Die Autorin Ellen Norten und ihr Herausgeber Michael Haitel nennen ihren neuen Roman „Jamila tanzt“ magische Science Fiction. Der Untertitel trifft auf der einen Seite Teile des Romans gut, aber nicht wirklich treffend, bei anderen Aspekten verfehlt dieser plakative Untertitel allerdings seine Wirkung. „Jamila tanzt“ ist eine Geschichte aus der 1002. Nacht, voller exotischer Wunder des Orients, mit einem willensstarken Heldin und bizarren Begegnungen anfänglich auf der verzweifelten Suche nach der Liebe ihres Lebens – der in Tiergestalt geborene Hassan-, später auf der Suche nach einem friedlichen zu Hause, abseits der Begierden des herrschenden Sultans. Das Buch ist eine beständige Quest, eine manchmal fast hektisch wirkende Reise von einem Ort zum Nächsten.
Die große Stärke der Geschichte ist Ellen Nortens Fähigkeit als Erzählerin, stetig nach außen zu eilen und neue Ideen, neue „Welten“ und vor allem auch neue Nebenfiguren in die Handlung einzuführen. Dazu kommen die Geschichten innerhalb der Geschichte, in denen die Charaktere und ihre Familienangehörige vom eigenen Schicksal, von Flüchen und Betrug berichten, der wie ein Damoklesschwert immer noch über ihren Köpfen und den Häuptern ihrer Nachkommen hängt. Und dazwischen tanzt Jamila immer wieder. Das könnte kitschig klingen, wirkt manchmal auch angesichts der potentiellen Dichte des Stoffes, der komprimierten Form der Erzählung auch ein wenig zu ambitioniert konstruiert, aber wie in den Märchen aus tausend und einer Nacht kommt am nächsten Morgen eine andere Episode, eine weitere Herausforderung hinzu, so dass der Leser nicht über jeden einzelnen Aspekt dieses Ideenstroms und weniger kontinuierlich erzählten Romans nachdenken kann und vor allem auch nicht nachdenken muss.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht Jamila. Nach dem Tod ihrer Mutter hat ihr Vater sie in der Obhut der gierigen Nachbarin gelassen und ist auf eine religiöse Selbstbestimmung gegangen. Neben der harten Arbeit entwickelte Jamila das Talent, mit dem Ziegenbock Hassan Kunststücke aufzuführen und die Menschen zu unterhalten. Sie soll diese Gabe zu Geld machen und auf den Märkten der nächsten Stadt auftreten. Damit es der gierigen Mutter nicht mehr reicht, sollen Jamila und Hassan in die Großstadt ziehen. Allerdings verlassen sie ihr Haus und fliehen. Hassan wird von einem mächtigen Vogel entführt und Jamila macht sich auf die Suche.
Diese Suche nimmt nur einen kleinen Teil der Geschichte ein. Es ist erstaunlich, wie schnell Jamila von vier Frauen zu einer einzigartigen Tänzerin ausgebildet worden ist; wie kompakt Hassan Schicksal und Menschwerdung nach der Entführung durch den Greif und einen Abstecher auf einen anderen Planeten voller Halb-Mensch- Wesen von statten geht und die Beiden eigentlich irgendwie und irgendwann friedlich leben könnten.
So präzise und vor allem auch stringent die grundlegende Geschichte definiert worden ist, umso magischer und vor allem auch verträumter ist der Hintergrund. Ellen Norten lässt fast alle Aspekte des mystischen Orients in die Geschichte einfließen. Das beginnt mit dem blinden Wanderer in der Wüste, der sich an der Richtung des Windes orientiert und dem Jamila hilft. Diese Figur tritt immer wieder auf. Es endet nicht unbedingt beim herrschsüchtigen Sultan, der von Jamilas tanzt verzaubert, einen Freund entführt und sie zwingt, in seinem Palast aufzutreten. Er will sie zu einem Mitglied seines Harems machen, während die schon schwangere Jamila nur ihren Hassan heiraten und in Frieden lieben will. Die Konfrontation mit der Obrigkeit ist der Wendepunkt der Geschichte. Der Grundtenor wird dunkler und die auf dem Klappentext angesprochenen im Schleier versteckten metallenen Münzen (scharf geschliffen) offenbaren eine gänzlich andere Seite Jamilas. In der ersten Hälfte der Geschichte hat sie ausschließlich reagiert und mit jeder Herausforderung ist sie gereift.
Mit dem „Angriff" auf den Sultan beginnt Jamila zu agieren und will sich nicht mehr vor dem Unrecht ihrer Welt verstecken. Wie tief dieses Unrecht sitzt, hat sie nicht zuletzt am eigenen Leib, bei ihrem Hassan oder der Geschichte der goldenen Kette, der neidischen Schwester und der Bestrafung von Hassans Eltern gesehen. Auch wenn Jamila immer wieder tanzt und mit ihren anmutigen Bewegungen die Menschen in den Bann zieht; ihnen einige Momente der friedlichen Schönheit schenkt, ist es eine herausfordernde, brutale und verstörend betörende Welt, die Ellen Norten ein wenig abseits von Zeit – auch wenn alles auf den klassischen Orient hindeutet, passt nicht jeder Nagel – und Raum – es gibt Parallelwelten und vielleicht auch einen anderen Planeten mit einer besonderen Bewandtnis – für diesen intensiven, aber auch intimen Roman entwickelt hat.
Wie Scheherazade die Phantasie des Königs als Tochter des Wesirs nicht nur jede Nacht mit einer neuen Geschichte ablenkte und ihn langsam von seiner Eifersucht heilte, präsentiert Ellen Norten mit jedem metaphorischen Morgen eine neue, eine andere Welt. Bei Ellen Norten ist es eine magische Welt innerhalb einer magischen Welt. Wie eine russische Puppe öffnet sich eine weitere Variante und je tiefer die Autorin auch in die Vergangenheit ihrer zahlreichen Figuren eindringt und diese von den eigenen Schicksalen erzählen lässt, desto dichter und damit auch exotischer, in den meisten Fällen auch magischer wird diese Welt.
Diese Verdichtung birgt auch Risiken. An einigen Stellen droht die Handlung unter der Verschachtelung des Plots förmlich zu ersticken, in dem die Autorin den laufenden, aber in einem geruhsamen Tempo trotz rasanter Reisemittel wie den Krallen eines Greifs erzählten Plot unterbricht, um auszuholen. Das erfordert Geduld von den Lesern. Insbesondere zu Beginnd er Geschichte, wenn der “Zuhörer” im übertragenen Sinne sich in dieser nur auf den ersten Blick vertrauten Welt orientieren, gleichzeitig die verschiedenen Charaktere kennenlernen und schließlich auch erste Einblicke in die relevante Welt des besonderen Tanzes erlangen muss. Ellen Norten versucht da sehr viel durch ein inhaltliches Nadelöhr zu zwängen. Damit soll nicht gesagt werden, dass weniger in diesem Szenario mehr gewesen wäre, aber die Struktur ihrer, beginnend mit einem klassischen, fast klischeehaften Szenario sich stetig erweiternden Story wird schon sehr gedehnt.
Und dazwischen tanzt Jamila immer wieder. Diese sehr unterschiedlichen, verführerischen und die Aufmerksamkeit des Sultan weckenden Tänze sind neben der Liebesgeschichte gegen alle Herausforderungen zwischen Hassan und ihr das verbindende Glied zwischen den einzelnen, teilweise provozierend unterschiedlichen Handlungsteilen dieser magischen “Science Fiction” Geschichte.
Eine interessante Facette ist der Tanz. Der Leser sieht die Veränderung von der Akrobatin zur Tänzerin unter Anleitung der vier Frauen, die auch vier Schwestern sein könnten. Vielleicht entwickelt Jamila in diesem Kapitel ihre tänzerischen Fähigkeiten zu schnell, ist zu perfekt und lässt ihre Lehrerinnen zu rasant hinter sich, aber dieser frühe Abschnitt ist bedeutend für den Rest des Romans. Ellen Norten hat sich während ihres Studiums vor allem auch mit orientalischem Tanz beschäftigt, ihn aktiv auch ausgeübt. Daher sind ihr die Abläufe vertraut, die sie im Laufe der Geschichte auf der einen Seite verfeinert, auf der anderen Seite mit den lebensgefährlichen Münzen und den Schwertern auch Jamilas Gemütslage anpasst. Es ist schwer, Tanz in einer Geschichte mit Worten ohne Bilder oder gar Musik überzeugend darzustellen. Jeanne und Spider Robinson ist es vor allem in der ihrer „Sternentanz“ Trilogie zugrundeliegenden Novelle gelungen. Aber diesen Tänzen liegt ein tragisches Element zu Grunde. Auch bei Frank W. Haubold in die „Sternentänzerin“ ist die Reise zurück, die Konfrontation mit der Vergangenheit wichtiger als die eigentliche Aufführung am Ende der Geschichte.
Bei Ellen Norten strebt Jamila nicht immer freiwillig weiter nach vorne, versucht sich unter dem Trommelwirbel und den Lichteffekten ihre persönliche Nische, einen Augenblick Freiheit anfänglich zu ertanzen, später auch zu erkämpfen. Diese Nuancen beschreibt die Autorin überzeugend, der Leser erkennt die emotionale Gemütslage und Jamilas Beweggründe, immer wieder ihren Tanz der Situation anzupassen. Zwischen Freude - am Vorabend der eigenen Hochzeit für Freunde zu tanzen - und Tragik - sie muss dem Sultan gefallen und gleichzeitig mit einem Trick einen Freund aus seiner Hand durch ihren Tanz befreien - liegen nur wenige Momente, auf den Tanz übertragen nur wenige Schritte.
Jeder andere Autor, jede andere Autorin und vor allem die meisten Märchenerzähler hatten ihre Geschichte mit dem Sieg über das Böse – in diesem Fall dem despotischen Sultan – und dem Hinweis, dass sie von da an in Frieden mit ihren Kindern und dem Tanz bis zu ihrem Tod leben würden. Ellen Norten verschließt sich dieser klischeehaften Tradition.
Der Sieg über den Sultan und sein Gefolge erinnert an ein terroristisches Kommandounternehmen mit einem weiblichen, tanzenden „Chuck Norris“, die sich mit ihrer perfiden Geheimwaffe direkt in die Höhle des Löwen beginnt und ihn besiegt. Es wird nicht die letzte grotesk brutale Szene sein. Mit dem Abschlagen der Schädeldecke und dem Freilegen des Gehirns hat Ellen Norten anscheinend eine besondere Beziehung.
Mit dem Sieg über den Sultan und der Etablierung des rechtmäßigen Herrschers beginnt die Autorin, die einzelnen roten Fäden aufzusammeln. Auf dem Planeten der Verwunschenen lebte Achmed mit einem Tierkopf. Damit Achmed wieder zu einem vollwertigen Menschen wird, muss der Kopf abgeschlagen und der Halsstumpf mit besonderen Kräutern behandelt werden. Der echte Menschenkopf wächst anschließend nach. Dumm ist nur, das der neue Sultan auf Hexerei nicht steht und eine Herrschaft des Lichts etablieren möchte, was Jamila und Hassan umgehend wieder in Schwierigkeiten bringen könnte.
Auf einer weiteren Handlungsebene in Form einer erzählten Geschichte beschreibt Jasmin ihre Begegnung mit Zirze, eines bisexuellen Frau mit roten Kleidern und roten Haaren. Jasmin trägt zu diesem Zeitpunkt noch einen Kaninchenkopf. Ihre Rettung kommt in Form von Maiglöckchen. Diese Passage wirkt wie eine bunte Mischung aus den europäischen Märchen und dem vorderen Orient. Auch sie trägt groteske Züge in sich, die in dieser Form und expliziten Beschreibung kein Äquivalent in der eher verspielten ersten Hälfte der Geschichte finden.
Sowohl Achmeds als auch Zirzes abschließendes Schicksal werden letztendlich miteinander verbunden. Ellen Norten zeigt auf, wie eng das auf den ersten Blick erkennbare Böse und die Maske, hinter welche Menschen ihre schurkischen und egoistischen Absichten verstecken, kaum voneinander zu unterscheiden sind.
Ein wichtiger Teil des langen Finals nach dem eigentlichen Finale ist noch der Auflösung der verschiedenen Verwandtschaftsverhältnisse gewidmet. Die vier Frauen stehen in einer gänzlich anderen Verbindung zu Jamila als es die erste Begegnung impliziert. Sowohl der blinde, dem Wind lauschende Wanderer in der Wüste wie auch der Ratgeber des gegenwärtigen Sultans haben für Jamila ebenfalls eine wichtige Bedeutung. So lobenswert auch die komplette Auflösung der einzelnen Handlungsfäden und das Bilden eines neuen, Jamilas Charakter eher stärkenden Bandes ist, erscheinen einige der Wendungen märchenhaft, vielleicht auch ein wenig zu sehr auf den Punkt konstruiert.
Am Ende geht Ellen Norten noch einen Schritt weiter. Während sich die magische Science Fiction bislang auf die eher märchenhafte Überwindung des Raums – egal ob zum Planeten der Verwunschenen oder möglichen Parallelwelten - konzentriert hat, wird am Ende möglicherweise die Zeit überwunden. Wobei der Ort ihres Eintreffens eher plakativ gewählt worden ist.
„Jamila tanzt“ ist ohne Frage eine ungewöhnliche Form der Märchen aus der 1002. Nacht, aber nicht der Science Fiction Erzählung. Die Figuren sind gut gezeichnet, wobei Jamila natürlich positiv herausragt, ihr Umfeld manchmal ein wenig zu pragmatisch charakterisiert worden ist. Aktion und die entsprechende Reaktion sind in dieser kompakten Erzählung wichtiger. Die Tanzsequenzen werden im Laufe der Handlung immer ausführlicher, immer verführerischer und gleichzeitig auch innovativer beschrieben, während der zugrundeliegende Tonfall vom verspielt mystisch märchenhaften mehr und mehr begleitet von den Zeichnungen grotesker und damit auch verstörender wird. „Jamila tanzt“ ist ein ungewöhnlicher, ein experimenteller Roman, der zu Beginn aufgrund der auf den ersten Blick vertrauten, absichtlich gewählten märchenhaften Versatzstücke auch Geduld vom Leser verlangt, die im gut strukturierten mittleren Abschnitt durch ueberraschend Wendungen belohnt werden. Gegen Ende zerfällt
die Handlung wieder in einzelne Episoden ohne richtige Höhepunkt und die magisch- mystische Wirkung der Haupthandlung wie der Rauch vom Feuer in einem Zelt nach einer wundervoll magischen Performance langsam verfliegt.
- Herausgeber : p.machinery; 1. Edition (29. März 2023)
- Sprache : Deutsch
- Taschenbuch : 248 Seiten
- ISBN-10 : 3957653266
- ISBN-13 : 978-3957653260
- Lesealter : Ab 14 Jahren