Amos Kilbright

Frank R. Stockton

„Amos Kilbright“ ist der Name des ungewöhnlichen Protagonisten, eines auf eine etwas andere Art und Weise aus der Zeit gefallenen Menschen, der im Mittelpunkt dieser kurzen, am Ende auch zu kurzen Novelle von Frank R. Stockton steht.

 Lars Dangel hat den Text für die Edition Dornbrunnen vor dem Vergessen bewahrt und mit einem lesenswerten Nachwort ausgestattet. Es lohnt sich, mit dem Nachwort inklusive der wenigen vorherigen deutschen Veröffentlichungen zu begonnen, damit ein Leser die Geschichte auch in das Gesamtwerk Frank R. Stocktons einordnen kann.

 Der 1834 geborene Stockton konnte sich erst nach dem Tod seines Vaters der Schriftstellerei widmen. Dieser lehnte diese Art von Broterwerb ab, so dass Frank Richard Stockton als Graphiker zuerst bekannt geworden ist. neben humoristischen Kurzgeschichten und Romanen, in denen er nicht selten das klassisch schwierige Verhältnis zwischen Männern und Frauen ironisch auf die Spitze getrieben hat, verfasste er Märchen, Gespenstergeschichten und utopische Romane.  Die hier ein drittes und zum ersten Mal allein stehend aufgelegte Novelle ist in den bisherigen zwei Publikationen als Teil umfangreicher Anthologien eher im Schatten geblieben. Lars Dangel korrigiert Fehler im Lexikon der utopisch- phantastischen Literatur. Er zweifelt auch einige Quellen an, auf denen Dr. Franz Rottensteiners Präsentation des Autoren basiert. Am Ende des kurzen Essays hat Lars Dangel sogar Zeit, um die Übersetzerin zu präsentieren. Eine Fleißarbeit, welche im Grunde alleine die Anschaffung dieses kleinen Bändchens verdient hätte.

 „Amos Kilbright“ verteilt zu den Beginn der Geschichte Eintrittskarten für spiritistische Sitzungen. Dabei trifft er auf den Ich- Erzähler und betritt schüchtern das Büro des Rechtsanwalts. Die beiden unterschiedlichen Männer kommen ins Gespräch und Amos Kilbright muss klarstellen, das seine Existenz in der Gegenwart auf einer Art Unachtsamkeit basiert. Vor knapp mehr als einhundert Jahren ist er eigentlich im jugendlichen Leichtsinn ertrunken, sein Körper wurde nie gefunden. Während einer spiritistischen Sitzung wird sein Geist aus versehen beschworen und nicht wieder zurückgeschickt. Durch diese Zeitüberschreitung findet sich Amos Kilbright nackt in einem Avatar seines bisherigen Körpers wieder. Diese Art der Körperlichkeit wird nicht weiter erläutert, aber er muss essen/ trinken; er kann Kleidung tranken, er schläft und vor allem verliebt er sich auch im Laufe der Geschichte.

 Der Ich- Erzähler nimmt den jungen Mann bei sich auf und gibt ihm Arbeit. Die Spiritisten warten dagegen auf die Ankunft eines deutschen Wissenschaftlers, der als einziger diese Entstofflichung rückgängig machen und Amos Kilbright im Grunde wieder zu den Toten zurückschicken kann.

 Im Laufe der Geschichte streift Frank Richard Stockton eine Reihe von sozialen, rechtlichen und schließlich auch menschlichen Problemen. Niemand kann beweisen, dass es sich bei Amos Kilbright wirklich um einen wiedererweckten Mann handelt. Er hat zwar die Erinnerungen seines Originals und kann den noch in der Nachbarschaft lebenden, inzwischen sehr alten Enkel überzeugen, dass er nicht nur eine Ähnlichkeit mit dem Mann auf dem Familienportrait hat, sondern auch über dessen Erinnerungen verfügt. Unstrittig handelt es sich in der vorliegenden Form um einen Menschen, zwar ohne Papiere und im Grunde auch ohne eine nachweisliche Identität, aber ein menschliches Wesen, das ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft sein kann. Seine Existenz wird nicht durch eine Hochzeit mit einer jungen Frau bestätigt. Rechtlich gesehen hätte diese Hochzeit ja keinen Einfluss auf sein Bleiberecht im Diesseits, weil er über keine Papiere verfügt und damit auch nicht an den Altar schreiten kann. Diese Frage wird gegen Ende der Geschichte auch nur gestreift.

 Die zweite, wichtige Frage zielt auf die Verantwortung hinter der Tat. Die Spiritisten haben ihn ins Diesseits geholt und sind damit auch für ihn „verantwortlich“. Diese Verantwortung wollen sie abschieben, in dem die Amos Kilbright wieder zurückschicken. Handelt es sich dabei um ein Verbrechen. Kann ein Toter noch einmal getötet werden und fällt diese Tat unter den Oberbegriff Mord? Zwar diskutieren die einzelnen Protagonisten mehrfach die verschiedenen Thesen, sie kommen zu keinem richtigen Abschluss. Die Ehefrau des Ich- Erzählers löst das Problem mit dem metaphorischen Schwertschlag durch den gordischen Knoten. Sie droht mit drastischeren Folgen und spricht sogar von einer art Lynchjustiz, wenn an die Öffentlichkeit kommt, dass Amos Kilbright als sympathischer und in der kleinen amerikanischen Gemeinde akzeptierter Mann im Grunde wenige Minuten vor seinem glücklichsten Moment abberufen worden ist.

 Auf den ersten Blick wirkt die Behauptung der burschikosen Frau absurd, aber sie zeigt, wie leicht in einer kleinen Gemeinde mittels geschickt gestreuter Gerüchte ein Mob mobilisiert werden kann. Es ist eine drastische Lösung, die einen „Mord“ mit einem echten Mord beantwortet hätte. Juristisch wird in doppelter Hinsicht die Frage nicht geklärt. Ist der Mord an einem Toten auch ein Verbrechen? Ist die Hinrichtung eines Mannes, der einen Toten ein zweites Mal ermordet hat, von Beginn an ein Verbrechen oder wird in mehrfacher Hinsicht hier ein Unschuldiger bestraft? Auf diese Fragen gibt es keine Antworten. Schon bei der von Lars Dangel im Nachwort mehrfach erwähnten Kurzgeschichte „Das Weib oder der Tiger?“ – sowie der Fortsetzung- hat Frank Richard Stockton seinen Lesern ein im Grunde unlösbares, literarisches Rätsel gestellt, sich selbst aber mit zwei sehr offenen Enden schriftstellerisch aus dem Staub gemacht.

 Die letzte Frage bezieht sich auf die soziale Integration. Der Ich- Erzähler berichtet, dass Amos Kilbright sehr schnell in seiner Praxis lernte, sich im Abschreiben von wichtigen Schriften hervorgetan hat und letzt endlich seine Kenntnisse als Gutsverwalter auf den neusten Stand gebracht hat, um sich entsprechende Arbeit zu suchen. Der Geist ist zu einem gewöhnlichen Menschen geworden, der zwar seine Herkunft weiterhin kannte und aus dem jugendlichen Leichtsinn gelernt hat, aber immer noch teilweise wie ein Fremdkörper die einhundert Jahre in der Zukunft agiert. Das wird deutlich, wenn er traurig aus seinem Heimatort zurückkommt, den er nicht mehr wieder erkannt. Auch für diese Frage hat Frank Richard Stockton schließlich eine zeitlose wie pragmatische Arbeit: die Liebe heilt alle Wunden.

 Ironisch könnte ein aufmerksamer Leser diese Idee auf die Spitze treiben, denn Amis Kilbright war zum Zeitpunkt seines frühen Todes noch verheiratet. Unter normalen Umständen würde er jetzt als Witwer vor den Altar treten und ein zweites Mal heiraten. Aber der Ich- Erzähler und seine Frau befürchten einen finalen Streich der Spiritisten: Sollte seine damalige Frau ebenfalls als Geist in die Gegenwart geholt oder reinkarniert werden, ist dann die Ehe von Amos Kilbright noch gültig`? Auch dieser Punkt wird angerissen, aber nur bis zum logischen Ende durchdiskutiert.

 „Amos Kilbright“ ist für die von Lars Dangel bislang herausgegebenen Anthologien zu lang gewesen. Daher bietet sich – unabhängig von der Qualität – die Veröffentlichung als Einzelband an. Mehr eine längere Kurzgeschichte als eine Novelle verfliegt die Zeit, welche der Leser mit dieser dank pointierter Dialogen sehr zeitlosen Geschichte verbringt. Die Charaktere sind ausgesprochen lebendig entwickelt, auch wenn rückblicken das Ende ein wenig zu abrupt, zu hektisch ist.  Hinzu kommt, das viele interessante Fragen andiskutiert, aber nicht abschließend beantwortet werden. Sie schwirren in den Gedanken der Leser weiter herum und werden ihn an eine ungewöhnliche Spiritistenstory erinnern, deren Lektüre unbedingt zu empfehlen ist.       

Amos Kilbright: Erlebnisse eines längst Verstorbenen (Kleine Dornbrunnen Bibliothek)

  • Herausgeber ‏ : ‎ Verlag Dornbrunnen; 1. Edition (1. Februar 2024)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 56 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3943275728
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3943275728
  • Originaltitel ‏ : ‎ Amos Kilbright
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