Die Stadt der unaussprechlichen Freuden

Michael Siefener

2010 erschien in der Edition Phantasia mit Michael Siefeners „Die Stadt der unaussprechlichen Freuden“, illustriert von Heinrich Kleis – beide haben auch die limitierte Ausgabe signiert – eine weitere dieser verschachtelten Geschichten, in denen vor allem die lange Zeit unbeteiligten Beobachter nicht wissen, ob sie die Realität, eine verzerrte Art der Wahrheit oder den Wahnvorstellungen des allgegenwärtigen und doch niemals präsenten Julian folgen.

Julian ist ein klassischer Siefener Charakter. Introvertiert; durch eine gescheiterte Beziehung in seinem tiefsten Inneren verunsichert; in einem Job gefangen, den er hasst und von seinen  Kollegen als exzentrischer Außenseiter gebrandmarkt. „Erlösung“ finden Siefener Protagonisten nur in der Literatur, in der Welt der Bücher. Während seiner Mittagspause trifft er in einer nahen Buchlandung auf Alexandra, die auch ein  Interesse an okkulter und ungewöhnlicher Literatur hat. Das ihm verkaufte Buch erweist  sich als Fehldruck, eine zweite Geschichte scheint darin verborgen zu sein.

Michael Siefeners Novelle ist als Geschichte in einer Geschichte basierend auf den „realen Erlebnissen“ eines vor mehr als einhundert Jahren verschwundenen Mannes aufgebaut. Es ist Absicht, das der erste Hinweise absichtlich als Fehldruck in einem gängigen Buch platziert worden ist. Neue Opfer auf der Suche nach der Stadt innerhalb der Stadt, dem Ort der unaussprechlichen, aber damit auch ambivalent und zweideutig interpretierenden Freuden müssen angelockt werden. Wie bei vielen von Michael Siefeners Geschichten ist eher der Weg das Ziel, das Ende der Reise bleibt nicht selten im Verborgenen und spricht in erster Linie dessen gebrochene Protagonisten an, während der Leser staunend, verblüfft, schockiert in die eigene Realität entlassen wird, mit welcher die Außenseiter in Siefeners inzwischen umfangreichen Werk nichts anfangen konnten und weiterhin können. In „Der Ballsaal auf der dunklen Seite des Mondes“ hat Michael Siefener diese Art der Selbstfindung  und damit auch Befreiung von einer belastenden Realität auf die romantisch liebevolle Spitze getrieben. In „Die magische Bibliothek“ ist die Jagd nach den seltenen Büchern dagegen noch Teil eines perfiden Plans, der einem Film Noir ebenbürtig ist. „Die Stadt der unaussprechlichen Freuden“ ist irgendwo dazwischen platziert.

 Alexandra sucht den mit ihr befreundeten Antiquar Bernd auf. Ihr Freund Julian ist verschwunden, hat ihr aber vorher eine Nachricht hinterlassen. In seiner Wohnung und auf seinem Computer finden sich Hinweise auf seinen jetzigen Aufenthaltsort.  Es ist ein Videotagebuch, was für Michael Siefeners in der Gegenwart spielende, aber positiv gesprochene Pathos der Vergangenheit tragenden Novellen und Romane ungewöhnlich ist. Selbst in „Der Ballsaal auf der dunklen Seite des Mondes“ kommen sich die Liebenden mittels einer Kontaktanzeige in der Zeitung und Briefen näher und bleiben sich lange Zeit so unendlich fern.

Julian beschreibt die durch seinen Kauf in Alexandras Buchhandlung initiierte Suche nach weiteren Fragmenten. In dieser Geschichte ist es ein Reinhold – reich, aber einsam - , der das im Eigendruck verlegte Sachbuch eines verschwundenen Autoren liest und dessen Spuren durch den Moloch Großstadt auf der Suche nach der „Stadt der unaussprechlichen Freuden“. Die einzelnen Fragmente sind wiederum in Romanen versteckt, deren Titel aus Michaele Siefeners eigenem Oevre stammen. Nur die Autorennamen sind anders.

Bernd und Alexandra verfolgen die Geschichte über Julians subjektive Aufzeichnungen. Die drei Bücher mit den Fragmenten sind in Julians Wohnung versteckt. Zwischen den einzelnen Video Tagebucheinträgen lesen die beiden Freunde  stellvertretend für die Leser diese Passagen. A, Ende fügen sich nicht nur die Fragmente aneinander,  stehen aber auch in einer Beziehung zu Alexandra wie auch dem Antiquar Bernd.

Über weite Strecken wirkt Julians Suche nach einem perfekten Ort verstörend. Er zeigt die dunkle Seite der Stadt mit den Wohntürmen und vor allem auch dem Dreck auf. Wie bei einer Origami Schachtel handelt es sich bei diesen ersten Beschreibungen nur um die Oberfläche, denn auch Reinhold ist genau dieser Gewalt und dieser Unmenschlichkeit in seiner Suche nach der Stadt der unaussprechlichen Freuden begegnet. Im Gegensatz zu Julian verfügte Reinhold allerdings mit dem Eigendruck über einen vollständigen Ratgeber, dessen Ende offener ist als Julians Tagebuch. Der Technik sei Dank. So offenbart jede Suche weitere Informationen, bis am Ende Bernd und Alexandra wissen, dass dieser Ort nur eine Illusion ist, eine weitere Verführung der emotional schwachen Menschen in einer Großstadt.

Michael Siefener hat die Novelle perfekt aufgebaut. Wie ein roter Faden ziehen sich einzelne Begegnungen durch die Geschichte. Die drei Schläger, welche die Protagonisten jeweils auf ihren Ebenen angreifen. Die Flucht mit dem nicht abgeschlossenen Fahrrad bzw. in der ersten Geschichte zu Fuß durch die engen Gassen.

Die einzelnen Katastrophen, welche die Eckpfeiler der Suche bilden. Dass sie ein Kreuz bilden, wird dem Leser schneller klar als den einzelnen Figuren und vor allem gehört diese Nutzung christlicher Symbole schon in den Bereich des Klischees. Von den unangenehmen, aber nicht expliziten Szenen auf dem Schlachthof – auch hier schlägt Michael Siefener einen Bogen zwischen den einzelnen Aufzeichnungen – zu der Brandkatastrophe im Kino; von der aus Neid initiierten Explosion in der örtlichen Munitionsfabrik bis zu den wahnsinnigen Tagen eines Massenmörders. Die einzelnen Szenen wirken routiniert und vor allem überzeugend zusammengebaut und zu den Stärken der Geschichte gehört, dass nichts zufällig passiert und trotzdem nicht konstruiert oder absichtlich gewollt erscheint.

Michael Siefeners Geschichten zeichnet eine dreidimensionale Charakterisierung seiner Protagonisten aus. In “Die Stadt der unaussprechlichen Freuden” ist die Beziehung zwischen Julian, Alexandra und Bernd elementar. Lange Zeit konzentriert sich der Autor fast ausschließlich aus Julians seltsamer Sichtweise auf die beginnende Zuneigung zwischen dem einsamen Julian und der Buchhändlerin Alexandra, die zwar über einen großen Freundeskreis verfügt, in deren Seele aber die meisten ihrer Freunde oder Bekannten nicht hineinschauen können. Der Begriff der Seelenverwandtschaft ist immer nahe am Klischee gebaut, aber aus Julians Sicht mit der entsprechenden Freude, aber auch der Angst vor einer erneuten Enttäuschung passt es sogar. Alexandra mag Julian,vielleicht liebt sie ihn auch. Bernd dagegen empfindet viel für Alexandra. Das wird während ihrer gemeinsamen Betrachtungen der Aufzeichnungen deutlich, auch wenn Bernd seine Emotionen hinter der Abneigung gegenüber Julian, aber auch einer zynischen Fassade verbirgt. Auf der emotionalen Ebene ist es ein Stillleben von innerlich unzufriedenen, rastlosen Menschen, wobei Bernd als einziger für seine Taten abschließend Verantwortung übernimmt und sich fatalistisch “opfert”, weil er weiß, dass sich seine Sehnsüchte nicht erfüllen werden. Alexandra verliert im Laufe der Geschichte an Format, Julian scheint sie förmlich unbewusst zu erdrücken und für sie als Frau ist es schwer zu verstehen, dass ein Ort, eine imaginäre Stadt wichtiger als eine lebendige Beziehung sein kann. Julian ist ein ängstlicher Träumer, der überall Feinde sieht. Die meisten Passagen sind aus seiner subjektiven Sicht erzählt und der Leser muss diese Prämissen akzeptieren, damit die obsessive Suche nach der “Stadt der unaussprechlichen Freuden” überzeugend bleibt. Beim gelangweilten Reinhold ist es ein besonderes Buch, das seine Neugier weckt. Im Grunde wird er förmlich angelockt, verführt, aus seinem bisherigen Leben auszubrechen, während Julian vom ersten Moment in der Stadt nach Rettung in welcher Form auch immer gesucht hat.. 

Heinrich Kleis expressionistische Zeichnungen begleiten die verschachtelte, aber faszinierende Geschichte perfekt. Der Zeichner gibt die Stimmungen in Michael Siefeners Text überzeugend wieder, unterstreicht die morbide Atmosphäre im Moloch Großstadt und macht die Menschen zu einer gesichtslosen, gleichgeschalteten Masse, der Julian zu entkommen sucht. 

“Die Stadt der unaussprechlichen Freuden” ist ein klassisches Michael Siefener Kleinod, eine perfekte H.P. Lovecraft Hommage mit kafkaschen Zügen sowie einem abgeschlossenen und doch weit offenen Ende. Mit viel Freude hat der Autor die vielschichtige Handlung montiert, lässt sie auf unterschiedlichen Ebenen - alle werden dem Leser auf verschiedene Art und Weise vermittelt - labyrinthisch ablaufen.        

 

Michael Siefener: Die Stadt der unaussprechlichen Freuden

Michael Siefener
DIE STADT DER UNAUSSPRECHLICHEN FREUDEN

2010
Mit Illustrationen von Reinhard Kleist
Einmalige Auflage von 250 nummerierten, von Autor und Illustrator handsignierten Exemplaren, Leinen mit Schutzumschlag, im Samtschuber
ISBN 978-3-924959-83-8
158 Seiten, 65,00 Euro

Kategorie: