Ihr wollt es dunkler

Stephen King

Der Titel von Stephen Kings neuer Sammlung kürzerer Texte – es handelt sich ja nicht ausschließlich um Kurzgeschichten – bezieht sich nicht nur auf einen Leonard Cohen Song, sondern drückt Stephen Kings Wunsch aus, wieder fieser zu werden und dunklere Storys zu präsentieren. Dabei handelt es sich allerdings bei der vorliegenden Sammlung im positiven Sinne auch um eine Mogelpackung, denn erstens sind nicht alle Texte wirklich dunkler/brutaler/unheimlicher, sondern mit einem ordentlichen Schuss positiver Altersweisheit streifen sie eine Reihe von Themen, die das Werk des Amerikaners so zeitlos einzigartig als Ausdruck des Schmelztiegels der amerikanischen Gesellschaft in unterschiedlichen Zeiten machen.  

Nicht nur in der Auftakt Geschichte „Zwei begnadete Burschen“  ist Stephen King auf den kreativen Schöpfungsprozess mit einem Schwerpunkt Schreiben eingegangen. Es finden sich mehrere Texte in dieser Sammlung. Dazu kommen eine Reihe von Romanen, in denen sich der Amerikaner mit dem schmalen Grat zwischen Talent, Erfolg und schließlich auch Misserfolg beschäftigt hat.

Auch wenn im Herzen von „Zwei begnadete Burschen“ eine fast absurde Science Fiction Idee steckt, die der Leser in dieser Form eher als Unfug abtun könnte, handelt es sich um eine melancholische Geschichte von lebenslanger Freundschaft, einem erfüllten wie einfachen Leben und der Wehmut, welche die Kinder durchleben müssen, wenn sie Wahrheiten erfahren. Der Erzähler ist der Sohn eines Bestsellerautoren, den er im hohen Alter pflegt. Nach einem Jagdausflug mit seinem besten Freund und Geschäftspartner 1978 hat sich sein Leben geändert. Im Grunde haben sich beide Leben geändert. Der eine der beiden Männer ist plötzlich ein berühmter Künstler geworden, dessen Bilder sich für Millionen verkaufen. Und der Vater des Erzählers ist – wie angesprochen – mit einem Dutzend Romanen in die Bestsellerlisten aufgestiegen. Erst nach dessen Tod und durch die Recherchen einer attraktiven Journalistin aufmerksam gemacht, spürt er deren gemeinsamen Geheimnis nach.

Auch wenn es einen äußerlichen Anlass gibt, macht Stephen King deutlich, dass das Talent schon vorher vorhanden gewesen sein muss. Manche Menschen können er erwecken (lassen), sind zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Für andere Menschen bleibt es eine Sehnsucht. „Zwei begnadete Burschen“ ist eine wundervolle Geschichte um normale Menschen, denen aufgrund ihrer Menschlichkeit Unnormales geschieht. Die aber vor allem bodenständig bleiben und nicht abheben.

Die längste Geschichte – Novelle – der Sammlung ist „Danny Coughlins böser Traum“.  Wie in seinen letztem Arbeiten beginnend mit „Later“ kombiniert Stephen King einen Kriminalfall – ein junges Mädchen wird vergewaltigt und ermordet – mit einem übernatürlichen Ansatz. Der Hausmeister einer Schule Danny Coughlin – geschieden, früher Alkoholiker – hat einen Alptraum, in dem er hinter einer verlassenen Tankstelle eine Hund aus dem Boden ragen sieht, an welcher ein Hund nackt. Seine Ex Frau bestätigt ihm, dass er auf der durch das Internet angegrenzten Route niemals gefahren ist. Danny Coughlin macht sich auf den Weg, findet tatsächlich die Leiche und den Hund. Mit einem Wegwerfhandy informiert er anonym die Polizei und sein Alptraum beginnt.

Der mehr und mehr obsessiv agierende Polizist Franklin Jalbert ist davon überzeugt, dass Coughlin der Täter ist. Mittels Überwachungsvideos und der Stimmaufzeichnung haben sie ihn identifiziert.  Jalberts jüngere Kollegin Ella Davis hat anfänglich noch Zweifel, lässt sich aber durch Jalberts paranoides Verhalten mitziehen.

Die inzwischen informierte Öffentlichkeit sieht in Coughlin den Täter. Sein Leben gerät aus der Bahn, er wird entlassen und bedroht.

Schon in seinem Roman „Der Outsider“ – die beste Geschichte der Holly Serie – beginnt Stephen King mit einem unmöglichen Kriminalfall. Ein Mann ist gleichzeitig  an zwei Orten. An einem Ort steht er vor vielen Zeugen am Rand des Sportfelds, am anderen Ort hat er eine Frau bestialisch ermordet. Alle Spuren deuten auf ihn als Täter hin.

In der vorliegenden Novelle ist es genau anders herum. Es gibt keinen einzigen Beweis, dass Danny Coughlin der Täter ist. Auf der anderen Seite ist die Novelle allerdings auch so strukturiert, dass er es in der Theorie sein könnte. Die Geschichte beginnt mit seinem Alptraum, seiner Vorhersage. Dem einzigen, vorausgreifenden Traum in seinem bisherigen Leben. Eine für die Polizisten genauso unwahrscheinliche Ausgangslage wie für Danny Coughlin.

Danny Coughlin ist ein sympathischer Charakter mit einigen Fehlern in seiner Vergangenheit. Als er noch getrunken hat, bedrängt er von der anderen Straßenseite nachts seine damalige Frau, zu ihm zurückzukommen. Inzwischen ist er trocken, arbeitet minutiös als Hausmeister und hat eine Freundin mit besonderen Vorzügen im Trailerpark. Mit ihrer Tochter versteht er sich sehr gut, ist eine Art zuverlässiger Ersatzvater, was durch den subjektiven und manipulierten Blick der Öffentlichkeit auf sein „Verbrechen“ deutlich verzerrt wird.

Franklin Jalbert ist verrückt. Er ist besessen davon, Coughlin zu überführen. Er platziert Beweise für ein anderes Verbrechen, er ignoriert als Beweise, die auf seine Unschuld hindeuten. Er ist im Grunde verrückt. Er ist besessen von Zahlen, braucht Glückszahlen, die er durch das Arrangieren von Stühlen, das Zählen seiner Wäsche oder andere alltägliche Kleinigkeiten herstellt. Nur mit den richtigen Zahlen an seiner Seite kann er noch arbeiten, wobei die eindimensionale Suche nach dem einzigen aus seiner Sicht in Frage kommenden Täter und der Druck, ihn zu einem Geständnis zu bringen, nicht mehr als normale Arbeit angesehen werden kann.

Ein großes Problem seiner Krimi- Romane mit übernatürlichen Elementen wie „Der Outsider“ und vor allem „Later“ ist die Rückkehr zu einer Art Realität und damit die Aufklärung des Falls. Bei „Der Outsider“ grifft Stephen King auf eine alte Science Fiction Idee zurück, die auf den ersten  Blick absurd erschien,  aber durch die konsequente und geerdete Erzählstruktur schließlich haften geblieben ist.   In „Later“ kann der jugendliche Protagonist Jamie Conklin sich mit Geistern unterhalten. Diese Geister müssen alle Fragen des Jungen wahrheitsgemäß beantworten.     

In der vorliegenden Novelle treibt Stephen King die Verfolgung eines Unschuldigen auf die Spitze. Danny Coughlin kann den “Geistern”, welche Andere aufgrund von Gerüchten und unbewiesenen Beschuldigen heraufbeschworen haben, nur bedingt entkommen. 

Das Finale ist in doppelter Hinsicht interessant. Was übernatürlich beginnt, muss auch auf eine vergleichbare Art und Weise enden. Die Dynamik, mit der sich Jalbert aktiv und Coughlin passiv aufeinander zu bewegen, ist atemberaubend, rasant und gleichzeitig auch emotional ergreifend.  Positiv ist, dass Stephen King seine beiden wichtigsten Protagonisten in ihren geistigen Schienen bestehen lässt und Calbert schließlich nur einen Ausweg sieht, um seiner stetig wachsenden Paranoia zu entkommen. Warum Coughlin träumte, bleibt das unausgesprochene phantastische  Element dieser interessanten Novelle, deren Boden realistisch, deren Verlauf teilweise phantastisch und deren Ende so pragmatisch wie konsequent  zugleich ist.   

Zu den besten Geschichten gehört in mehrfacher Hinsicht „Auf der Slide Inn Road“.  Die Familie bestehend aus drei Generationen . Großvater, sein Sohn und die Schwiegertochter sowie die beiden Enkel- befinden sich auf dem Weg zur im Sterben liegenden Schwester des Großvaters. Die typischen, aber nicht ungewöhnlichen zwischenmenschlichen Konflikte brechen auf der Fahrt durch die Einöde auf. Als sie auf einer Straßen nicht weiterkommen, treffen sie auf zwei Mörder – die Kinder haben deren Opfer gesehen -, die der Familie beim Wenden des Wagens helfen wollen. Es kommt zu einer direkten Bedrohung der Familie und es ist nicht der Familienvater, welcher die Situation klärt.

Zu Beginn seziert Stephen King in seiner bekannten wie brillanten Art und Weise das zwischenmenschliche Verhalten innerhalb einer Familie. Der Großvater, der die Enkel begeistert; die Eltern aber nervt. Die Reise zur im Sterben liegenden Schwester, welche der Großvater ausgerechnet in seinem alten Wagen machen möchte, die Langeweile des Sohns und seiner im Grunde auch ein wenig distanziert zickigen Art und Weise. Dann die Konfrontation mit den Verbrechern, bei denen sich der Sohn als Feigling erweist, der Großvater die Initiative übernimmt. Schließlich die Erkenntnis, das die Vergangenheit in Ehren gehalten werden soll, das gegenwärtige Leben aber niemals unterdrücken darf. Der Eruption der Gewalt durch die ein wenig stereotype Überzeichnung der natürlich brutalen, psychopathischen, dann auch pathetisch dummen und sich selbst überschätzenden Straßenräuber wirkt fast wie eine Farce auf dieses Subgenre. Es ist ein schmaler, aber emotional auch befriedigender Grat, auf dem sich Stephen King bewegt. Aber nicht nur die Zufriedenheit der älteren Generation im direkten Kontrast zu den Schwächlingen, den eigenen Kinder ragt aus dieser kurzen, aber auch positiv gesprochen fiesen Geschichte heraus, sondern Stephen King zeigt auch auf, dass insbesondere die Enkel mit ihrer kindlichen Neugierde und ihrer Offenheit intellektuell sehr viel weiter sind als die eigenen Eltern.   

„Klapperschlangen“ ist eine weitere überzeugende Novelle. Schon mit „Doctor Sleep“ grifft Stephen King auf den wichtigsten Protagonisten aus „The Shining“ zurück und erzählte sein Leben weiter. In „Klapperschlangen" ist es Vic Trenton, eine Nebenfigur aus „Cujo“. Der Ehemann, dessen Sohn beim Angriff des tollwütigen Hunds stirbt. Dessen Frau todesmutig um das Überleben der Beiden gekämpft haben.

Daneben gibt es noch Querverweise auf Kings Roman „Duma Key“ und Lloyd Sunderland mit Laurie haben einen Cameo Auftritt. Ihre Geschichte erzählt Stephen King an einer anderen, vorangestellten Stelle dieser Sammlung, so dass chronologisch „Laurie“ und „Klapperschlangen“ aufeinander aufbauen.

 Vic Trenton zieht Vic Trenton nach dem Tod seiner Frau in das große Hause seines Freundes Greg, um sich von dem tragischen Schicksalsschlag zu erholen. Gleichzeitig breitet sich Corona aus. In diesem Punkt ist es nicht die einzige Geschichte, in welcher die Covid Zeit eine untergeordnete, aber immer wiederkehrende Rolle spielt.

Vic Trenton hat an „Cujo“ seinen vierjährigen Sohn verloren. Seine Ehe ging in die Brüche. Erst Jahrzehnte später hat er seine damalige Frau wiedergetroffen. Sie haben sich neu ineinander verliebt und schließlich ein zweites Mal geheiratet. Ihre zweite Lebenschance wird in kurzen, aber sehr emotionalen Rückblenden erzählt.

Während seiner Spaziergänge an der Golfküste trifft Vic Trenton auf Alita Bell, die einen Einkaufswagen vor sich herzieht. Zwei Kindershirts liegen da. Anscheinend glaubt sie, dass sie ihre Zwillinge schiebt, die bei einem tragischen Unfall – sie haben sich auf Schatzsuche begeben und wurden von Klapperschlangen vor mehr als vierzig Jahren getötet – die Kinder verloren hat.

Vic Trenton besucht Alita noch einmal. Kurze Zeit später findet er sie tot auf der Straße. Ein Testament taucht auf, dass Vic Trenton das Anwesen direkt am Golf vermacht. Plötzlich ist er Verdächtiger, auch wenn es keine Hinweise auf eine unnatürliche Todesursache gibt.

Viel schlimmer ist, dass sich Alita anscheinend nicht eingebildet hat, dass die beiden Zwillinge ihr erscheinen.

„Klapperschlangen“ ist eine wunderbare Geschichte, welche einzelne Schockelemente aus Stephen Kings frühem Werk mit seiner Altersweisheit der Gegenwart verbindet. Vic Trenton bewegt sich auf einem schmalen Grat. Natürlich darf er sich nicht nur an der Vergangenheit – der Tod seines Sohns, das Schicksal seiner Frau – festhalten, aber die Frage stellt sich ihm nicht immer. Viel mehr arbeitet Stephen King heraus, dass sich auch die Vergangenheit in Form von Geistern an der Gegenwart und damit auch den betroffenen Personen förmlich festkrallt. Loslassen ist in dieser Novelle ein doppelter Prozess.  In seinem Roman „Bag of Bones“ hat sich vor dem Hintergrund von „Duma Key“ – beide Romane fließen indirekt in diese Novelle ein – mit dem Thema Geister auseinandergesetzt. Subtil integriert der Amerikaner die übernatürlichen Elemente. Vic Trenton hat bislang gedacht, dass das Erscheinen seines Sohns eine finale Vision seiner Frau gewesen ist. Das die beiden Zwillinge im in dieser Hinsicht kranken Geists ihrer Mutter lebendig geblieben sind. Erst nach und nach zeigt sich, dass es viel mehr ist. Hinzu kommt, dass der Aspekt des Loslassens nur aktiv betrieben werden kann. Vic Trenton steht vor der schwierigen Aufgabe, die Geister der Vergangenheit zu vertreiben, bevor sie ihn in den Wahnsinn treiben. Das bedeutet aber auch, das finale Schicksal seines Sohns zu akzeptieren und vor allem sich von ihm zu verabschieden. Keine leichte Entscheidung.

Die Charaktere sind dreidimensional gezeichnet, wobei Stephen King wie in „Danny Coughlins böser Traum“  auch einen übereifrigen, unsympathischen und verzweifelt einen Mörder für ein Verbrechen suchenden Polizisten einführt. Einen Täter für einen Mord, den es nicht gegeben hat. Das wirkt ein wenig schematisch im direkten Zusammenhang mit der in dieser Hinsicht überlegenen Danny Coughlin Geschichte, aber Stephen King braucht eine Idee, um Vic Trenton in Florida festzuhalten.

Es ist eine wunderbare Novelle, an deren Ende der Leser Vic Trenton alles Gutes wünschen möchte. Wie in „Doctor Sleep“ hat er sein ursprüngliches Trauma endlich überwunden und kann seine letzten Jahre – zu Beginn der Geschichte ist er über siebzig Jahre alt – in Frieden leben. Voller Zuversicht, dass es vielleicht noch etwas im Danach gibt.

Die Atmosphäre in den Florida Keys, die Bedrohung durch Klapperschlangen – in „Laurie“ ist es ein Alligator - ; diese seltsame Balance zwischen den aggressiven Neureichen und den stoisch auf ihren Grundstücken sitzenden „Ureinwohnern“ und die beklemmend erdrückende Atmosphäre im Sommer bilden einen perfekten Hintergrund für die Geschichte.      

Stephen King trifft Frank Capra in der Twillight Zone. Das sind Schlagworte, welche auf die mit Abstand beste Novelle „Der Antwort- Mann“ zutreffen. Ein ganzes Leben mit Höhen und Tiefen auf knapp fünfzig Seiten.

Die ursprüngliche Idee stammt schon aus dem Jahr 1977. Stephen King brach die Novelle nach sechs Seiten ab. 2010 stellte Stephen King einen Rohentwurf fertig, archivierte aber den Text. Sein Neffe John Leonhard fand das Manuskript und überzeugte King, die Geschichte fertigzustellen.

Phil Parker hat gerade das Jurastudium abgeschlossen. Seine Familie erwartet, dass er in die Kanzlei des Großvaters und Vaters eintritt. Auch der Vater seiner Jugendfreundin, späteren Liebe und schließlich Verlobten arbeitet dort. Aber Phil Parker möchte seinen eigenen Weg gehen. In der unbedeutenden Gemeinde Curry.

Während der Fahrt auf der Route 11 findet er ein ungewöhnliches Schild. Der Antwort-Mann bietet für 25 Dollar – damals eine Menge Geld – fünf Minuten Antworten an. Die ersten zwei Fragen sind gratis. Aber niemals darf nach „Sollte ich…“ gefragt werden. Phil Parker denkt an einen geschickten Betrüger, lässt sich aber auf das Spiel ein. In den fünf Minuten bekommt Phil Parker Antworten auf alle Fragen für die nächsten Jahre. Er wird seine Verlobte heiraten, er wird in Curry Erfolg haben und er wird im Zweiten Weltkrieg überleben.

Vierzehn Jahre später trifft er wieder durch einen Zufall auf den Antwortmann. 3 Minuten, zweihundert Dollar, nur eine Frage frei. Wie Phil Parker als Ich- Erzähler dem Leser gleich klar macht, handelt es sich um die zweite von insgesamt drei Begegnungen. Dessen Preise sind  gestiegen. Auf Phil Parkers nächsten Block von Fragen antwortet er wieder wahrheitsgemäß und alles trifft auf. Dieses Mal liegt das Problem aber in der Art der Fragestellung und den Interpretationen Parkers.

1995 wird er ein drittes Mal den immer noch hinsichtlich seiner äußerlichen Erscheinung unveränderten Antwort- Mann treffen. Alle Fragen sind kostenlos.

Frank Capra hat in seinen Filmen immer den Kampf des einfachen amerikanischen Mannes gegen das Schicksal und damit auch die kapitalistischen Mächte beschrieben. Phil Parker gelingt in einem seiner Prozesse ein spektakulärer Pyrrhussieg. Zu diesem Zeitpunkt hat Phil Parker im Grunde keine andere Aufgabe mehr. Privat erleidet er eine Reihe von Schicksalsschlägen, welche der Antwortmann im kryptisch vorhersagt, die aber von Phil Parker falsch und zu optimistisch interpretiert werden. Mit jeder Niederlage muss sich Parker die Frage stellen, ob sich Aufstehen noch lohnt.

Jeder Versuch, die Zukunft der eigenen Familie und vielleicht auch das eigene Schicksal zu plane, wird unterminiert. Das Leben ist  keine gerade Straße, sondern eine Achterbahn mit vielen Höhen und Tiefen. Trotzdem ist jedes Leben bedeutsam. Stephen King zeigt wie Rod Sterling, wie bedeutsam jedes Leben sein kann und das es vielleicht nach dem Tod noch etwas anderes gibt. Hier bleibt Stephen King vage, aber mit seinem charismatischen Charakter – der Antwortmann – etabliert er eine Figur, welche nicht nur Phil Parker, sondern auch der Leser glauben möchte. Vielleicht auch glauben sollte.

Der Ton wird im Laufe der Geschichte dunkler, aber Stephen King führt keine Bedrohung von außen ein. Ohne den Charakter des Antwortmannes, welcher der Geschichte eine pointierte Note gibt, könnte es sich um eine realistische Coming-of-Age weit über die jugendlichen Pläne und Träume hinaus handeln. Es sind einzelne Szenen, welche den Leser zu Tränen rühren. Dann finden sich Passagen, in denen der Leser an  der Seite von Phil Parker stoisch für Gerechtigkeit kämpft, auch wenn das eigentliche Opfer es nicht mehr miterlebt. Der Blick in die nächste Welt; die Hoffnung, dass es mit dem Tode nicht zu Ende ist, erscheint als passender berührender Abschluss dieser Geschichte.

Der Antwortmann fasst viele Themen aus Stephen Kings Werk – die Berührung mit dem Übernatürlichen; die Sehnsucht nach vergangenen, besseren Zeiten; Freude und Trauer; berufliche Herausforderungen und schließlich das Abschiednehmen – perfekt zusammen. Selten war der Begriff des magischen Realismus passender für eine Stephen King Geschichte und es wäre ein kraftvolles Schlusswort in seinem mehr als fünf Jahren umfassenden Werk.

Neben den Novellen und einem Kurzroman finden sich auch einige echte Kurzgeschichten in dieser Sammlung. Sie sind deutlich stringenter angelegt, zielen direkt auf die Pointe und machen dem von  Leonhard  Cohen abgewandelten Titel mehr Ehre.

„Laurie“ ist eine Kurzgeschichte, die inhaltlich nicht wirklich in diese Sammlung passt und durch die Verbindung zu „Klapperschlagen“ doch. Ein Mann, der gerade seine Frau verloren hat, erhält von seiner Schwester einen Welpen geschenkt. Die Anpassung des in seinem geistigen Käfig gefangenen Mannes an den kleinen Wonneproppen ist schwierig. Hier arbeitet Stephen King alle Notwendigkeiten ab, die aber auch klischeehaft wirken. Später wird Laurie mutig seinem Herrchen in einer gefährlichen Situation helfen.

Die Zeichnung des Witwers ist gut. Voller Selbstmitleid, mit sich und der Welt unzufrieden. Durch die Beziehung zu der nur Liebe ausstrahlenden Laurie, die Spaziergänge und vor allem die Verantwortung kehrt er in die Welt zurück. Ein Experiment, das nicht immer funktioniert und da es sich um eine Stephen King Geschichte handelt, ist der Leser auch überzeugt, dass es einen dunklen Hacken gibt, aber der Stephen King von heute ist nicht mehr der Stephen King aus der „Cujo“ Zeit. Er ist altersmilder geworden, auch wenn er immer noch Schockeffekte setzen kann. „Laurie“ ist nicht schlecht. Keine Geschichten mit einem Welpen, der seine neue und hoffentlich sichere Welt entdeckt, kann schlecht sein. Aber sie ist gewöhnlich und das ist im Umkehrschluss für Stephen King eher zu wenig.  

In „Der fünfte Schritt“ wird eine gute Tat nicht belohnt. Ein älterer Mann setzt sich jeden Tag in den Park, um die Times zu lesen. Als sich ein Fremder auf seine Bank setzt und um einen Gefallen bietet, ahnt er nicht, dass sich sein Leben komplett verändern wird. Stephen King baut die Spannung subtil auf, um dann auf den letzten beiden Seiten den Leser vor dem Protagonisten ahnen zu lassen, dass er in unmittelbarer Gefahr ist. Die Pointe ist brutal, ergibt rückblickend eine perverse Art von Sinn, aber „Der fünfte Schritt“ ist eine dieser King-Geschichten, die aufgrund der dann Vertrautheit mit dem Ende nicht zu einer zweiten Lektüre einladen.

„Willie, der Wirrkopf“ dagegen ist deutlich subtiler. Der seltsame Junge lauscht immer wieder den Geschichten seines Großvaters, der angeblich im Bürgerkrieg gedient und Kleopatras Titten gesehen hat. Der Großvater erkrankt an Krebs und Willie ist von der Idee, dessen Tod live zu sehen, vollkommen besessen. Das Ende ist doppeldeutig. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass diese Langlebigkeit, aber nicht Unsterblichkeit echt ist- das phantastische Element in dieser Kurzgeschichte und damit lässt sich die Pointe auch erklären. Auf der anderen Seite könnte es sich alles auch um eine gute vom Großvater erzählte lange Geschichte handeln und die Pointe ist eher Einbildung, denn real. Diese Ambivalenz zeichnet die Story aus, wobei Stephen King hier auch einige Versatzstücke wie den seltsamen, von seiner Umwelt gehänselten Jungen nutzt, die langjährige Leser seines umfangreichen Werkes aus anderen Geschichten kennen.   

Die Kurzgeschichte „Finn“ hat Stephen King exklusiv für Scribd geschrieben. Finn ist ein Jugendlicher mit irischen Wurzeln, der immer wieder vom Pech verfolgt wird. Seine Großmutter sagt zwar, wer einmal Pech wird, dem wird es mit zweimal Glück vergolten. Aber davon ist Finn weit entfernt. So wird er von psychopathischen Entführern in einen Wagen gezerrt, gefoltert und mit dem Tod bedroht. Anscheinend wurde er verwechselt, wobei nicht klar ist, ob der Anführer der Entführer nicht nur psychisch krank ist und den zahllosen Kriegs- und Spionage Spielen verfallen ist. Keine seine Forderungen an Finn machen Sinn. Das Handbuch ist in schlechtem Englisch geschrieben und jeder Versuch Finns, seine Identität zu beweisen, wird abgelehnt.

„Finn“ ist eine dunklere, eine brutale Geschichte mit einem bitterbösen, zynischen Ende.  Die Geschichte spielt in Irland, was die Affinität zu Straßengewalt, zu Spionen (aus den britischen Reihen) und schließlich auch der Idee einer Terrorzelle erklären könnte. Aber Stephen King zeigt am armen Finn auf, wie schnell die vorher schon brüchige Welt einbrechen kann. Wie schnell der schmale Grat zwischen Alltag und Irrwitz überschritten wird.  Das Ende ist fatalistisch und hoffnungslos zugleich. Es kommt aus dem Nichts und zeigt auf, dass es für die Opfer von Gewalt im Grunde keinen befreienden Moment mehr gibt.  

„Das rote Display“ ist eine kurze, seltsame und gegen Ende auch unbefriedigende Kurzgeschichte. Frank Wilson hat private Probleme, seine Frau ist nörgelig. Wilson arbeitet für die Mordkommission und wird mit einem Mörder konfrontiert, der zwar zugibt, eine Frau ermordet zu haben, aber behauptet, es wäre nicht seine Frau, sondern ein Alien, das ihren Körper übernommen hat.  Am Ende bleibt mit den Erklärungen von Wilsons Frau und der als Paranoia eingestuften Erklärung des Mörders im Grunde alles offen. Die Kurzgeschichte wirkt eher wie eine Art Fingerübung, ein unfertiger Entwurf und erreicht nicht das Niveau der längeren Texte dieser Anthologie. Es besteht die Möglichkeit, dass auch Wilsons Frau ein Alien sein könnte. Aber diese These ist ebenfalls unterdurchschnittlich entwickelt und bleibt ausgesprochen vage.

Es wirkt auf den ersten Blick widersprüchlich, aber Stephen Kings „Fachmann für Turbulenzen“ ist eine der optimistischen Geschichten dieser Sammlung. Dabei bleibt der Hintergrund vage. Der Leser hat das Gefühl, als wenn er einem Profikiller bei der Arbeit zusieht. Drakonische Strafen inklusive.

Aber tatsächlich gibt es eine Organisation, welche die Gefährdung von Flugzeugen durch heftige überraschende Luftturbulenzen vorhersehen kann. Und sie schickt Spezialisten für diesen Fall. Dabei erinnert der sehr gut bezahlte Dienst auch an eine Art Fronarbeit, Widerspruch oder längerer Urlaub ist nicht immer erlaubt. In typischer Stephen King Manier entwickelt der Autor ein unglaubwürdiges Szenario überzeugend weiter. Er präsentiert „Fakten“, die Logik wird nicht hinterfragt. Aber das macht auch den Reiz dieser Geschichte aus.   

Der Hauptcharakter ist sympathisch. Die Dialoge mit seiner Sitznachbarin sind warm und auf eine gewisse Art auch zielfördernd. Die Pointe ist interessant, beinhaltet aber keinen Holzhammer. Der Leser wünscht sich mehr Informationen über die Organisation, aber vielleicht macht diese Ambivalenz auch den Reiz der ganzen Prämisse aus. Und der Titel der Story ist brillant und passt wie die Faust aufs Auge. Ursprünglich erschien die Geschichte in der ebenfalls auf Deutsch publizierten Anthologie „Flug und Angst“.   

„Die Träumenden“ ist Cormac McCarthy gewidmet, dessen Werk Stephen King beeindruckt hat. „Die Träumenden“ ist aber auch eine der wenigen Geschichten- viele sind in der Sammlung „Briefe aus Jerusalem“ zusammengefasst  -, die von H.P. Lovecraft inspiriert worden ist. Der mit einem perfekten Gedächtnis ausgestattete William Davis bewirbt sich auf eine seltsame Stellenanzeige. Ein Wissenschaftler arbeitet heimlich und mit eigenen entwickelten Medikamenten in der Traumforschung. Natürlich reißt er die Mauern zwischen zwei Welten nieder, was niemals geschehen sollte. „Die Träumenden“ ist eine erstaunlich geradlinige Geschichte, erzählt in einem melancholischen Unterton von einem Mann, der sich seiner Fähigkeiten durchaus bewusst ist und dessen Unterbewusstsein eine Erforschung wert gewesen wäre. Wie bei H.P. Lovecraft endet viele mit Andeutungen und wirkt auf den ersten Blick nicht gänzlich durchentwickelt, aber die im Vergleich zu anderen Storys dieser Sammlung stringente Handlung und die gute Zeichnung der wenigen Protagonisten entschädigen für einige inhaltliche Passagen, die zu vorhersehbar insbesondere für Lovecraft Leser konzipiert worden sind.

„Ihr wollt es dunkler“ ist keine deutlich brutalere Kurzgeschichtensammlung in der Tradition seiner früheren Anthologien wie „Nachtschicht“ oder Blut“. Die Kurzgeschichten sind zynisch, ein wenig brutaler und deutlich stringenter. Es sind die Novellen, welche deutlich machen, dass Stephen King im Gegensatz zu seinen gegenwärtig nicht befriedigenden Romanen mit der überragenden Holly eigentlich schon immer und immer noch ein überragender Novellenschreiber ist. Die längeren Geschichten gehören mit „Der Antwortmann“ als einsamer emotionaler Höhepunkt zu den am meisten lesenswerten Geschichten aus der Feder des Amerikaner und unterstreichen, wie herausragend sowie einzigartig das Werk Stephen Kings weiterhin ist.     

Ihr wollt es dunkler

  • Herausgeber ‏ : ‎ Heyne Verlag
  • Erscheinungstermin ‏ : ‎ 30. Mai 2024
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Seitenzahl der Print-Ausgabe ‏ : ‎ 736 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3453274725
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3453274723
  • Originaltitel ‏ : ‎ You Like It Darker
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