Neongrau

Aiki Mira

„Neongrau“ ist der erste Roman Aiki Miras, der wenige Monate nach ihrer zweiten Arbeit „Titans Kinder“ (p. machinery) veröffentlicht worden ist. Das liegt an der längeren Vorlaufzeit ihres Verlages Polarise.

Während „Titans Kinder“ draußen im All spielt, ist „Neongrau- Game over im Neurosubstrat“ eine Art Heimspiel. In der Realität spielt der Plot in Hamburg des Jahres 2112, dessen herausfordernde Infrastruktur auf den ökologischen Exzessen der Gegenwart aufgebaut worden ist. Aber nicht nur Hamburg ist wichtig, auch die virtuelle Welt der Gamer. Der Untertitel impliziert eine mehr auf Action orientierte Handlung als es Aiki Miras Buch widerspiegelt.  Damit soll nicht zum Ausdruck gebracht werden, das der Roman langweilig  oder ausschließlich sozialkritisch ist, aber der Untertitel verschiebt den Fokus von den innerfamiliären zukünftigen Beziehungen in Richtung des Tag der Legenden und der die Popularität von Fussball überflügenden Onlinegames. . 

In den neunziger Jahren hat Hans Joachim Alpers mit seiner „Deutschland in den Schatten“ Trilogie - im Shadowrun Universum angesiedelt – einen vergleichbar ambitionierten Versuch unternehmen, Cyberpunk inklusiv der virtuellen (Spiel-) Welten mit einer ökologischen Katastrophe als Hintergrund einer rasanten, durch zahlreiche Szenenwechsel angetriebenen Abenteuerhandlung zu kombinieren. Zwar spielt „Deutschland in den Schatten“ nicht  nur in Hamburg, sondern in verschiedenen Städten, aber die Passagen, in denen Hans Joachim Alpers ebenfalls die überflutete Altstadt oder die untergegangene Lagerhäuser im Hafen beschreibt, leben in „Neongrau“ auf eine mehr moderne, andere Art und Weise wieder auf.

Aiki Mira erzählt ihren Plot in mehr als siebzig, teilweise sehr kurzen Kapiteln. Damit treibt sie -wie angesprochen - die Handlung voran, aber in einzelnen Passagen wirkt die Autorin auch ein wenig überambitioniert und hektisch, möchte zu viele Informationen und/ oder Fakten auf zu wenig Raum pressen. Auf der anderen Seite gibt es Abschnitte, die vor allem auch durch die verspielte Verliebtheit in den Computer/ Gamerslang zu gedehnt erscheinen. Hier wäre weniger Detailverliebtheit vielleicht sogar mehr gewesen, während vor allem die charakterliche Ebene teilweise pragmatisch entwickelt ist.

Auch wenn die Handlung fast neunzig Jahre in der Zukunft spielt, ist sie erstaunlich gegenwärtig. Die überflutete Stadt mit einer Gamerzentrale in Rathausnähe bleibt nicht selten fremd. Auf der einen Seite will die Menschheit den Treibhauseffekt mittels Schwefeldioxid reduzieren, das in die Luft gepumpt wird, auf der anderen Seite wird das Kohlendioxid in stillgelegte Ölquellen gepumpt, von denen es in Norddeutschland ja nicht unbedingt viele gibt.

Früher waren Amphibienfahrzeuge oder Wassertaxis eine touristische Attraktion,  heute sind sie notwendig, um sich in der Stadt überhaupt bewegen zu können.  Tauchen ist vor allem in Blankenese lebensgefährlich.  

Rassismus und Diffamierung sind alltäglich. Es gibt zwar ein bedingungsloses Grundeinkommen, aber es reicht nicht zum Leben oder Überleben. Vielleicht irgendwo auf dem Land. Aber Aiiki Mira baut diesen Hinweis in ihren Roman ein. Dieser Verweis ist aber wie vieles im Grunde nicht wichtig. Sie will einen sozialen Alptraum beschreiben, in dem die Arbeitskraft Mensch bis auf wenige Ausnahmen überflüssig geworden ist. Auch hinsichtlich der Auftakt Sequenz stellt sich dem Leser unwillkürlich die Frage, ob ein Stuntman nur billiger gewesen ist als eine Computergraphik. . Das sind alles keine unbedingt neuen Themen. Schon Autoren wie John Brunner  oder James Graham Ballard haben über diese soziale Verwahrlosigkeit der unteren und mittleren Gesellschaftsschichten berichtet. Aber Aiki Mira macht es in dem provokanten Tonfall der “Jugend”, quasi auf Augenhöhe der heute wie in ferner Zukunft betroffenen Generationen. Und sie sucht keine Lösungen. Pragmatisch beschreibt sie diese dunkle Zukunft. Ordnungskräfte und Politiker finden auf dieser Ebene keinen wirklichen Anklang und so treten sie höchstens rudimentär auf. Das Chaos regiert, wie es Kathryn Bigelow in “Strange Days” schon für die Milleniumfeier beschrieben hat. 

Während „Titans Kinder“ sich auch durch die Fokussierung auf eine kleine Gemeinschaft hintergrund technisch selbst entwickelte, zeichnet Aiiki Mira in „Neongrau“ mit einem dickeren Pinsel eine dunkle, nihilistische Zukunft, welche den Cyberpunk der achtziger Jahre neu, aber doch irgendwie auch anders auf entstehen lässt.

Alle Komponenten der ersten Cyberpunk Romane und damit auch Hans Joachim Alpers „Deutschland in den Schatten“ Trilogie sind vorhanden. Aiki Mira kopiert nicht, sie interpretiert interessanterweise aus einer fast jugendlich zu nennenden Position neu. Sie ist zu jung, um das Entstehen des Mythos Cyberpunk und seiner paranoiden Angst vor einem allmächtigen Japan aus erster Hand verfolgt zu haben. Aber sie gehört zu den Autoren, die in die Zeit hineingeboren worden sind, welche der Cyberpunk mit dem Internet, den virtuellen Welten, den Desktop Jockeys und schließlich der manchmal erdrückenden Todessehnsucht der innerlich zerrissenen Protagonisten melancholisch sehnsuchtsvoll beschreibt.  Romantik der Postmoderne, die potentielle Revolution gegen das System von innen heraus.

Nicht selten begannen Cyberpunk Romane mit Niederlagen, aus denen die nicht immer nur  jugendlichen Protagonisten vielleicht nicht unbedingt gestärkt, aber innerlich reifer hervorgegangen sind. Diese Komponente findet sich auch zu Beginn „Neongraus“.

Go arbeitet als Stuntboi und soll mit seinem Freestyle- Board über das Wasser in Hamburgs überfluteten Straßen gleiten. Keine ungefährliche Aufgabe, vor allem, weil die Produktionsgesellschaft ungern für Unfälle die Verantwortung übernehmen. ELLI ist verantwortlich, das die Stuntbois die Regeln einhalten und Go ist bei dieser Produktion der ihr zugeordnetes Stuntboi. Bei einem Unfall wird er schwer im Gesicht verletzt. Die medizinische Behandlung ist teuer, Go ist bei der Produktion mehr oder minder rausgeflogen, obwohl er selbst die Nase voll hatte, seinen Hals zu riskieren. Elli hat Mitleid mit Go, sie kann sich nicht erklären, warum sie nicht Feierabend macht und Go seinem Schicksal überlässt. Aiki Mira pflanzt keine klassische Romanze an den Beginn des Romans, aber sie macht deutlich, dass es Individuen sind, die gegen das klassisch ausbeuterische System im Kleinen aufbegehren. Wie korrupt das System allerdings ist, ahnen eher die Leser als die noch getriebenen Protagonisten.

Gos Online- Freund Ctrl besorgt als Hacker einen Job als Leibwächter im Stadion. Im Grunde ist ganz Hamburg das Stadion. Hier findet die Weltmeisterschaft statt, hier jubeln die Massen den Internetgame Stars zu. Das Turnier der Legenden mit den Rahmani - Geschwistern steht bevor. Im Gefolge Gos kommt ELLI ihrem Traum näher, auch mal live und nicht nur am Rechner die Spiele zu verfolgen. Gleichzeitig dringen sie in eine Welt abseits der publikumswirksamen Public Relation des Gamer Konzerns ein. Mit natürlich auch gefährlichen Folgen.    

Die Cyberpunks haben sich gegen die bestehenden wirtschaftlich- kapitalistischen Gesetze aufgelehnt und im Netz quasi einen alternativen Entwurf erschaffen, der aber von den Handlangern der überwiegend japanischen Konglomerate im direkten Vergleich zur abgehalfterten USA mindestens mitkontrolliert wird. Freiheit innerhalb und außerhalb des Netzes sind Illusionen, mit denen die nicht selten auch ein wenig naiven Träumer, direkt dem Film Noir entstiegen, fertig werden müssen. 

Aiki Mira unterscheidet sich in dieser Hinsicht von den Cyberpunks oder anderen Romanen, die sich mit jeglicher Form der nicht selten an die römischen Gladiatorenkämpfe erinnernden Spiele auseinandersetzen. Immer wieder wird der Tag der Legenden beschworen, auf den inneren Zirkel der wie Fußballer gefeierten Spieler hingewiesen, aber den ganzen über fünfhundert Seiten umfassenden Roman betrachtend umschifft die Autorin dieses Thema erstaunlich elegant und verfügt sich nicht in Klischees. 

Viel mehr entwickelt Aiki Mira eine futuristische Welt inklusive der entsprechenden Slangsprache. Diese Hingabe zu nicht immer notwendigen Details kann ermüdend sein und den Lesefluss auch manchmal trotz der kurzen Kapitel erschweren, aber diese Vorgehensweise unterstreicht auf der anderen Seite, wieviel Mühe sich Aiki Mira gegeben hat, um eine Geschichte konsequent zu erzählen. Dadurch wirkt ihre aber auch exzentrische Welt dreidimensional, wenn auch nicht farbenprächtiger. Einige der sprachlichen Veränderungen lassen sich schnell ableiten, für andere Extrapolationen gibt es ein Glossar. am Ende des Buches.  

  

Inhaltlich setzt sich Aiki Mira von Beginn an eher mit den Beziehungen zwischen den einzelnen Charakteren auseinander. Beginnend mit ELLI  und Go entwickelt sie ein interessantes, nicht immer leicht zu verfolgendes Netzwerk von “Beziehungen”, “Freundschaften” oder auch Gefälligkeiten. Nicht alle Themen werden ausführlich behandelt. Klassische Familienstrukturen gibt es zwischen Aiki Miras Figuren nur bedingt. 

 Wie schon erwähnt, reicht es im Laufe der Handlung manchmal, nur einen Hinweis fallen zu lassen, welcher der Phantasie der Leser die Sporen geben soll. Diese Hinweise sind ohne Frage herausfordernd. Ob eine zweite Lektüre dem Buch auf der emotionalen Ebene mehr Tiefe gibt, muss jeder selbst entscheiden. Im direkten Vergleich zum zweiten Roman “Titans Kinder”, basierend allerdings auf einer vorher verfassten Novelle/ Kurzgeschichte, wirkt fast alles in “Neongrau” greller, provokanter und damit auch ein wenig künstlicher. Die zwischenmenschlichen Dramen überzeugen in “Titans Kinder” deutlich mehr, wobei es bei dem im zweiten Roman angesprochenen Grundthema inklusive einer kleinen isolierten Gemeinschaft auch sehr viel leichter ist. 

Für Aiki Mira spricht, dass sie eigene Wege geht. Sowohl im sozialen Bereich ihrer Charaktere wie auch in der Auseinandersetzung zwischen dem Establishment und den natürlich den Lesern eher sympathischen Außenseitern der zusammengebrochenen ehemaligen ersten Welt.. Zusätzlich konzentriert sie sich in Bezug auf die Handlungstechnik auf einen roten Faden in einer außer Kontrolle geratenen Gesellschaft kurz vor dem Ereignis des Jahres, den sie konsequent zu Ende denkt. Um das Korsett der Handlung entwickelt sie ihre Welt so bizarr, aber auch so herausfordernd, das die Szenerie mehr und mehr ein Eigenleben bildet und in weiteren Romanen auch ausbaufähig wäre. Auf der emotionalen Ebene streift sie wie angesprochen zwar alle relevanten Themen der Gegenwart, aber auf eine andere Art und Weise. In diesem Punkt eilt sie dem Cyberpunk voraus, dessen Liebesbeziehungen sich meistens aus dem Niveau der tragischen “Film Noir” Geschichten mit Femme Fatales, einem emotional angegriffenen Protagonisten und meistens einer Art weiblichen Samuraikrieger als Retter in jeglicher Not mit Internetkenntnissen bewegte.    

Auf eine angenehme und nicht belehrende Art und Weise polarisiert Aiki Mira auch. Sie beschreibt - neben den Vorurteilen gegenüber Minderheiten aus der Gegenwart in die Zukunft übertragen - auch die Idee einer deutlich verstärkten Pluralität innerhalb der Sozialgemeinschaft, ohne dass die Akzeptanz von Minderheiten so zu einer Art Gängelung der Mehrheit wird.  Die verschiedenen gendergerechten Formulare und die in keinem Verhältnis zum Ertrag stehenden Kosten seien hier stellvertretend genannt. Der Weg ist das Ziel. Das gilt für die Zukunft wie auch die Gegenwart. 

Es sind einige Wege zu beschreiten. Nicht jeder Pfad wird klar definiert. Die virtuellen Erfahrungen vor allem in der Spielewelt spiegeln sich klar in der dunklen, trüben Gegenwart wider. Der Held wird wieder zum Zwerg, wenn er das Headset absetzt. Aber der Zwerg kann im übertragenen Sinne auch nur zu einem Helden immer auf Zeit werden, wenn er die Erfahrungen einbringt, die er zu seinem Leidwesen im Diesseits machen musste. Daher verzichtet Aiki Mika auch auf heroische, überdimensionale und eindimensional charakterisierte Figuren. Ihre Protagonisten sind vielleicht durch ihren Slang und ihr Verhalten für jüngere Leser griffiger und interessanter als für die Älteren. Vieles wirkt natürlich fast übersteigert, zu sehr auf den Moment hin dramatisiert. Aiki Mira will nicht zuletzt dank des hohen Tempos, der verschiedenen zusammenlaufenden Ereignisse und durch die verschiedenen “Welten”, in denen sich Teile des Plots alternierend abspielen,  eine Art literarischen Overkill erzeugen. Nicht unbedingt um ihrer selbst Willen als Debütantin, sondern als eine originelle und originale literarische Schöpfung. Natürlich wäre weniger mehr, aber wer in seinem Debütroman nicht kontinuierlich auf das literarische Gaspedal drückt und den vorhandenen Ambitionen freien Lauf lässt, ist kein richtiger Schriftsteller.  

“Neongrau” ist vielschichtiger,  als es die Inhaltsangaben vermuten lassen. “Neongrau” ist keine leichte Lektüre, aber das waren alle guten Science Fiction Romane nicht. Aiki Mira erzählt die Geschichte mit  einem hohen, vielleicht an einigen Stellen sogar zu hohem Tempo. Viele  Leser werden “Titans Kinder” als die interessantere Story empfinden, aber damit wird man Aiki Mira und ihrer Intention  nicht gerecht. Aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen in der Gamer Community fühlt sich die Autorx in der Welt von “Neongrau” sicherlich wohler, auch wenn “Titans Kinder” sehr viel ambitionierter und vor allem emotional überzeugender ist. Beide Romanen zeigen die mögliche Bandbreite in Aiki Miras zukünftigen Schatten und unterstreichen, dass sie in keine Ecke gehört, sondern in der Mitte  der experimentellen deutschsprachigen Science Fiction zukünftiger Jahre angekommen ist.  Mit viel Platz zu beiden Seiten.   



Neongrau: Game over im Neurosubstrat

  • Herausgeber ‏ : ‎ Polarise; 1. Edition (8. Dezember 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Broschiert ‏ : ‎ 520 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3949345280
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3949345289