Gegen Unendlich 17

Andreas Fieberg (Hrsg.)

Andreas Fieberg führt die Anthologiereihe “Gegen Unendlich” mit der 17. Ausgabe alleine weiter. Gleichzeitig handelt es sich um den bislang umfangreichsten Band der Serie. Auch das Themenspektrum reicht wieder von nicht klassischer Science Fiction über Gruselgeschichten bis in den Bereich der Weird Fiction. 

Gabriele Behrend eröffnet den Geschichtenreigen mit “mein name ist sabia”.  Die Autorin hat die Geschichte vor allem über Chats aufgebaut. Ohne zu viel von der Pointe zu verraten leitet sabia eine Gruppe von Menschen, die unter bipolaren Störungen leiden. Natürlich ist sabia auch eine Art Experiment. Der Leser ist den Mitgliedern der Gruppe einen kleinen, von der Autorin allerdings auch eher implizierten Schritt voraus. Das Ende ist süßsauer. Es ist nicht die erste Story im inzwischen relativ umfangreichen Werk Gabriele Behrends, die sich mit psychischen Störungen auseinandersetzt,. Wie Daniel Keyes geht sie dabei ungewöhnliche Wege, versucht die Barriere im Kopf mancher Leser zu lösen, zeigt aber keine allgegenwärtigen Lösungen auf, sondern stellt eher “Fakten” gegenüber. Das regt zum Nachdenken an. Und nicht nur über sabia. Eine schöne Eröffnungsgeschichte dieser Anthologie. 

Liliana Wildings “Die Illusion von Frieden” beschreibt allerdings das “Terminator” Szenario variierend den Konflikt zwischen Mensch und Cyborg, der seit vielen Jahren immer brutaler ausgetragen wird. Der Protagonist hat anfänglich die paranoide, aber auch berechtigte Angst, dass die Cyborgs in ihre Anlage eingedrungen und seinen Vater bedrohen. Anschließend beschreibt die Autoren mehrere komplizierte Pläne von beiden Seiten, den Gegner endgültig zu vernichten. Der Erzählstruktur ist sehr stark komprimiert. Dadurch wirkt das Geschehen auch deutlich konstruierter und weniger spannend, als es die Absicht der Autorin gewesen ist. Ein emotionaler Funke zu den Charakteren springt nicht über, da die Ausgangsbasis auch ein wenig bemüht erscheint. Die Technik wird ambivalent eingesetzt, aber auch nicht weiter extrapoliert. 

Eine Expedition zu einem besonderen Objekt inklusiv einer entsprechenden Anomalie beschreibt Maike Braun in der Story “Anomalie”. Gleichzeitig ist es eine Familiengeschichte, da die Mutter ihre Tochter zusammen mit dem kriminellen Vater auf eine Art Selbstmordmission schickt. Die Untersuchung des Objektes wird spannend beschrieben. Dabei leiden einzelne Figuren wie der opportunistisch egoistische Vater unter mangelnder dreidimensionaler Charakterisierung. Das Ende ist zwar auf der einen Seite kompliziert, auf der anderen Seite aber von der Autorin gut skizziert worden. Vielleicht ist die Form der Kurzgeschichte zu wenige Aussagekräftig für den Umfang der Ideen. 

Sowohl Liliana Wildings als auch Maike Brauns Texte lassen sich sehr gut lesen. Sie bieten klassische Science Fiction Szenarien an, die auch stilistisch mindestens routiniert erzählt werden. Als Novellen hätten beide Storys aber wahrscheinlich mit der Entzerrung der Handlung noch überzeugender gewirkt.     

Auf dem “Planet E” spielt J.H. Schneiders Story. Ein melancholischer Protagonist ist auf der Suche nach sich selbst. Das Ende ist solide und steht in einem starken Kontrast zu den Traumsequenzen. Der Autor bringt den Plot zielstrebig zu Ende und versucht keine Flanken offen zu lassen. Die Beschreibung des Planeten ist gut. Eine Mischung aus archaisch und pragmatisch eingesetzter Technik. Als Ganzes handelt es sich aber positiv gesprochen eher um ein Stillleben als einen konsequent ausgearbeiteten Plot.   

Achim Stößers ”Augmentierte Irrealität” erinnert teilweise an die absurden Ausgangsprämissen, mit denen Philip K. Dick seine bodenständigen Charaktere in den Wahnsinn getrieben hat. Ein Besuch beim Zahnarzt lässt die Welt des Protagonisten zusammenstürzen. Der Autor lässt nicht nur auf seinen Protagonisten, sondern auch die Leser eine Vielzahl von Ideen förmlich einstürzen,  fügt selbst in den letzten Absätzen noch eine Idee hinzu. Dadurch wirkt vieles ein wenig hektisch, aber dieses Feuerwerk von kleinen Ideen gibt der Geschichte auch einen besonderen Reiz. 

Auch Uwe Post schickt seine Figuren auf die Reise. Die Vogel- Ichs unternehmen eine Art Expedition. In einem expressiven Stil beschreibt Uwe Post eine Abfolge von Ereignissen und kleineren Begegnungen, aber die Form ist dieses Mal stärker als der Inhalt. 

Johann Seidls “Tut mir leid Frosch, aber das kann ich nicht tun!” ist in mehrfacher Hinsicht eine der besten Geschichten dieser Sammlung. Er verbindet einen sehr bekannten Film bzw. eine Szene aus diesem Film entsprechend extrapoliert mit einer nicht minder vertrauten Märchensequenz und schließlich einer Episode aus “1001 Nacht”. Hinzu kommt, dass der Titel auch wirklich Programm ist. Beginnend mit der guten Ausgangsidee ist auch die Präsentation kompakt wie überzeugend. 

Auch Holger Neuhaus “Der Knopf” ist auf den ersten Blick Ausdruck einer faszinierend simplen Idee. Zusammen mit seiner Schulfreundin ist der Protagonist der Überzeugung, dass sie Androiden sind, die man mit einem Knopf unter dem linken Ohr für 15 Sekunden einfrieren kann. Ob es der Realität entspricht oder Wunsch/ Einbildung ist, bleibt abschließend offen, aber Holger Neuhaus gelingen einige gute Szenen. 

Karsten Lorenz stellt seine Prämisse gleich an den Anfang der Story “Zeitreisen sind unmöglich”. Auf dieser Basis entwickelte er besagte Theorie weiter. Natürlich findet sich schließlich mittels Spieltheorien, einem Labyrinth und zahlreichen Begegnungen mit dem anderen zukünftigen Ich doch irgendwie ein Weg. Dabei leidet die Geschichte unter den eher eindimensionalen, pragmatisch beschriebenen Charakteren und der anfänglichen Umständlichkeit, dem Leser einen Weg zum Ziel zu weisen. Vieles wird verklausuliert, wieder hinterfragt, ohne das sich das richtige Momentum entwickelt. 



Julian Bodensteins “Die Heimsuchung” eröffnet einen ganzen Reigen von Weird Fiction Geschichten in diesem Band. Kreaturen scheinen einen kleinen Ort nachts zu tyrannisieren. Der örtliche Apotheker kommt dem Geheimnis durch einen Zufall dank seiner Nase, aber auch den Käufen eines Kunden auf die Spur. In dieser morbiden Phantastikgeschichte sind die Kreaturen im Grunde nur Mittel zum Zweck. Ihre Erschaffung ermöglicht es, andere moralische Abgründe in der Gemeinde unter den imaginären Teppich zu kehren. Dank des getragenen Erzählstils, den soliden gezeichneten Protagonisten und einer vor allem in den Details überzeugenden, wie auch pragmatischen Auflösung gehört ”Die Heimsuchung” zu den besten Geschichten dieser Anthologie. 

Andreas Fiebergs “Allein zu Haus” ist keine phantastische Story. Aber trotzdem spricht der Autor ein aktuelles Problem auf eine erstaunliche Art und Weise an. Rückblickend macht alles aus einer eben anderen Perspektive Sinn. Eine alte Dame ist anscheinend “allein zu Haus”. Desorientiert flüchtet sie in ihre eigene Vergangenheit, die sich vor ihrem inneren Auge auflöst. Die Pointe ist emotional, wie angesprochen allgegenwärtig und nicht nur für die Beteiligten auch erleichternd simpel. 

“Die gute Tat” von Michael Schmutzler beschreibt beginnend mit einer versteckten Tür im eigenen Haus keine Reise ins Ich, sondern eine Reise quasi zum Ich. Trotz aller Vorhaltungen setzt sich schließlich das Phlegma durch. Die Dialoge sind pointiert, die ganze Story ist aber eher eine Art Stillleben, in welchem die Selbstkritik zumindest bei einem der beiden “Protagonisten” viel zu kurz kommt. Alles andere würde wahrscheinlich auch der Intention des Autoren widersprechen.  

Kornelia Schmids “Der Zeitpunkt des Untergangs” ist eine dieser leicht romantischen Geschichten, in denen sich Gegenwart in Form eines sehr fokussierten Forschers und Vergangenheit nicht nur natürlich in Person einer schönen Frau, sondern einer durch einen Vulkanausbruch untergegangenen und alle Aufzeichnungen verlorenen gegangenen Zivilisation miteinander verbinden. Dabei werden die Mauern der Zeit durchbrochen und Geschichte neu geschrieben. Die Geschichte ist stilistisch ansprechend verfasst worden, aber die einzelnen Versatzstücke wirken ein wenig improvisiert zusammengestellt und die Charaktere eher pragmatisch gezeichnet als dreidimensional entwickelt. 

Alexander Krist ist für den Humor zuständig. “Hephaistos” bewegt sich dabei auch am Rande des Klamauks. Diese griechische Göttergeschichte beginnt humorvoll mit der Erschaffung eines neuen potentiellen Gottes ohne Vater und damit auch ohne den allgegenwärtigen und sehr potenten Zeus. Im Grunde mit dem Himmelssturz beginnt die Geschichte an Elan zu verlieren.  Das Ende wird eher seicht, einzelne Charaktere verlieren an Charisma und vor allem auch die Sympathie der Leser. Aber während der pointierten Dialoge zu Beginn der Story kann der Leser mehr als einmal sehr herzlich lachen. 

Werwölfe spielen in Annika Mirjam Pas “Schattenstadt” eine Rolle. Die Werwölfe leben unter den Menschen, essen menschliche Herzen nicht unbedingt warm aus den Körpern und leiden wie die normalen Mitmenschen. So führt der Protagonist eine ungesunde Beziehung zu einer jüngeren Werwölfin. Eine Beschwörung führt zu einer Katastrophe und eine Katastrophe möglicherweise zu einer neuen Ordnung. Die Atmosphäre der Geschichte ist dicht, der Autorin gelingt es, die mystischen Figuren ohne Schwierigkeiten in eine auf der einen Seite zeitlose, auf der anderen Seite durch das Vorhandensein unter anderem von Autos eher der Gegenwart entsprechende Ära einzubauen. Auch sie packt wie einige andere Autoren und Autorinnen dieser Sammlung viel Stoff auf wenige Seite, aber ihr gelingt es besser, den umfangreichen Plot zu strukturieren und aus bekannten Versatzstücken wirklich etwas Originelleres zu gestalten. 

Mario Kaszners “Das Örag aus Südwesten” ist eine Hommage an die Pulpgeschichten aus den “Weird Tales”, vielleicht auch am meisten an den alltäglichen Schrecken, der sich bei H.P. Lovecraft anschleicht und bei dem weder Leser noch Protagonist weiß, ob er real ist oder der Wahnsinn schon an die Tür klopft. Nach einem Tauchgang beginnt sich die Welt des Protagonisten zu verändern. Er isoliert sich mehr und mehr. Das Örag als eingebildetes Wesen (?) beginnt zu dominieren. Der Wahnsinn manifestiert sich in Gesprächen mit Türschlössern, von denen der Protagonist immer mehr in seiner Wohnung positioniert. Ohne Gespräch kein Öffnen. Natürlich führt es ihn schließlich an den Ausgangsort zurück. Der Autor weigert sich, abschließende Antworten zu geben, aber diese Unbestimmtheit macht auch den Reiz der Geschichte aus. 

Auch Scipio Rodenbrüchers Protagonistin fühlt sich im “Palast der wandernden Türen”  buchstäblich in der surrealistisch erscheinenden Außenwelt, aber auch einem sich stetig verändernden Gebäude gefangen. Wie bei Mario Kaszner ist es für den Leser schwer erkennbar, ob die Protagonisten wirklich unter den Wahnvorstellungen leiden oder die Irrealität sich den Weg in ihre subjektiven Realitäten gebahnt hat. Beide Geschichten leben von der beklemmenden, sich immer wieder verändernden Atmosphäre und vor allem auch der Ambivalenz, mit welcher die beiden Autoren den Plot sich quasi selbst entwickeln lassen. 

“Gegen Unendlich” 17 ist wieder eine zufriedenstellende Anthologie von thematisch breiten Geschichten semiprofessioneller Autoren. Stilistisch sind alle Geschichten von expressiv bis ein wenig statisch bieder überzeugend. Einige Ideen verdienen einen breiteren Rahmen, in anderen Fällen wirkt der Plot zu stark fokussiert/ konstruiert, aber generell lohnt es sich, dieses ohne Frage ambitionierte Projekt weiterhin zu unterstützen und die Storys in Ruhe zu lesen. 

        

GEGEN UNENDLICH 17: Phantastische Geschichten (AndroSF: Die SF-Reihe für den Science Fiction Club Deutschland e.V. (SFCD))

  • Herausgeber ‏ : ‎ p.machinery; 1. Edition (1. Juni 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 244 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 395765288X
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3957652881
  • Lesealter ‏ : ‎ Ab 14 Jahren
  • Abmessungen ‏ : ‎ 12.7 x 1.55 x 20.29 cm