit dem Wissen der Gegenwart agieren kann.

Vieles lässt Dick im Spekulativen stehen. Offensichtlich werden Manfred Steiners und Konts Geist in der Höhle nicht nur durch eine besondere Sendefrequenz des Radios befreit, sondern auch durch eine Art Kraut, das wie bei den Ureinwohnern der Erde in ein offenes Feuer geworfen wird. Dick ignoriert in dieser Szene die Möglichkeit, das wie die Schwerkraft auf dem Mars auch der Sauerstoffgehalt niedriger sein könnte. Kont „geht“ in die Vergangenheit zurück, scheitert aber an seiner eigenen Raffgier. Er kann den Zeitablauf nicht verändern. Viel schlimmer ist das ihm zugedachte Schicksal.

Auch wieder in der „Zukunft“ oder vielleicht doch nur innerhalb einer weiteren Vision wird Kont wieder von der eigenen „Vergangenheit“ eingeholt und scheitert. Philip K. Dick schließt seinen Roman in dieser Hinsicht deutlich konsequenter ab und macht deutlich, dass es doch eine Art Gerechtigkeit zumindest auf dem Mars gibt. Auf der anderen Seite macht es sich der Amerikaner vielleicht auch ein wenig zu leicht, wenn er Konto zweimal umgehend für dessen Unmenschlichkeit und Raffgier bestrafen lässt.

Im Epilog greift Dick noch eine weitere, rührend beschriebene „Szene“ aus der ersten Hälfte des Buches auf und deutet ein weiteres Mal an, das Manfred Steiner vielleicht nicht durch die Zeit reisen, aber aufgrund seiner autistischen Erkrankung den Zeitstrom entlang schauen kann. Der Amerikaner macht aber auch deutlich, dass diese Visionen keine Hilfestellung sind, sondern wie ein dunkles Damoklesschwert Manfred Steiners restliches Leben über ihm schweben werden.

Der Roman spielt auf einem fiktiven Mars mit ausreichend Sauerstoff, aber wenig Wasser. Der Plot entfaltet sich in einer typischen amerikanischen Vorstadtsiedlung, nur auf dem roten Planeten. Dick verzichtet auf die klassische Zertrümmerung der Realität seiner bodenständigen, der Arbeiterklasse angehörenden Protagonisten. Er konzentriert sich auf Geisteskrankheiten mit einem Schwerpunkt Autismus und Schizophrenie. Zumindest Letztere ist kontrollierbar. Wenn die von den Ärzten etablierten Schutzbarrieren aus Gewinnsucht und Egoismus niedergerissen werden, kommt es zur unvermeidlichen Katastrophen. Dabei ist Dick immer auf der Seite der „Geisteskrankheiten“, sie sind die komplex und dreidimensional entwickelten Protagonisten in Welten, die noch nicht, aber bald aus den Fugen geraten werden. Diese Veränderungen sind bis auf „Eine andere Welt“ immer schleichend, nicht unbedingt subtil, aber niemals schlagartig. Das macht auch den Reiz dieser Frontiergeschichte mit ihrer deutlichen Hommage vor allem an die australischen Ureinwohner und ihre Mythen/ ihre Geschichte aus.

„Marsianischer Zeitsturz“ ist ein perfekter Philip K. Dick Roman, in welchem der Amerikaner die Klischees des Genres genau wie die menschliche Geschichte wie ein Kind im Spielzeugladen demontiert und sie anders, nicht weniger faszinierend wieder zusammenbaut.            

Marsianischer Zeitsturz: Roman (Fischer Klassik)

  • Herausgeber ‏ : ‎ FISCHER Taschenbuch; 1. Edition (25. September 2014)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 288 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 359690563X
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3596905638
  • Originaltitel ‏ : ‎ Martian time slip