Als Band 44 im “Kabinett der Phantasten” erscheint eine der bekanntesten Geschichten H.P. Lovecrafts in einer neuen Übersetzung von Heiko Postma, der auch ein ausführliches Nachwort geschrieben hat. Es ist die erste Neuübersetzung der Geschichte seit vielen Jahren. Joachim Körber hat sie für seine H.P. Lovecraft Ausgabe neu übersetzt. Für seine Sammelbände hat der Festa Verlag auf die Edition Phantasia und Joachim Körbers Überstezung zurückgegriffen. Für die Publikation der wie ein Comic illustrierten großformatigen Hardcoverausgabe hat der Heyne Verlag die Übersetzung der Suhrkamp Ausgaben übernommen. Hans Carl Artmann hat für die legendären Taschenbücher mit dem lila Einband “Cthulhus Ruf” übersetzt. Der 2000 verstorbene Hans Carl Artmann gilt als einer der bedeutendsten Dichter der österreichischen Gegenwartsliteratur, der selbst neben Gedichten in Mundart fantastische Kurzgeschichten geschrieben und veröffentlicht hat.
Heiko Postma hat sich in dieser Hinsicht die Messlatte hoch gesetzt und überzeugt mit seiner neuen Übersetzung ebenfalls, auch wenn Puristen wahrscheinlich Artmanns Arbeit bevorzugen.
Im Original heißt die Geschichte „The Call of Cthulhu“, bildet eine der Kernstorys des zukünftigen Lovecraft Mythos und wurde im Februar 1928 natürlich im „Weird Tales“ Magazin mit einer einführenden Illustration Hugh Doak Rankins publiziert. Sie wurde einmal von den Herausgebern des Magazins abgelehnt. Erst Lovecrafts Freund Wandrei hat mit seiner Intervention zu einem Umdenken bei den Herausgebern geführt.
Lovecraft hat die Geschichte im Sommer 1926 geschrieben. Teile des ersten Kapitels stammen aus Lovecrafts eigenen Alpträumen, von denen er seinem Freund Reinhart Kleiner in Briefen aus dem Jahr 1920 berichtet hat. Lovecraft besuchte das örtliche Museum in Providence und wollte den Kurator überzeugen, dass er eine Skulptur für das Museum ankauft, die Lovecraft selbst geschaffen hat. Der Kurator lehnt die Figur als neu ab, während Lovecraft auf die Träume verweist, welche die Menschen seit Jahrtausenden haben. In der vorliegenden Geschichte gibt Henry Anthony Wilcox dem Onkel und damit auch ersten Chronisten des Ich- Erzählers
gegenüber zu, dass es sich zwar um eine neue Figur handelt, aber sie aus seinen eigenen Träumen stammt, die wiederum in Wurzeln teilweise im alten Babylon haben.
Die eigentliche Geschichte besteht aus drei eng miteinander verbundenen Teilen. Die eigentliche Handlung besteht aus kommentierten Aufzeichnungen, die Francis Thurston gehört. Er folgt ihnen nicht freiwillig, sondern mehr vom eigenen Forscherdrang angetrieben der vor ihm ausgelegten Spur der antiken und seit Äonen eigentlich unter dem Meer schlafenden Gottheit Cthulhu. In den Hinterlassenschaften seines plötzlich an
einem herzinfarkt verstorbenen Großonkels Professor Angeli findet der Erzähler Hinweise auf eine seltsame Tonskulptur, die Henry Wilcox im März 1925 geformt hat. Die Inspiration erreicht ihn in seinen Träumen. Auch andere Künstler haben zeitgleich an unterschiedlichen Orten ähnliche Alpträume gehabt, die sie in ihren Bildern oder Skulpturen verarbeitet haben. Es handelt sich in erster Linie um Künstler oder Architekten. Schriftsteller lässt Lovecraft vielleicht absichtlich aus. Angeli stellt eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Wilcox Skulptur und einer Figur fest, welche Polizisten bei einer Razzia in den Sümpfen New Orleans im Jahre 1907 beschlagnahmt haben. Dieser Fund ist Teil des
zweiten Berichts, den der Erzähler in den Hinterlassenschaften seines Onkels findet. Der Polizist Legrasse hat ihn geschrieben. Hier finden sich auch die ersten Hinweise auf den archaischen Gott Cthulhu und eine bestimmte Sternenkonstellation, die ihn erwecken wird.
Im letzten Abschnitt erfährt der Erzähler vom norwegischen Seemann Gustaf Johansen, der einzige Überlebende eines aufgefundenen Schiffes ist. Es gelingt seinen Kameraden und ihm, einen Piratenüberfall abzuwehren, sie müssen aber die Schiffe wechseln und landen schließlich an den Gestaden einer ihnen unbekannten Insel mit bizarren Felsformationen, aber auch einer gigantischen Treppe und einem entsprechenden Steinportal.
Das in der Geschichte beschriebene Erdbeben ist wahrscheinlich das Charlevoix- Kamouraska Erdbeben aus dem Jahr 1925.
Literarisch finden sich in dieser kurzen Story sehr viele Anspielungen beginnend bei Lord Dunsays frühen Geschichten, die Lovecraft sehr stark beeinflusst haben und dessen Götterwelt jenseits der menschlichen Vorstellungskraft. Sowohl die Beschreibung der Tonfigur als auch die abschließende Erscheinung des antiken Gottes sind nur bedingt aussagekräftig. Vieles überlässt Lovecraft absichtlich der Phantasie seiner Leser. So ist auch die finale Flucht des Norwegers fast mystisch verklärt, aber in der vorliegenden Form nicht rational erklärbar. Guy de Maupassants “Die Horla” und Alfred Tennysons “The Kraken” fließen in dem über Äonen abgeschieden auf dem Meeresgrund schlafenden Gott zusammen. Die Fragmenttechnik mit aufgefundenen Berichten ist ebenfalls nicht neu. Lovecraft ist ein Bewunderer Arthur Machens gewesen, so dass die Möglichkeit besteht, dass sich der Amerikaner hier bedient hat.
Abraham Merritt hat zu Beginn seiner Karriere Lovecraft mit seiner Novelle “Der Mondsee” begeistert. Die Romanfassug hat Lovecraft gehasst. In beiden Geschichten gibt es “Tore”, welche die jeweiligen Charaktere in unirdische Welten voller Wunder - bei Merritt - und tödliche Gefahren - bei Lovecraft - führen. Lovecraft kopiert nicht einfach, sondern extrapoliert Ansätze und Ideen auf seine eigene, ein wenig paranoid wirkende egozentrische Art und Weise.
Das Ende der Geschichte ist eine klassische, prophetische Warnung vor den uralten Gefahren, welche die Menschheit bedrohen und die nur einen Schlaf/ eine geeignete Sternenkonstellation entfernt lauern. Ihr Ziel ist - nicht nur in dieser Geschichte - die Vernichtung der Menschheit. Lovecraft hat immer wieder auf diese nicht unbedingt subtilen Warnungen zurückgegriffen und sich damit als Autor auch angreifbar gemacht. Die Vorgehensweise könnte stereotyp wirken. Epigonen wie Ramsey Campbell haben in den ersten Jahren ihrer Karriere aus dieser Art von prophetisch dunklen wie offenen Enden fast eine Farce gemacht.
Auch wenn der Plot aus heutiger Sicht ein wenig simpel strukturiert erscheint und sich Lovecraft nicht nur in dieser Geschichte relevanten Antworten auf die von ihm selbst mittels seiner forschenden Figuren aufgeworfenen Fragen verweigert. So bleiben zwei plötzliche Todesfälle durch einen Herzinfarkt unaufgeklärt. Wahrscheinlich haben die Götter ihren langen Atem übers Land ziehen lassen oder ihre Jünger ausgeschickt, Aber solche offenen Flanken gehören zu den Spannungsszenarien, mit denen Lovecraft immer wieder gespielt oder sie trotz seiner minutiösen Arbeitsweise - erst handschriftlich und dann widerwillig mit Schreibmaschine - einfach vergessen hat. Fast einhundert Jahre nach der Erstveröffentlichung spielt das auch keine Rolle mehr. “The Call of Cthulhu” gehört zu den ersten Meisterwerken Lovecraft in seiner zweiten literarischen Phase, in welcher er den Einfluss Lord Dunsanys abgestreift und sich als Schriftsteller abseits der damaligen öffentlichen Meinung in erstaunliche wie zeitlose Richtungen entwickelt hat.
Heiko Postma hat die Novelle nicht nur aus dem Englischen neu übersetzt, sondern dem Text ein umfangreiches Nachwort hinzugefügt. Dabei reicht das Spektrum von der ersten Ablehnung durch den Herausgeber des „Weird Tales“ Magazins über Lovecrafts verschiedene Schöpfungsphasen bis zu dessen Einfluss auf Arno Schmidt und einen unvollendeten Roman. Das Nachwort wird durch Zitate bereichert.
„Cthulhu´s Ruf“ leitete die finale und aus heutiger Sicht wichtigste Phase in Lovecrafts Werk mit dem kosmopolitischen Schrecken der Großen Alten ein, die geduldig auf ihre Widerkehr warten. Es flossen mehr verfremdete Science Fiction Elemente in Lovecrafts Werk ein, auch wenn der Autor weiterhin seinem eigenen Werk kritisch gegenübergestanden ist.
Auch die Vergleiche zu Arno Schmidts „Julia“ Roman sind interessant und zeigen auf, dass nicht nur Karl May, sondern auch andere auf den ersten Blick Unterhaltungsautoren wie Robert Kraft – sein Vater hat Arno Schmidt aus „Detektiv Nobody“ vorgelesen- und eben Lovecraft dem Autoren präsent gewesen sind. Heiko Postma versucht noch einige persönliche Vergleiche, wobei in einem Punkt immer wieder die Zeit herausgearbeitet werden muss. Ja, Lovecraft lebte im Grunde eher aufgrund seiner Erziehung im 19. Denn 20. Jahrhundert. Ja, auf den ersten Blick ist er eher ein Einsiedler gewesen. Das ist aber nur bedingt richtig. Unabhängig von der gewaltigen Post war er in seiner kurzen New Yorker Zeit Gründer und Mitglied des Kalem Clubs. Die Freunde trafen sich oft und lange, unternahmen Streifzüge durch das nächtliche New York und unabhängig von seiner unter falschen persönlichen Voraussetzungen von beiden Seiten geschlossenen Ehe genoss Lovecaft im persönlichen Umfeld, aber nicht im Moloch New York die Zeit. Wer Lovecrafts Briefe liest, wird immer wieder feststellen, dass er auf seinen Reisen in den USA Freunde und Bekannte getroffen hat. Er hat sie auch bei sich empfangen. Lovecrafts Problem ist es gewesen, dass er immer am Existenzminimum herumkratzte und aufgrund seiner schlechten Ernährung inklusive Vitaminmangel an Darmkrebs gestorben ist. Lovecraft übernahm gerne die Perspektive des Einsiedlers, aber tief in seinem inneren traf er gerne andere Menschen, korrespondierte mit ihnen und reiste vor allem auch gerne. Soweit es seine finanziellen Möglichkeiten erlaubten und das ist der springende Punkt. Er musste sparen, um sich etwas zu erlauben.
Ansonsten arbeitet Heiko Postma verschiedene Querverbindungen zu anderen Werken Lovecrafts überzeugend und für Neueinsteiger in das Werk des Amerikaners jederzeit nachvollziehbar heraus. Das Nachwort ist umfangreich, vermischt bekannte und wenige neue Fakten und liest sich gefällig als gute Begleitung zu „Cthulhu´s Ruf“. Es sollte aber unbedingt als Nachwort gelesen werden, da Heiko Postma auch auf die vorliegende Geschichte inklusiv deren Ende ausführlich eingeht.
- Herausgeber : JMB Verlag
- Erscheinungstermin : 15. Dezember 2021
- Auflage : 5.
- Sprache : Deutsch
- Seitenzahl der Print-Ausgabe : 78 Seiten
- ISBN-10 : 3944342208
- ISBN-13 : 978-3944342207
- Originaltitel : The Call of Cthulhu