Der Heyne Verlag legt Octavia Butlers 1993 geschriebenen Roman „Die Parabel vom Sämann“ wieder als neu übersetzte Paperback Ausgabe vor. Gleichzeitig übersetzt der Verlag zum ersten Mal den zweiten Teil der nicht abgeschlossenen Trilogie „Die Parabel der Talente.“ In den USA erschien das Buch 1998.
Octavia Butler hat einen dritten Band „Parable of the Trickster“ angefangen. Anschließend sollte eine zweite Trilogie folgen. Aufzeichnungen und verschiedene Romanafänge finden sich in der Huntington Bibliothek. Ab einem bestimmten Punkten litt die Autorin unter einer Schreibblockade und konnte die Arbeit nicht abschließen. Erst Jahre später sollte sie 2005 mit „Fledgling“ noch einen Roman veröffentlichen.
„Die Parabel vom Sämann“ ist 1994 von der New York Times in die Liste der bemerkenswerten Bücher des Jahres aufgenommen und 1995 für den NEBULA AWARD nominiert worden. Der zweite Teil der Trilogie erhielt später diesen Preis. Bemerkenswert ist, dass „Die Parabel vom Sämann“ der einzige von Octavia Butlers Büchern gewesen ist, der sich auf der New Yorker Bestsellerliste wiederfand. Allerdings angesichts der Paperback Neuauflage siebenundzwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung und vierzehn Jahre nach dem frühen Tod der Autorin 2006 an der Folge eines Sturzes.
Im gleichen Jahr – 2020- ist der Roman als Comic adaptiert worden. Vorher hat der amerikanische Folk und Bluesmusiker schon versucht, den Roman als Oper zu präsentieren.
Im ersten Band der Serie finden sich ausgesprochen viele Ideen, die Octavia Butler auch schon in ihrem „Wilde Saat“ – dem vierten Roman ihrer „Patternist“ Serie, der chronologisch allerdings der erste ist - vor einem weniger futuristischen Hintergrund durchgespielt hat. Dazu kommen aber heute noch aktuellere Themen als während der neunziger Jahre, als Octavia Butler mit der Serie begonnen hat: soziale Ungerechtigkeit durch eine extreme Verschiebung der Vermögensverhältnisse; unwirtliche klimatische Verhältnisse; dominierende Konzerne und eine politisch zerfallene USA mit einem opportunistischen wie egozentrischen Präsidenten. Die USA sind von Kanada im Norden und impliziert Mexiko im Süden durch Grenzmauern abgeschnitten, die eine Flüchtlingswelle aus den USA heraus verhindern sollten.
Der Roman beginnt im Jahre 2024 und wird fast ausschließlich in Tagebuchaufzeichnungen der jugendlichen Protagonisten Laura erzählt. Dabei greift Octavia Butler trotzdem auf ausführliche Dialoge und entsprechende Hintergrundbeschreibungen zurück. Lauren ist eine junge farbige Frau mit der besonderen Fähigkeit der Empathie, welcher ihr strenger Vater vor der Öffentlichkeit zu verstecken sucht. Sie kann Gefühle und Schmerzen anderer Menschen körperlich spüren. Diese Fähigkeit hat allerdings natürliche Grenzen, so kann sie einen Menschen töten, ohne dabei selbst „verletzt“ zu werden. An einigen Stellen nennt Octavia Butler diese Fähigkeit „Sharing“, eine Idee, die sie später in ihrem letzten Roman „Fledging“ mit einer Vampir Thematik noch einmal aufgreifen sollte. In „Wilde Saat“ verfügt die deutlich ältere, ebenfalls farbige Protagonisten ebenfalls über übernatürliche Fähigkeiten, wobei dessen Protagonist Anyanwu über besondere Heilkräfte verfügt und sich mit Einschränkungen in einen anderen Menschen bzw. ein Tier kurzzeitig verwandeln kann. Der Unterschied liegt in den Wurzeln ihrer besonderen Fähigkeiten. Bei Anyanwu scheint es sich um eine natürliche Mutation zu handeln; die Vorstufe einer neuen Art der menschlichen Rasse. Laurens Mutter hat während der Schwangerschaft mit verschiedenen Drogen experimentiert. Ihre besonderen Fähigkeiten müssen sie erst zu kontrollieren lernen, wobei Laura diese Empfindungen eher passiv durchlebt. Beide Frauen sind afrikanischer bzw. afro- amerikanischer Herkunft, wobei „Wilde Saat“ in Afrika spielt, während Laurens Heimat Robledo in Kalifornien ist, zwanzig Meilen vom Moloch Los Angeles entfernt.
Beide Frauen sind Außenseiter in ihren jeweiligen Gemeinden. Anyanwu hält sich in einer der Zuchtanstalten Doros lange Zeit auf- einem kleinen unscheinbaren Dorf in der afrikanischen Savanne.. Laura in einer kleinen Siedlung mit elf Häusern, die durch eine Mauer von den wirtschaftlich in die Primitivität zurückgelassenen USA getrennt aufwächst. Im jeweiligen Verlauf der Romane werden diese Schutzburgen fallen.
Die erste Hälfte des Romans „Die Parabel vom Sämann“ nimmt eine ausführliche Beschreibung Laurens Hintergrunds ein.
Lauren wächst in der angesprochenen umzäunten und von den Mitgliedern bewachten Community in der Nähe von Los Angeles auf. Die Wirtschaft der USA ist zusammengebrochen, nur noch Menschen mit einem Collegeabschluss finden einen bezahlten Job. Die meisten sind entweder arbeitslos und versuchen mit Diebstählen/ Überfällen zu überleben oder sie versklaven sich freiwillig bei den großen Firmen mit Arbeit gegen Lohn, aber keinen Lohn mehr. Lebensmittel inklusive Trinkwasser sind unglaublich teuer; Polizei und Feuerwehreinsätze muss derjenige bezahlen, der sie ruft. Außerhalb der Siedlung gibt es Slums mit Verbrechern. Durch die Straßen fahren die Mitglieder der Community mit Fahrrädern - funktionierende Autos gibt es nicht - nur in Gruppen und schwer bewaffnet. Laurens Vater ist ein Baptistenprediger, der sowohl seiner einzigen Tochter wie auch ihren Brüdern neben einem starken Glauben auch viele Tipps zum Leben/ Überleben in diesen anarchistischen Zeiten mitgegeben hat. Lauren ist trotzdem der festen Überzeugung, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Siedlung überrannt und alle Bewohner getötet werden.
Handlungstechnisch ist dieses Szenario keine Überraschung und zwingt Lauren auf die für Octavia Butlers Werk nicht seltene Quest. Von “Wilde Saat” bis “Fledgling” haben vor allem ihre Frauencharaktere immer aus einem Beutel, einem Koffer und vielleicht einem Rucksack gelebt, während sie entweder durch ein unwirtliches Land fliehen mussten oder auf der Suche nach einem besseren Ort in chaotischen Zeiten waren. Lauren bestätigt diese Regel.
Vorher beschreibt die Autorin das alltägliche Leben in dieser Siedlung. Resourcen müssen vorsichtig behandelt werden, selbst Waffen und Munition sind ein seltenes Gut. Die Gemeinschaft versucht, sich gegenseitig zu helfen, auch wenn immer wieder ein gewisses opportunistisches Misstrauen gegenüber den nächsten Nachbarn besteht. Trotzdem wächst Lauren relativ behütet auf, auch wenn ihr Bruder mit seinen Geschäftsaktivitäten außerhalb der Community als erstes Opfer unterstreicht, wie gefährlich das Leben dort draußen nicht nur mit den Menschen, sondern auch räuberischen Hundebanden ist.
Octavia Butler arbeitet hier mit Extremen. Viele Szenen sind unangenehm realistisch. Corman Mccarthys “The Road” ist ähnlich realistisch- nihilistisch aufgebaut und schreibt Octavia Butlers Post Doomsday Version vermischt mit dem Mad Max Irrsinn der späteren Filme auf die brutale Spitze getrieben fort. Aber Octavia Butler war deutlich vor McCarthys “The Road” und zeigt nicht selten bis in die kleinsten Details durchgeplant auf, wie fragil diese kleine Gemeinschaft in einem Meer der Irrsinnigen ist. Dabei gelingt es ihr, den einzelnen Nebenfiguren in wenigen Sätzen individuelle Züge zu verleihen, so dass der Leser - vor allem während des dramatischen Überfalls - mit den einzelnen Figuren fühlen kann.
Lauren ist dabei eine der pragmatischen Heldinnen mit vielen Schwächen, aber auch Stärken, die Octavia Butlers Werk so einzigartig machen. Ihre empathische Fähigkeit ist eher ein Stein um ihren Hals. Sie ist realistisch - sie will keine Kinder in dieses Chaos - setzen, aber auch ganz Frau, die aktiv schon in jungen Jahren Sex hat und in einigen Situationen weniger von ihrem Verstand als ihren Gefühlen - bei der Rettung einer kleinen Familie mit einem Baby - getrieben wird. Durch ihre Empathie und das Mitempfinden ist sie generell ein Außenseiter. Dank erzählerischer Tagebuchform ist der Leser ganz nahe an ihr dran, was in der zweiten, deutlich mehr religiösen Hälfte des Buches auch teilweise hinsichtlich der Objektivität ein wenig schwierig ist.
Quasi als Antwort auf die aus ihrer Sicht nicht befriedigenden Lehren ihres Baptistenpriestervaters hat sie schließlich die Idee einer Erdsaat Gemeinschaft entwickelt. Darauf bezieht sich abschließend auch der Titel des Buches, wobei der Begriff des Sämanns angesichts Laurens Initiative ein wenig falsch gewählt ist sowie der finale Absatz der Geschichte. Sie schreibt in ihr Tagebuch einige Psalme und versucht, ihre sich stetig größer werdende Wanderschaftsfamilie von ihrem Glauben zu überzeugen. Das sich während der Reise ein abgeschiedenes Ziel mit eigenem Wasser und einem leicht zu verteidigenden Zugang als das gelobte, aber auch herausfordernde Land erweisen könnte, steht auf einem anderen Blatt. Die Autorin arbeitet aber Laurens Motivation, einen eigenen Glauben zu erschaffen und damit sich ein wenig von ihrem verehrten Vater zu „befreien“, der sich für seine Gemeinde geopfert und schließlich wahrscheinlich auch für sie gestorben ist. Lauren ist weit von einer christlichen Rebellion entfernt, aber dieser Glaube ist eine interessante Basis für die nächsten Geschichten. Auch in der „Patternist“ Serie entwickelt Doro für die von ihm abhängigen Menschen eine Art Religion, die auf afrikanischen Mythen basiert. Im Laufe der fünf „Patternist“ Romane spaltet sich mit den über ein Metabewusstsein verfügenden Mutanten eine neue Art Mensch ab und entwickelt neben der angesprochenen Religion auch eine neue Sozialkultur, die schließlich in „Clay´s Ark“ – neben „Fledging“ der einzige nicht übersetzte Roman – auch zu den Sternen und damit einem anderen erdähnlichen Planeten getragen wird.
Octavia Butler versucht, mittels Lauren ihre Leser nicht zu bekehren. Auch einzelne Mitglieder der Gruppe sind weniger Lauren als ihrem Glauben gegenüber skeptisch eingestellt. Die Autorin zeichnet ein inzwischen gottloses Land mit dem „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ Prinzip. Vielleicht wirkt es ein wenig konstruiert, dass Lauren für ihre Gutherzigkeit nicht bestraft wird, aber das hätte den dunklen Ton des Romans wahrscheinlich endgültig in eine fatalistisch-pessimistische Geschichte umschlagen lassen. Octavia Butler sieht aber in ihrem ganzen Werk irgendwo immer einen Keim der Hoffnung, des Guten, der aber gehegt und gepflegt werden muss.
Wie angesprochen, ist der zweite Teil des Buches die obligatorische Quest. Nach der Flucht aus dem niedergebrannten Lager begeben sich Lauren und Harry gen Norden. Hier treffen sie auf verschiedene kleine Siedlungen, immer wieder Wegelagerer entlang der als Wanderwege von einigen Menschen benutzten Autobahnen und vergrößern ihre Gruppe fast widerwillig um unterschiedliche Menschen. Dabei muss Lauren immer wieder das eigene Misstrauen überwinden, wird aber angesichts ihrer Hilfsbereitschaft und vielleicht ihrer leicht durchschaubaren Verkleidung als Mann ebenfalls voller Misstrauen betrachtet.
Octavia Butler hat während dieser Wanderschaft einige spannende Szenen eingebaut. So gibt es eine Droge, welche die Menschen zu Pyromanen macht, die alles niederbrennen müssen. Natürlich verfolgen diese gelegten Brände die kleine Gruppe, wobei der Highway nur wenig Schutz gibt. Sie geraten in Hinterhalte, wo sie sich ihrer Haut wehren müssen und jeder von Lauren getötete Mensch verursacht ihr selbst stärkste körperliche Schmerzen. Überwindung in doppelter Hinsicht. Innerhalb der Gruppe gibt es unterschiedliche Fraktionen, wobei die Autorin vor den letzten Schritt – Verrat oder heimtückischer Mord – zurückschreckt. Es kommt zwar keine Frontier Romantik auf, aber einem modernen Western mit verzweifelten Aussiedlern auf der Suche nach einem Stückchen hart zu bearbeitenden Land kommt „Die Parabel vom Sämann“ in ihrem Werk am Nächsten.
„Die Parabel vom Sämann“ funktioniert sehr gut als alleinstehender Roman. Das Ende der Geschichte wäre in dieser Form zufriedenstellend. Die Zeichnung der Charaktere ist - wie bei allen Romanen Octavia Butlers - überdurchschnittlich und der pessimistische prophetische Blick auf die in die Primitivität zurückgefallene USA sehr konsequent. Arbeit ist nichts mehr Wert, die großen Konglomerate üben sich in einer modernen Sklaverei; die Klimakatastrophe hat viele Teile des Landes unbewohnbar gemacht, auch wenn die Amerikaner in Form einer Marsmission immer noch nach anderen Planeten greifen. Diese technischen Exkurse wirken angesichts des alltäglichen Überlebenskampfs fast bizarr. Das Leben ist zu einem alltäglichen (Überlebens-) Kampf geworden und die unangenehm realistischen Beschreibungen wirken heute aktueller als in den neunziger Jahren, als Octavia Butler diesen empfehlenswerten, aufrüttelnden und nachdenklich stimmenden Roman niedergeschrieben hat.
- Herausgeber : Heyne Verlag; Neuausgabe Edition (12. Juli 2023)
- Sprache : Deutsch
- Broschiert : 448 Seiten
- ISBN-10 : 3453534921
- ISBN-13 : 978-3453534926
- Originaltitel : Parable of the Sower