Matrosengeschichten

Karl Heinrich Ulrichs

In der Bibliothek rosa Winkel ist mit „Matrosengeschichten“ ein Sammelband mit den insgesamt vier phantastischen Geschichten Karl Heinruch Ulrichs erschienen, die er Ende des 19. Jahrhunderts im italienischen selbst gewählten Exil verfasst hat. Zusätzlich finden sich in der Anthologie neben bibliographischen Ergänzungen einige seiner Liebesgeschichte, so wie einzelne Artikel und Reden, mit denen Ulrichs füre freie, in seinem Fall homosexuelle Selbstbestimmung der Menschen des Menschen argumentiert hat.

 Mit seinen „Forschungen über das Räthsel der mannmännlichen Liebe“ ist Ulrich (1825 bis 1895)  zum ersten Theoretiker der Sexualität im Allgemeinen, aber auch der homosexuellen Liebe geworden. Viele seiner Ideen sind später von bekannteren Sexualforschern übernommen worden, bevor die Wissenschaft Hinrichs den entsprechenden Platz einräumte. Anlässlich einer Ausstellung und seines einhundertsten Todeszeit ist dieses Bändchen erschienen.

 Von den vier veröffentlichten Geschichten bauen „Sulitelma“ und „Atlantis“ aufeinander auf. Lars Dangel hat Sulitelma in zwei seiner Anthologien veröffentlicht.

 „Sulitelma“ ist ein homoerotische Geschichte; eine Variation von Kain und Abel in Form von Schwester und Bruder; eine nordische Variation des fliegenden Holländers in Form des nicht selten an Wolken erinnernden Sturmschiffs und schließlich eine am Rande des Kitsches sich entwickelnde tragische Dreiecksliebesgeschichte. Fügt der Leser dann noch die Legende vom Doppelgänger, vom abgetrennten Schatten hinzu, dann er erahnen, wie komplex diese Geschichte ist. Wenn am Ende noch eine Variation von Schneewittchen in einer Eishöhle hinzukommt, dann ahnt der Leser, welchen weiten Bogen Karl Heinrich Ulrichs aus dem Nichts heraus geschlagen hat. 

Zwei Kinder warten in einer stürmischen Nacht auf das Sturmschiff, eine Legende. Das Schiff besteht aus Eis. Es kommt immer nur im Winter, im Sommer bleibt es im Hohen Norden, in Sulitelma. Der Junge kommt an Bord. Er verliebt sich in das Crewmitglied Hansen, der anscheinend die Gefühle erwidert. Als er von Bord fällt, sucht er verzweifelt nach einer Chance, wieder an Bord des Sturmschiffs zu gelangen, ohne in seiner knabenhaften Naivität zu ahnen, dass inzwischen auch seine Schwester ein gesteigertes Interesse an Hansen hat.

 Stilistisch intensiv und am Rande der gesellschaftlichen Provokation hat Karl Heinrich Ulrichs auf literarisch kleinstem Raum eine ausgesprochen interessante, die schon angesprochenen Elemente auf eine tragisch spielerisch verbindende Sozialstudie verfasst. Die Fortsetzung „Alantis“ wird sich anders entwickeln als in den verfügbaren Fußnoten zu „Sulitelma“.

 Die Gefühle zwischen dem Knaben und Hansen werden relativ offen angesprochen. Seine Schwester muss mit eifersüchtiger Blindheit geschlagen worden sein. Aber ohne diese tragischen Elemente vor dem Hintergrund der Legende funktioniert die Geschichte nicht – ein phantastisches Kleinod, aus der homosexuellen Perspektive des Erzählers gleichzeitig verspielt wie provozierend geschrieben.

 „Atlantis“ setzt handlungstechnisch an „Sulitelma“ an. Während bei „Sulitelma“ aber die nordischen Sagen eine wichtige Rolle spielen, konzentriert sich die zweite Geschichte auf den Atlantis Mythos und in keinem wirklichen Zusammenhang die Geschichte des Phoenix aus der Asche. Hansen bittet noch den Erlebnissen mit den beiden Geschwistern um Urlaub. Neun Tage werden ihm gewährt. Zusammen mit drei Kameraden reist er zum legendären Kontinent Atlantis, wo Hansen die Liebe der Mondgöttin Luna ablehnt, aber sich in der Waldnymphe Silvia verliebt. In „Sulitelma“ begehrte Hansen den Knaben, dieser erwiderte die Gefühl Hansen auf eine noch platonische  und Weise. Diese Bi- Sexualität in dieser sehr verkitschten Atmosphäre wird zu wenig herausgearbeitet. Die Protagonisten der ersten Geschichte spielen im Grunde keine wichtige Rolle, sie werden zu Beginn nur kurz erwähnt. Leser, die nur „Atlantis“ zur Verfügung haben, werden mit den in „Sulitelma“ interessant angelegten Figurenkonstellationen und ihren überfließenden Gefühlen wenig anfangen können.

Allerdings übernimmt Ulrichs das Motiv des Verrats durch die eifersüchtige Frau. In diesem Fall ist es die Mondgöttin Luna, die Hansen an den Kommandanten des Wolkenschiffs verrät, das sich erstaunlicherweise gegenüber der ersten Geschichte auch ein wenig gewandelt hat. Mittels Flügelschuhen wie bei Hermes können die Matrosen fliegen und das Schiff begleiten. Die Disziplin ist deutlich strenger und die beiden Mannschaftsteile sind keine Freunde mehr.

 Verklärend beendet Ulrichs die Geschichte mit dem im Off stattfindenden Untergang Atlantis und der traurigen Rückkehr des Phoenix, nach seiner letzten Wiederauferstehung aus der Asche. Die Liebesgeschichte zwischen Hansen und Silvia wird emotional ein wenig kitschig und unbeholfen beschrieben, sie steht aber wie schon angesprochen in einem starken Widerspruch zu der nicht nur emotional überzeugenderen und originellen ersten Geschichte „Sulitelma“.

 „Manor“ und „Der Mönch von Sumbö“ spielen im Hohen Norden, während „Sulitelma“ Elemente nordischer Sagen genutzt hat. „Manor“ ist die Liebesgeschichte eines Matrosen zu einem Knaben, den er vor dem Ertrinken gerettet hat. Als Manor selbst in den Fluten ums Leben kommt, wird er zu einem Untoten, zu einem Vampir, um die platonisch beschriebene Liebesbeziehung fortzusetzen. Karl Heinrich Ulrichs nutzt alle Elemente des Vampirgenres inklusive der Scheu vor Tageslicht; der Pfählung und schließlich auch dem lebendig wirkenden Leichnam in seiner Gruft. Manor setzt sich über die Einwohner des Dorfes hinweg. Anscheinend kann er auch dem Pfahl im Herzen widerstehen, wobei alle Ereignisse dieser Geschichte aus einer neutralen Sicht beschrieben werden. Niemand weiß, ob Manor wirklich ein Untoter geworden ist. Alle Zeichen inklusive des immer schwächer werdenden Knaben sprechen dafür. Das Ende ist auf der einen Seite vielleicht das am meisten optimistische Ende dieser vier Geschichten, auf der anderen Seite natürlich tragisch. Wahre, lang andauernde Liebe gibt es für Ulrichs Protagonisten nicht.

 „Der Mönch von Sumbö“ ist ein Felsen. Dort soll eine Wassernixe hausen. Zwei Freunde lernen sie auf unterschiedliche Art und Weise kennen. Es kommt zu einem Konkurrenzkampf zwischen den beiden jungen Männern, von denen der eine mit einer jungen Frau liiert ist und es seinem Nebenbuhler nicht gönnt, während der andere auf Brautschau vorher vom Weg abgekommen ist und deswegen der Nixe begegnete. Das Ende ist konsequent, melodramatisch und gleichzeitig auf eine irritierende Art und Weise auch schön.

 Die Hintergründe dieser kurzen Geschichten sind ausgesprochen gut herausgearbeitet worden. Neben der schon angesprochenen nordischen Sagenwelt nutzt Ulrichs örtliche Schönheiten. Alle vier Geschichten sind in Italien niedergeschrieben worden, das Herz des Autoren hängt aber unverkennbar am Hohen Norden, nicht mal seiner ostfriesischen Heimat. Die tragischen jugendlichen Charaktere sind vielleicht manchmal ein wenig distanziert, gestelzt beschrieben worden, aber die Sehnsucht nach einer wahren Liebe – erstaunlicherweise bleibt Karl Heinrich Ulrichs ambivalent, auch wenn die homosexuellen Beziehungen intensiver und emotionaler beschrieben worden sind – ist der Kerngedanke jeder dieser vier auch heute noch lesenswerten und eine Flanke der frühen Phantastik zeigenden Kurzgeschichten.

 Im zweiten Abschnitt stellen die Herausgeber Karl Heinrich Ulrichs Lyrik in den Mittelpunkt. Die meisten der Gedichte sind um die zwanzig Jahre vor den Kurzgeschichten entstanden. Das Spektrum ist breit. Am Intimsten sind die Liebesgedichte, die Ulrichs einem bestimmten Mann gewidmet hat. In diesen Text macht er auf seinem Herzen keine Mördergrube und beschreibt vor allem neben der Liebe auch das Leid, das er als Autor erfahren hat. Andere Texte basieren auf den nordischen Wurzeln, welche das Herz seiner Kurzgeschichten bilden. In der Geschichte geht Ulrichs bis zum Kaiser Hadrian zurück, dem er ein langes Epos gewidmet hat. Auch die beseelte Natur finden sich in einzelnen Texten wieder. Sowohl von der Lyrik wie auch der Metrik sehr unterschiedlich vereinigen sich in diesem Kapitel kleinere Verse, wohl ausformuliert und die angesprochenen Epen.

 Vergleicht ein Leser die Gedichte mit den vier später entstandenen Kurzgeschichten, dann zeigt sich, dass Karl Heinrich Ulrichs im Grunde mit den vier Storys nur eine andere Art der Ausdrucksweise gewählt hat. Die genauen Naturbeschreibungen; die Stimmungen und schließlich die Themen kehren unabhängig von der Form immer wieder.     

 Im letzten Abschnitt „Politik und Bekenntnisse“ vermischen sich einzelne persönliche Anmerkungen mit der damaligen homosexuell feindlichen Politik. Karl Heinrich Ulrichs versucht seine Gedanken vor dem Coming Out auf dem deutschen Juristentag zu ordnen. An einer anderen Stelle findet sich die verquere Rechtslage in Hannover, die aus einer gegenseitigen Liebe zwischen zwei Männern ein strafbares Vergehen macht. In weiteren Gedichten versucht Karl Heinrich Ulrichs den gesellschaftlichen Widerspruch genau wie den inneren Kampf gegen die Zweifel einer Provokation/ Aufklärung der Öffentlichkeit in Kombination mit dem Kampf für die sexuelle Gleichberechtigung in Versform zu binden.

 Am Ende findet sich ein langer Eintrag aus dem biographischen Lexikon für Ostfriesland, in dem Hubert Kennedy Karl Heinrich Ulrichs Leben und Wirken sehr gut zusammenfasst. Ein würdiger Abschluss.

 Aus phantastischer Hinsicht sind die vier Kurzgeschichten inhaltlich etwa fünfzig Prozent des Buches. Die beiden zusammenhängenden Geschichte um Harald und sein Leben auf einem eisigen fliegenden Holländer stehen in einem starken Kontrast zu einer inhaltlich aber interessanten Vampirgeschichte sowie der Verführung aufrechter junger Männer durch eine Wassernixe. Oder der eigenen Gier. Alle vier Geschichten sind sprachlich kompakt, atmosphärisch stimmungsvoll und vor allem „Sulitelma“ ist voller Anspielungen und Querverweisen, dass es eine Freude macht, die Geschichte entweder in dieser kleinen Sammlung oder den zwei von Lars Dangel zusammengestellten Anthologien nach mehr als einhundertdreißig Jahren wieder lesen zu können.     

Matrosengeschichten und Gedichte: Ein Lesebuch (Bibliothek rosa Winkel)

 Herausgeber ‏ : ‎ Männerschwarm Verlag, Salzgeber Buchverlage GmbH (1. Januar 1998)
Sprache ‏ : ‎ Deutsch
Sondereinband ‏ : ‎ 160 Seiten
ISBN-10 ‏ : ‎ 3861490706
ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3861490708