Wolfgang Schülers schon 2017 veröffentlichter Sherlock Holmes Roman spannt einen sehr weiten Bogen. Wer sich nur auf die Szenen am Set von „Nosferatu“ freut, wird vielleicht auf den ersten Blick enttäuscht. Fast die Hälfte der Geschichte ist um, bis Sherlock Holmes und Doktor Watson endlich am Set des Drehs eintreffen.
Die Geschichte beginnt 1888. Lestrade wird mit dem ersten Jack the Ripper Mord konfrontiert. Er bittet nicht Sherlock Holmes, sondern den königlichen Leibarzt Sir William Withney Gull um Hilfe. Vielleicht erkennt er die Handschrift eines seiner Schüler. Sherlock Holmes vertraut Lestrade (noch) nicht. Lestrade ist dabei auf der richtigen Fährte, denn Gull erkennt wirklich einen seiner Schüler wieder und konfrontiert ihn direkt. Damit wäre die Jack the Ripper Geschichte eigentlich zu Ende.
Die Morde gehen weiter und fast ironisch ist der Teilzeitbutler der Täter. Dahinter steckt ein perfider Racheplan, der Gull den Verstand rauben soll. Die Lestrade gegebenen Ausführungen sind ein wenig weitschweifig konstruiert, zumal sie aufgrund des bisherigen Lebenslaufs des Butlers nur bedingt in dessen Beuteschema passen. Der Leser muss es akzeptieren.
Die zweite Etappe auf dem Weg nach Berlin spielt 1890 auf Helgoland. Auch hier konstruiert Wolfgang Schüler ein wenig an seinem Plot herum. Helgoland soll wieder an die Deutschen übergeben werden. Im Zuge der Feierlichkeiten rechnen Sherlock Holmes und Doktor Watson mit einer Welle der Kriminalität auf er Nordseeinsel. Normalerweise ziehen solche Spektakel höchstens Trickdiebe und Betrüger an. Nicht die Art von Verbrechern, mit denen sich Sherlock Holmes aktiv auseinandersetzt. Vor allem nicht die Art von Schurken, für welche Holmes und Watson weite Reisen unternehmen. Sie können bei einem ehemaligen Polizisten unterkommen, der inzwischen auf der Insel eine Pension betreibt. Sie haben immer noch warme Erinnerungen an den Mann. Angeblich soll er sogar bereit sein, sein eigenes Schlafzimmer für die anreisenden Holmes und Watson aufzugeben. Eine etwas arrogante Ansicht von Doktor Watson. Auf der Insel lösen sie ein kleineres, aber kompliziert entwickeltes Diebstahldelikt. Dem Täter kommt dabei zur Hilfe, dass er erstens den örtlichen freien Priester und seine Vergangenheit kennt und zweitens eine ehemalige Geliebte des britischen Lords, die Frau des Pensionswirts ist. Sherlock Holmes löst den Fall und kommt wie Lestrade einen Schritt zu spät.
Der Berufsverbrecher ist der gleiche Mann, der auch als Jack the Ripper in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Auch das zweite Kapitel ist nicht ganz rund niedergeschrieben. An einer Stelle schreibt Wolfgang Schüler sogar, dass der Lockvogel extra ausgeschickt worden ist. Bei den Planungen basiert das Element allerdings auf dem Faktor Zufall, da nicht absehbar war, ob die Frau nicht doch ihrem Mann schon alles gebeichtet hat und eine zweite Erpressung deswegen ins Leere gegangen wäre.
Inzwischen schreibt man das Jahr 1921. Doktor Watson ist 69 Jahre alt. Ausführlich beschreibt Watson stellvertretend durch Wolfgang Schüler seine verschiedenen Leiden. Neben den Kriegsverletzungen, die sich im Alter mehr bemerkbar machen, ist es vor allem die Inkontinenz. Diese verschwindet dann allerdings immer wieder in den einzelnen folgenden Kapiteln. So kann Doktor Watson einer Hauptversammlung der neu gegründeten Produktionsfirma für „Nosferatu“ lange zuhören, ohne dass er sich an einem für ihn unbekannten Ort als erstes nach den Toiletten umschaut. Auch eine längere, durch die deutsche Inflation sehr billige Taxifahrt zu den Zeppelinhallen macht ihm plötzlich nichts mehr aus.
Egal, nachdem die Zipperlein geklärt worden sind, überredet Holmes Watson, mit ihm nach Deutschland zu kommen. Er hat die Einladung zu einem letzten Duell bekommen.
Jack the Ripper – obwohl Sherlock Holmes mit diesem Fall nichts zu tun hat – und der Dieb von Helgoland will ein letztes Spiel spielen. Auch bei der Aktion in Helgoland kommt Sherlock Holmes zu spät. Der Versuch, einen zweiten Moriarty zu etablieren, funktioniert nicht. Dazu sind die beiden Konfrontation entweder durch die Abwesenheit Sherlock Holmes falsch gewählt oder zu oberflächlich. Vielleicht gibt es noch weitere Begegnungen, sie werden im vorliegenden Roman allerdings höchstens beiläufig beschrieben. Alleine mit der Eitelkeit eines Verbrechers zu argumentieren, ist zu schwach. Die Vorgeschichte soll ignoriert werden. Sie kann auch gut zur Seite geschoben werden. Sherlock Holmes und Doktor Watson sind beim, aber nicht im Film.
Mit dem Eintreffen in Berlin zeigt sich Wolfgang Schülers eigentliche Stärke als Autor. Auch mit dem vorliegenden Sherlock Holmes Roman unterstreicht er, dass er kein klassischer Spannungsautor ist und Dynamik kein roter Faden ist. Stattdessen kann er die Leser gut aufklären, vielleicht bis an die Grenze der Belehrung. Neben der Rückgabe von Helgoland an die Deutschen folgt eine lange geschichtliche Exkursion in den verlorenen Ersten Weltkrieg, die verschiedenen Aufstände im unruhigen deutschen Reich und eine verzerrte Darstellung von stillen Beteiligungen. Es wird über die Produktion von Filmen gesprochen, die Hintergründe der Schauspieler und hinter der Kamera arbeitenden Männer und Frauen sowie schließlich auch den Konflikt mit Bram Stokers Erben sowie das weit über eine Konkurrenzsituation hinausgehende Verhalten der UFA gegenüber der Produktion eines anderen Unternehmens. Wer sich wenig mit den frühen Zeiten des Films auskennt, wird ausführliche Informationen erhalten. Ralf Günther hat mit seinem Jahre später entstandenen Krimi „Die Könige von Babelsberg“ die Idee aufgegriffen und eine fiktive wie steile These zum Tod von Fritz Langs erster Frau zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort entwickelt. Auch diese ist sowohl in das mondäne wie dekadente Leben der im Filmgeschäft tätigen Menschen eingebunden, als das sie sich auch an den bekannten Tatsachen orientiert. Wolfgang Schülers Sherlock Holmes war schneller, wobei das potentielle Verbrechen reine Fiktion ist.
Diese verschiedenen Exkurse verlangen auch ein wenig Geduld vom Leser. Wie sein Doktor Watson bei der Betrachtung der eigenen Gesundheit verliert sich Wolfgang Schüler in Details und treibt die Handlung vor allem im mittleren Abschnitt des Romans zu wenig voran. Zu den ersten Höhepunkten gehört Sherlock Holmes und Doktor Watsons Suche dem Mann mit der Einladung. Der erste Mord auf Augenhöhe geschieht auch erst im letzten Drittel des Romans. Die Exposition ist zu lang und Sherlock Holmes erste Schritte sowohl auf Helgoland wie auch in Berlin dauern zu lange. Das ist keine Frage des Alters, denn auf Helgoland war Sherlock Holmes auf dem Höhepunkt seiner kreativen Schöpfungs- bzw. Deduktionskraft.
Der erste Mord könnte auch ein Unfall sein. Die Ufa suchte die Dreharbeiten zu sabotieren und den Handlangern - teilweise aus persönlichen, im Ersten Weltkrieg entstandenen Konflikten - ist die Vampirlegende sogar recht.
Der zweite Mord wird als Selbstmord getarnt. Sherlock Holmes ist nicht am Tatort. Die örtliche Polizei mit einem für die Dreharbeiten abgestellten Sonderermittler stellt fest, dass der angekündigte Selbstmord ausgesprochen dilletantisch zu einem Mord wurde. Der Täter hätte nur wenige Stunden warten müssen. Auch diese Tat steht eher in Zusammenhang mit den Dreharbeiten und den persönlichen Fehden.
Am Ende der Geschichte gibt es während der Odyssee zwischen den Karpaten - jeden Tag eine neue Genehmigung - und Wismar noch eine weitere Tat. Sie wird vertuscht. Sherlock Holmes ist als Ermittler nur bedingt in Erscheinung getreten. Als stille Teilhaber begleiten Watson und Holmes die Dreharbeiten. Beim Selbstmord sind sie nicht involviert. Der in Frage kommende Täterkreis ist sehr klein, im Grunde nicht wirklich greifbar.
Auf den letzten Seiten greift Sherlock Holmes zum Ausschlussprinzip, nachdem ihm ein Ungarn bei der Übersetzung geholfen hat. Die finale Auseinandersetzung nimmt dann nicht einmal mehr drei oder vier Absätze ein. Auch hier ist es ein anwesender Polizist, der dem überforderten Watson hilft.
In der Theorie hat Wolfgang Schüler den Roman konsequent zu Ende gebracht und das finale Rätsel ist für Sherlock Holmes lange Zeit zu schwer. Erst ein neckender Brief des Rippers zwingt Holmes, die Prämissen nicht einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Der Mörder muss in der kleinen, verbliebenen Gruppe von Filmschaffenden zu finden sein. Und da bleibt aufgrund der jeweiligen Vorgeschichten; des Alters und schließlich auch des fehlenden Motivs - obwohl Vampirmorde während des Drehs an einem Vampirfilm ohne Frage eine kostenlose morbide Reklame wären - nur eine Figur übrig, die rückblickend in der Charakterisierung wirklich unwahrscheinlich erscheint.
Während des Finals zeigt sich Sherlock Holmes nicht unbedingt auf der Höhe seiner Kraft, aber zumindest kann er die jetzt deutlich erkennbaren Hinweise besser zuordnen. Der Ripper will aber auch den Sack zumachen, wobei einzelne Erkenntnisse wie ein großer monetärer Verlust während seines Aufenthalts in Japan plötzlich nicht mehr relevant sind. Ansonsten wäre die Geschichte noch lange vor sich hin geplätschert, ohne wirklich die notwendige innere Spannung aufrechtzuerhalten. Auch die Dreharbeiten an exotischen Orten und mit Murnaus für den Stummfilm experimenteller Technik werden eher gestreift.
Das Problem ist die ganze Struktur des Buches. Jack the Ripper und Sherlock Holmes haben in Wolfgang Schülers Konstruktion nichts miteinander zu tun. Sherlock Holmes ist dem Ripper nicht in die Quere gekommen. Beim Diebstahl auf Helgoland siegt abschließend auch der Verbrecher, so dass es keine Notwendigkeit gibt, unbedingt als der Mann, der Sherlock Holmes besiegt und Jack the Ripper ist, in die Geschichtsbücher einzugehen. Zumal er sich den zweiten Titel laut Wolfgang Schüler auch noch teilen muss. Die Motivation ist vage, der Konflikt zwischen den beiden Männern eher lange Zeit bemüht - andere Taten mischen sich unter - und das Finale hektisch. Ein solider, aber angesichts des Potentials mit dem für Sherlock Holmes auch ungewöhnlichen Hintergrund leider nicht herausragender Roman.
- Herausgeber : KBV (15. März 2017)
- Sprache : Deutsch
- Taschenbuch : 290 Seiten
- ISBN-10 : 9783954413652
- ISBN-13 : 978-3954413652