In seinem Vorwort freut sich Neal Clarke über die LOCUS Auszeichnung als bester Herausgeber, kann die dunklen Wolken über „Clarkesworld“ durch die Veränderungen bei Amazon und seinem Kindle Service nicht wegwischen. An diesem Vorwort lässt sich erkennen, wie stark Amazon den E Book Markt dominiert. Andere Herausgeber wie Michael Haitel in Deutschland haben Amazon den Rücken gekehrt und lassen ihre Bücher nur noch über einen Produktpartner dort präsentieren. Alles keine leichte Entscheidung, für Clarkesworld existentiell.
D.A. Xiaolin Spires führt ihren Artikel über Bienen bzw. Bienenschwärme aus der letzten Clarkesworld weiter. Es ist nicht notwendig, den ersten Teil zu kennen, aber es erhöht das Lesevergnügen. Es finden sich einige Beispiele dieses Subgenres, wobei die Auswahl sehr stark beschränkt ist.
Konträrer könnten die Interviews dieses Mal nicht sein. Donna Scott stellt die jährlichen Anthologien mit den besten britischen Science Fiction Kurzgeschichten zusammen, Gleichzeitig ist sie ebenfalls Autorin. Sie spricht über die Schwierigkeiten, das Material zu sichten, aber auch den Autoren auf der einen Seite sowie den kommerziellen Gesichtspunkten auf der anderen Seite gerecht zu werden. China Mieville gehört am Anfang des Jahrtausends zu den Durchstartern. In den letzten Jahren wurde es bis auf zwei Novellen deutlich ruhiger um ihn. Inzwischen arbeitet er mit Keanu Reeves an einem Buchprojekt. Mieville geht nicht nur auf seine bisherigen Arbeiten, sondern auch die Zusammenarbeit mit einem Schauspieler ein. Beide Interviews sind ausführlich und fundiert. Vor allem der Kontrast zwischen China Mieville und Donna Scott macht in diesem Fall den Reiz dieser Interviews aus.
Insgesamt sieben Kurzgeschichten und Novellen präsentiert Neil Clarke. Ein roter Faden ist nur bedingt zu erkennen. Nicht selten geht es um den Kontrast zwischen dem Individuum und den Entscheidungen, welche er/sie für die Gemeinschaft treffen muss oder die für ihn getroffen werden.
Tia Tashiro eröffnet den Juli mit ihrer Geschichte „Every Hopeless Thing“. Elodie plündert die inzwischen verlassene, ökologisch tote Erde aus. Sie sucht nach Artefakten, technischen Relikten, die sie auf den Stationen im Orbit verkaufen kann. Zusammen mit ihrem Roboter Skipper findet sie ein Kind, das ohne Raumanzug auf den verseuchten Erde überleben kann.
Anscheinend haben Menschen in unterirdischen Siedlungen überlebt und sich eine eigene Zivilisation aufgebaut. Einen Kontakt mit der Außenwelt lehnen sie ab. Mittels individueller Rückblenden und der subjektiven Perspektive der Protagonistin entwickelt Tia Tashiro ein interessantes „First Contact“ Szenario. Elodie steht zwischen den Fronten und versucht zu helfen. Dabei erreicht sie das Gegenteil, weil sie in ihrer Naivität wie Teile der gegenwärtigen Entwicklungshilfe die Menschen unter der Erde als hilflos, als bedroht ansieht. Dabei haben sie sich einen herausfordernden, aber auch gut nutzbaren Lebensraum erschaffen. Der Junge ist der Mittler zwischen den Welten, aber es ist vor allem die Maschine, der Roboter Skipper, der Elodie stellvertretend für die Menschen im Orbit die Augen öffnet. Die Geschichte lebt von der überzeugenden Beziehung zwischen Elodie und ihrem Roboter. Sie sind Partner, auch wenn Elodie als Mensch das Kommando hat. Sie ergänzen sich auf eine erstaunliche, aber auch überzeugende Art und Weise. Tia Tashiros Geschichten sind von unterschiedlicher Qualität. Wenn sie gut ist – wie in diesem Fall – fügen sich alle Teile beginnend mit dem Titel der Geschichte harmonisch zusammen und werden zu einer von den Charakteren getriebenen nachdenklich stimmenden, aber auch optimistischen Geschichte. Manchmal greift Tia Tashiro allerdings zu sehr zu den Versatzstücken des Genres und kann diese nicht weiterentwickeln.
Amal Singhs „I Will Meet Yiu When the Artefacts End” ist eine weitere Generationenraumschiffgeschichte. Noori reist an Bord der Sonagraph One zu einem neuen Planeten. Wie Robin Williams in „Good Morning, Vietnam“ ist sie die morgendliche Stimme des Bordfunks. Es handelt sich um eine Flotte von Raumschiffen, die als Pulk zu den neuen Welten eilen. Mittels einer App kommt sie in Kontakt mit Jai, der sie zwar nicht treffen möchte, der ihr aber versichert, dass ihre morgendlichen Sendungen ihm den Mut geben, sich dem Tag zu stellen. Noori hat vor kurzem ihren Partner Asid verloren und wird immer mehr von dem geheimnisvollen Jai besessen.
Amal Singh ist dann gezwungen, seine melancholische Handlung zu unterbrechen. Sein technischer Einschub wirkt ein wenig aufgesetzt, ist aber notwendig, um den Plot auf einer bitteren Note enden zu lassen. Nicht alles wird dem Leser klar. In vielen, vielleicht zu vielen Punkten belässt es Amal Singh bei Andeutungen, aber umgeht so auch viele Fallen dieses bekannten Subgenres. Die Zeichnung der Figuren ist wie bei der ersten Geschichte überdurchschnittlich gut, zumal sie mittels der Person Jai nur Bruchstücke offenbart und schließlich auch einen dunklen Blick auf die für die Mission Verantwortlichen wirft.
„The Best Version of Yourself“ von Grant Collier ist eine der dunkelsten Geschichten dieser Clarkesworld Ausgabe. Maria steht in einem „Kampf“ mit dem Eudaimon Konzern. Der Name ist Programm. Mittels Nanobots will der Konzern die Menschen befreien. Sie können ihre Körper hinter sich lassen, ihre Seele tritt in ein virtuelles Nirvana ein und abschließend sind die Probanten Mitglied einer „roten“ Masse, vom Autoren joyjelly genannt. Maria hat gerade ihre Mutter an den Konzern verloren. Sie will trotzdem den letzten Wunsch ihrer Mutter umsetzen und auf ihrem Grab einen Baum setzen.
Grant Collier setzt sich mit der Frage des Menschseins auseinander. Was ist noch menschlich und ab welchen Punkten dominieren die Konzerninteressen. Damit Marias Kampf gegen das Konglomerat überhaupt eine Aussicht auf Erfolg haben kann, braucht sie einen Insider, der ebenfalls mit den Verhältnissen nicht zufrieden ist. Diese Wendung in der Handlung wirkt konzentriert, allerdings sind die aus diesem Seitenwechsel entstehenden Gespräche zwischen Maria und EM – Eudaimons Botschafter zu den noch nicht veränderten Menschen – philosophisch tiefgründig und setzen sich auf unterschiedliche Art und Weise mit dem Leben, der Individualität und schließlich einem möglichen virtuellen Leben nach dem „Tode“ intensiv und vielschichtig auseinander.
Em X. Lius „Stellar Evolutions in Pop Idol Artistry” ist deutlich humorvoller. Eine Boy Group befindet sich auf interstellarer Tournee. Mingming – ein ambivalenter Charakter – will unbedingt nicht nur berühmt, sondern musikalisch unsterblich werden. Em X. Liu setzt sich zwar mit den Fallstricken der Musikbranche und der Illusion von Ruhm im direkten Vergleich zu Liebe und Gefühlen auseinander, aber der Text ist für die emotionale Tiefe ein wenig zu kurz und die Zeichnung der Figuren teilweise zu pragmatisch der Grundidee geschuldet. Die Pointe soll die Geschichte wieder an ihren Anfang zurückbringen, wirkt allerdings ein wenig aufgesetzt. Zumindest erkennt Mingming, wer die treibende Kraft für den Erfolg eines Künstlers ist.
Deutlich dunkler ist „Akties Aeliou or the Machine of Margot´s Destruction“ von Natalia Theodoridou. Zwei Menschen bzw. Wesen prallen in dieser First Contact Geschichte aufeinander. Margot vertritt die menschliche Fraktion, das andere Wesen war früher mal eine Art Gott und ist vom Pantheon gefallen. Die Autorin hat sich bewusst an den griechischen Tragödien orientiert, was den Reiz dieser Geschichte ausmacht. Aber die beiden waidwunden Wesen haben nur fatalistisch die Möglichkeit, sich unbewusst gegenseitig weiter zu verletzen und sind in ihren eigenen Wegen gefangen.
Anamaria Curtis „The Happiness Institute" ist eine der besten Geschichten dieser Clarkesworld Ausgabe. Sie präsentiert den Lesern keine Antworten, aber die im Grunde alltägliche Frage, was einen glücklichen Menschen auszeichnet, wird auf den ersten Blick schizophren wissenschaftlich untersucht. Eine Gruppe von Armee Wissenschaftlern soll sich am Ende eines langen Kriegs mit dem Glück beschäftigen. Sie sollen herausfinden, was Menschen im Allgemeinen und die kleine Gruppe glücklich macht. Die Ansätze könnten alltäglicher, aber unterschiedlicher nicht sein. Einen Pool graben, Blumen pflanzen oder sich um ein Tier kümmern. Mit anderen Menschen außerhalb der Arbeit in Kontakt treten. Schwerter zu Pflugscharen. Wie angedeutet, bewegt sich die Geschichte auf ein offenes Ende und der Leser muss sich fragen, ob diese verordnete Suche nach Glück ausreichend ist oder nicht. Die fehlende Antwort macht aber auch den Reiz des Textes aus.
Polenth Blakes „Born Outside“ ist die kürzeste Geschichte dieser Sammlung. Tulip ist ein künstliches Baby, das „außen“ geboren worden ist. Eine Tante zieht es auf, versteckt es vor der Öffentlichkeit. Der Hintergrund mit einer aussterbenden Menschheit und neuen Wegen, die Spezies weiter existieren zu lassen, wird trotz der Kürze des Textes erst nach und nach offenbart. Auch hier geht es um kollektive Erinnerungen, um Hybride, um die nächsten Generationen. Es werden keine Fragen beantwortet und der Hintergrund der Geschichte ist spärlich entwickelt, aber die Grundidee verdient die Aufmerksamkeit des Lesers.
Beginnend mit dem melancholischen Roboter im Blumenfeld präsentiert sich der Juli als eine ausgesprochen starke, emotional überzeugende Clarkesworld Ausgabe, die vor allem von den geschickt extrapolierten Themen bekannter Ideen profitiert. Alle Geschichten sind stilistisch mindestens zufriedenstellend und auch die Übersetzung aus dem Chinesischen ist deutlich besser als es im letzten Jahr 2023 mehr als einmal der Fall gewesen ist.