In seinem Vorwort argumentiert Helmut Schmiedt, dass es durchaus in verschiedenen Bereichen wie der Literaturkritik auch möglich ist, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Allerdings sollte man nicht aus einer Mücke einen Elefanten machen und nicht diese beiden unterschiedlichen Tiere gegenüberstellen, wie es Helmut Schmiedt fälschlicherweise geschrieben hat. Natürlich lässt sich alles in einen Zusammenhang bringen. Kritisch gesprochen stellt sich für den Leser allerdings die Frage, warum in dem Titel seiner Studie nicht die beiden berühmtesten Figuren der deutschen Literatur – siehe Klappentext – gegenübergestellt werden: Faust und Winnetou. Im Umkehrschluss lässt sich jetzt argumentieren, dass Goethes zweitpopulärster Protagonist Werther mit Winnetou auf den Favoriten unter den Karl May Lesern trifft, während andersherum Old Shatterhand/ Kara Ben Nemsi als Nummer zwei auf den populärsten Goethe Charakter Faust bei einer literarisch sportlichen Auseinandersetzung treffen müsste. Zumindest passen die Namen Faust/ Old Shatterhand sehr gut zusammen.
Diese Einleitung klingt spöttisch, soll es aber angesichts der Komplexität nicht sein. Mit diesen Worten soll nur auf eine Schwäche der vorliegenden Studie hingewiesen werden. Vergleich ist immer subjektiv im Auge des Betrachters und wird zumindest bei der Literatur selten objektiv. Dem Leser stellt sich aber noch eine andere Frage. Helmut Schmiedt verweist nicht nur auf einige Vorläuferarbeiten, deren Vergleichsopportunitäten noch vager erscheinen, sondern klammert eine mögliche Übereinstimmung gleich aus. Neuere Forschungen hinterfragen Goethes Agieren als Staatsmann und heben einigere dunklere Seiten hervor. Bevor Karl May als Schriftsteller durch startete, wurde er mehrmals verurteilt und saß im Gefängnis. Da es unter anderem zu diesem Thema laut dem Autoren „weder eine Entsprechung noch einen im konstruktiven Sinne signifikanten Kontrast“ (Seite 16) gibt, werden diese ausgelassen.
Das widerspricht auch der Idee des gemeinsamen literarischen Hauses, in das einzelne Autoren einziehen. Der Keller ist anders als die Dachgeschosswohnung. Manche Einheiten sind opulent ausgestattet, in anderen kleineren Wohnungen wird nur unter primitiven Umständen gehaust. Und trotzdem bilden sie alle zusammen laut Helmut Schmiedt ein literarisches Haus; die Autoren sind Nachbarn, die sich mögen, hassen oder ignorieren. Aber grundsätzlich sollte der Mensch, der Autor und dessen eigene Geschichte nicht außer acht gelassen werden. Das Werk ist nicht vom Menschen trennbar, wie Helmut Schmiedt mehrmals deutlich macht. Aufgrund dieser Prämisse lässt sich wie bei Karl Marx, Richard Wagner und Friedrich Nietzschke auch ein Vergleich ziehen. Und Vergleiche haben – das ist die Stärke der vorliegenden Studie – eben nicht nur zwingend die Aufgabe, Ähnlichkeiten herauszuarbeiten. Es kann auch bei Unterschieden bleiben.
Helmut Schmiedt verweist zusätzlich noch auf verschiedene eigene Vorarbeiten in unterschiedlichen Publikationen, die mehr oder minder direkt in die vorliegende, deutlich umfassendere Arbeit eingeflossen sind.
Neben den Quellenangaben fasst Helmut Schmiedt als Grundlage der weiteren sekundärliterarischen vergleichenden Studie die Leben und wichtigsten Werke Goethes und Karl May noch einmal tabellarisch zusammen. Damit ist der Grundstein des Doppelhauses – um mit Helmut Schmiedt zu sprechen – in seiner literarischen Klein- oder Großstadt gelegt.
Im ersten Teil „Koryphäen der Literaturgeschichte“ mit dem Schwerpunkt Leben- und Werkchronik zeigen sich die Äpfel und Birnen deutlich. Sie liegen im gleichen Korb der Literatur, haben aber bisher auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun. Dazwischen könnte mit Thomas Mann als Pflaume eher ein verbindendes Element liegen. Am Ende macht Helmut Schmiedt klar, dass Goethes Lebensweg deutlich gerader gewesen ist und er früh als Genie galt. Das macht Teile seines Werkes damals noch mehr als heute nicht unumstrittener, aber Karl May geht – wie in seinen Romanen – eher den amerikanischen Weg aus armen Verhältnissen zu einem für die damalige Zeit respektablen Reichtum und anschließend dem obligatorischen Sturz aus dem Olymp in die hinterhältigen Niederungen des Lebens in der Öffentlichkeit. Eine solche Achterbahnfahrt hat Goethe nicht hinter sich.
Der Wissensdurst mit Chroniken, welche das Leben Goethes und Karl Mays in tägliche Abschnitte zerlegen; die Suche nach neuen Aspekten in ihren Leben sowie die Analyse ihrer Werke verbinden die beiden Autoren. Aber auch hier sind sie in einem großen Topf, wie das kontinuierliche Interesse an Thomas Mann mit zahlreichen neuen Biographen; Augenzeugenberichten und schließlich einer ebenfalls fortlaufenden Analyse seiner Werke verdeutlicht. Allerdings könnte die Herangehensweise nicht unterschiedlicher sein. Goethes Werk wurde schon zu dessen Lebzeiten der Mittelpunkt literarischen Analysen, während sich ausgehend von den Lesern und damit auch Fans eine sachkundige Auseinandersetzung mit Karl Mays Werk erst in den sechziger Jahren auszubilden begann. Dafür hat sie umso mehr Fahrt aufgenommen. Dabei basierten viele Analysen bei May nicht auf den Werken der letzten Hand, sondern den zahlreichen Bearbeitungen seiner Bücher durch Dritte. Bei Goethe hätten es sich die Verleger nicht getraut. Bei Thomas Mann oder Stephen King auch nicht. Ein großer Unterschied zwischen den beiden zu vergleichenden Autoren.
Natürlich ist es ein schmaler Grat, einen Autoren zu verehren oder kommerziell auszunutzen. Das ist bei Karl May leichter. Immerhin sind seine Werke – sehr frei interpretiert – auf den Bühnen Deutschlands populärer denn je. Selbst Parodien wie „Der Schuh des Manitu" und die bevorstehende Fortsetzung werden Publikumserfolge. Die zahlreichen Verfilmungen in den sechziger Jahren – ebenfalls teilweise sehr frei – sprechen Bände. Goethe wird immer noch gerne auf den Bühnen aufgeführt und teilweise verfilmt. Aber bei Karl May geht es um dessen idealisierten Ideen einer friedlichen Menschheit und den stetigen Kampf gegen das Böse als sein eigentliches niedergeschriebenes Werk, das immer weniger Leser der ersten Hand kennen. Viele Besucher der Freilichtaufführungen haben noch nie einen Karl May gelesen. Bei Goethe sind es deutlich weniger, aber nicht jeder Theaterbesucher wird – außerhalb der Schule – seinen Goethe freiwillig und vor kurzer Zeit gelesen haben. Aber ohne Frage sind Karl May mit seinen Schöpfungen und Goethe als politisch Denkerfürst weiterhin populär und kommerziell von den Nachdrucken über Filme/ Theaterstücke bis zum Merchandising verwertbar. Ein Punkt für die Äpfel und Birnen im Korb. Das gilt auch für Thomas Mann, aber da der Lübecker als Persönlichkeit mit seiner distanzierten, altbackenen Art im Vergleich zum lebenslustigen Goethe und dem immer paranoider werdenden Karl May im Grunde langweilig ist, lässt die kommerzielle Verwertung außerhalb seines gedruckten Wortes zu Wünschen übrig.
Um zurück zu den Autoren zu kommen. Karl May generell als Serienschreiber, Goethe als Rückkehrer zum eigenen Werk haben auf den ersten Blick hier die erste gemeinsame Basis.
Helmut Schmiedt geht auf die Fortsetzungen zum Auftakt ein. Natürlich lassen sich Faust I und II; Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre sowie Winnetou I-III und Winnetou IV eher schwerlich direkt miteinander vergleichen. Aber diese Veränderung im Alterswerk – es lässt sich trefflich streiten, ob zum Guten oder Schlechten – zeichnet eine Reihe von Autoren aus. So hat Stephen King mit „Doctor Sleep“ eine ungewöhnliche und doch packende, auf der charakterlicheren Ebene dem ursprünglichen Werk „The Shining“ überlegene Arbeit präsentiert. Aber Helmut Schmiedt will vergleichen, unterscheiden und sucht keine Einzigartigkeiten im Werk Mays sowie Goethes. Dieses Credo sollte sich der interessierte Leser immer vor Augen halten, auch wenn es Helmut Schmiedt nicht explizit ausspricht.
Karl May lässt sich auch angesichts des Seriencharakters seines Werkes besser von Dritten fortsetzen als zum Beispiel Goethes Faust oder Werther. Aber auch hier gibt es immer wieder Opportunitäten. Karl May ist aber in dieser Hinsicht populärer, auch wenn viele Fortsetzungen oder besser Fortschreibungen in seinem Kosmos in kleineren Verlagen publiziert worden sind. Ausnahmen wie „In Mekka“ unterstreichen eher die Regel. Um den dritten im Bunde zu Wort kommen zu lassen: Thomas Mann hat mit „Lotte in Weimar“ einen wunderschönen Roman geschrieben, der an Goethes beste Werke heranreicht. Und das im amerikanischen Exil.
Trotzdem gibt es einen großen Unterschied. Goethe ist weiterhin deutlich populärer hinsichtlich der literaturwissenschaftlichen Analysen als es Karl May je gewesen ist. E- und U Literatur im Kollisionskursmodus.
Alle Vergleichsparameter sind Punkt für Punkt isoliert betrachtet interessant, aber nicht einzigartig. Ohne Probleme lässt sich – wie angesprochen – ein Karl May von einem Thomas Mann austauschen. Oder um globaler zu denken, ein Stephen King – viele Literaturwissenschaftler fangen jetzt die Rotation in ihren metaphorischen Gräbern an – anstelle von Goethe. Aber das weckt weniger Neugierde und damit die Aufmerksamkeit der Leser. Das Fazit des ersten Kapitels ist, auf unterschiedliche Art und Weise sind Karl May und Goethe mindestens ihren Namen nach weiterhin überdurchschnittlich populär im Literaturhaus. Und damit liegen inzwischen die Äpfel zwischen den Birnen.
Mit dem „Lebensläufe“ überschriebenen Kapitel geht es buchstäblich ins Eingemachte und zum ersten Mal lassen sich die bisherigen oberflächlichen Vergleiche auch deutlich auf die Persönlichkeiten Goethe und Karl May eingrenzen. Beginnend mit den jeweiligen Titeln „Aus meinem Leben: Dichtung und Wahrheit“ sowie „ Mein Leben und Streben“ zeigt sich, dass in dieser Mischung aus Fakten und dichterische Selbstbefreiung aber auch der Anspruch steckt, der Öffentlichkeit das eigene Bild von sich selbst zu präsentieren. Helmut Schmiedt zeigt den Werdegang der Bücher mit Goethes Werk in zwei großen Abschnitten und bei Karl May aus einer Hand geschrieben auf. Dazu kommt, dass Karl May sein Buch als Rechtfertigungsschrift den zahlreichen Kritikern gegenüber formulierte, während Goethe sich vor allem mit dem ersten Lebensabschnitt auseinandersetzte, der erstaunlich “ruhig” ablief. Ein zweiter Teil ist von beiden Autoren nicht mehr geschrieben worden. Eine weitere Übereinstimmung.
Während Goethes Leben aus selbst empfundenen Freuden bestand, in deren Empfinden er sich entwickelte, stellte Karl May seine eigene Existenz als stetigen Kampf dar. Beide erhielten Hilfe von ihren Vätern und doch könnte diese Unterstützung ihrer literarischen Liebe nicht unterschiedlicher sein. Dabei zitiert Goethe den Satz: „ Ein Mensch, der nicht geschunden wird, wird auch nicht erzogen“ (Seite 63), während Karl May mit harter Hand und Entbehrungen erzogen worden ist. Es gibt keine Beweise, dass Goethe selbst diese Schindereien selbst in den gut betuchten Häusern seiner Familie durchlaufen musste. Aber Goethes Credo scheint Karl Mays Leben gewesen zu sein. Karl May arbeitet in seinem Werk mit Extremen, versucht die eigene Persönlichkeit aus der Dunkelheit der Gefängniszeit – die Ursachen verschweigt er nicht, relativiert sie aber – ans Licht zu heben, während Goethes Leben und Arbeit in dieser Hinsicht oberflächlicher belangloser erscheint. Goethe ist sich bewusst, dass beim Verfassen einer Autobiographie die Erinnerungen dem Schriftsteller einen Streich spielen können, während Karl May sein Werk als eine Art Panzer vor der zudringlichen, ihn mit Verleumdungen und Prozessen überschüttenden Wirklichkeit ansieht, gegen dessen niedergeschriebenen Wort es keinen Widerspruch gibt. Das ergibt sich auch aus der Idee, dass Karl May nur Menschen Kritikfähigkeit zutraut, die wie er selbst als Kind blind gewesen sind und dann wieder sehend wurden. Eine These, welcher inzwischen die medizinische Forschung widerspricht und die zum Lügengerüst gehören könnte, mit dem sich Karl May Zeit seines Lebens genau wie die Identifikation mit seinen Figuren mehr und mehr umgab.
So unterschiedlich die Leben in diesen beiden Büchern auch sein könnten, es sind die Parallelen (mit verschiedenen Auswirkungen), welche Goethe und Karl May wieder zusammenführen. Um sich in den Weimarer Kreisen bewegen zu können, musste ein „von“ her. Für Goethes Familie kein Problem. Um Achtung zu erlangen, griff Karl May zum falschen Doktortitel, der ihm später auch um die Ohren fliegen sollte.
In beiden Leben steht eine Reise im Mittelpunkt des Geschehens. Um sich nicht nur aus dem politischen Trott Weimars, sondern vor allem der Lethargie als Dichter und Schriftsteller zu befreien, reiste Goethe zwei Jahre nach Italien und kehrte schließlich einigen Quellen folgend als Mann wieder nach Weimar zurück. Karl May suchte mit seiner Orientreise die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass er wirklich bislang autobiographische Romane niedergeschrieben hat und er Old Shatterhand/ Kara Ben Nemsi ist. Auch wenn beide Männer ungefähr zwei Jahre unterwegs gewesen sind, könnten die Folgen der Reise nicht unterschiedlicher sein. Goethe erblühte als Schriftsteller und verheiratete sich. Karl May trennte sich nach der Reise von seiner langjährigen Frau und vermählte sich neu. Aber die Gerüchte und vor allem seine kriminelle Vergangenheit haben seine Karriere zum Stillstand gebracht und er kämpfte nicht nur, den eigenen Ruhm zu erhalten, sondern auch weiterhin kaufbar zu sein. Goethe dagegen verfasste ein Meisterwerk nach dem Anderen. Aber in beiden Fällen stellt diese Reise eine Zäsur dar. Zwar handelt es sich bei beiden Männern nicht um die erste oder einzige Reise, aber die unterschiedlichen Auswirkungen einer hinsichtlich ihrer Bedeutung und Länge in einen Zusammenhang bringenden Unternehmung lassen sich gut gegenüberstellen, aber nicht grundsätzlich vergleichen.
Natürlich muss nicht jeder begierige Leser ein großartiger Schriftsteller werden und andersherum. Auch nicht jeder gute Schriftsteller ist per Gesetz ein überzeugter Leser im jugendlichen Alter gewesen. Aber eine gewisse Affinität dem geschriebenen Wort gegenüber sollte da sein. Das ist bei Goethe und Karl May der Fall, aber wie bei der großen Reise könnten die Quellen ihres Wissens, ihrer Bildung nicht unterschiedlicher sein.
Neben diesen drei großen Blöcken – die Notwendigkeit von Titeln; die jugendliche Lektüre und die große Reise – versucht Helmut Schmiedt mit den Frauen noch eine weitere Gemeinsamkeit zu finden. Bei Karl May mit seiner langen, gescheiterten und von ihm schließlich in einer Streitschrift sezierten Ehe und der späteren Beziehung zu / Heirat mit Klara Plöhn gibt es nicht viele Frauen. Diese einzige Ähnlichkeit zu Goethe wäre die Beziehung eines älteren Mannes zu einer jüngeren, in Karl Mays Fall zweiten Frau. Das ist die Liste von potentiellen und realen Liebschaften bei Goethe schon länger, auch wenn er in späteren Lebensjahren auch eher junge Frauen bevorzugte. So ist der Umgang mit dem weiblichen Geschlecht unvergleichbar. Es ist diese Ambivalenz, dieser Versuch, am Ende einen weiteren Vergleich zu ziehen, welcher einzelne Kapitel in „Werther trifft Winnetou“ so schwierig zu mögen macht. Vielleicht ist der am ehesten treffende Vergleich zwischen den beiden Männern nur die Tatsache, dass Goethe seine zahlreichen Liebschaften und amorösen Begegnungen in sein Werk, in die Kunst überführen konnte, während Karl May der Nachwelt in dieser Hinsicht nur „Frau Pollmer, eine psychologische Studie“ hinterlassen hat.
Das Kapitel „Arbeitsverfahren“ wird mit dem Abschnitt „Spuren des Lebens“ eingeleitet. Helmut Schmiedt macht deutlich, dass die autobiographischen Bezüge und die Integration des Umfelds beginnend mit der Namensschöpfung heute als selbstverständlich angesehen werden, in der Zeit des frühen Goethes aber revolutionär erschienen. Auch Goethes literarische Entwicklung verläuft in Hinblick auf sein Frühwerk nicht stringent. Die Einhaltung der Zeit, des Ortes und der Handlung sollten die literarische Kunst bestimmen.
Auch wenn sich die nachfolgenden Vergleiche zwischen Goethe und Karl May auf deren Leben und Werk konzentrieren, haben sie auch eine darüber hinausgehende Allgemeingültigkeit. Goethe hat wie Karl May auf Namen aus seinem Umfeld für die Protagonisten zurückgegriffen.
Überwiegend spielen Goethes Geschichten im damaligen Hier und Jetzt. Das gilt vor allem für Karl Mays Frühwerk, das in seiner Heimat – dem Erzgebirge – spielt und zwar auf ältere Legenden/ Geschichten teilweise zurückgreift, aber wie Goethe die Gegenwart im Auge hat. Später legt Karl May trotz der noch anzusprechenden Einschränkung auch auf eine enge zeitliche Befristung Wert, baut sich aber als erlebender Erzähler ein und schreibt damit nicht genau im Hier und Jetzt, aber nahe dran. Viele von Karl Mays Epigonen haben immer wieder Hinweise eingebaut, dass der Ich- Erzähler in die sächsische Heimat zurückkehren muss, um die Abenteuer für die Leser niederzuschreiben. Von der Kunst alleine kann selbst ein Old Shatterhand/ Kara Ben Nemsi nicht leben.
Aber Karl May hat die krankhafte Identifikation mit seinen Figuren auf die Spitze getrieben. Thomas Mann hat laut Helmut Schmiedt gesagt, dass viel Blut des Autors in seine Figuren fließt, aber bei Karl May sind aus dessen Perspektive Autor/Akteur untrennbar miteinander verbunden.
Bei den Themen zeigt sich, dass sich Goethe bei seinem Werther vom Schicksal eines Freundes bis in viele kleine Details hat inspirieren lassen. Handelt es sich schon um ein Plagiat? Eine Frage, in der sich Helmut Schmiedt eindeutig positioniert. Schwieriger wird es bei der Behandlung von Karl Mays langen Abschriften. Natürlich findet Helmut Schmiedt viel Verständnis für die Vorgehensweise eines Mannes aus armseligen Verhältnissen, der schnell und viel schreiben musste. Wie Robert Kraft beweist, handelt es sich bei Karl May auch um keinen Einzelfall und im Rahmen der Kolportage ist es üblich gewesen, die Seiten zu füllen, in dem andere Quellen wörtlich zitiert worden sind. Von den Selbstzitaten ganz zu schweigen. Aber Karl May hat es bis zu seiner Orientreise auch in den von ihm geschätzten Reiseerzählungen gemacht und immer weiter an der falschen Legende geschraubt. Hier hat er eindeutig eine Grenze überschritten und der Vergleich zwischen Goethe/ Karl May zielt nur auf die Extrapolation der literarischen Ich- Entwicklung.Das ist rückblickend unbefriedigend und lässt zu viele offensichtliche Fragen offen.
Ein weiterer Themenschwerpunkt ist die nachhaltige Entwicklung der eigenen Figuren und die Rückkehr zu ihnen. Goethes Werk weist zahlreiche Beispiele auf, in denen der Dichter nach einigen Jahren oder Jahrzehnten wieder zu seinen Figuren zurückgekehrt und die Fäden deutlich altersweiser wieder aufgenommen hat. Dabei sind die Prämissen unterschiedlicher Art. Der Freigeist Goethe geht mit der Idee der Ehe – aktiv selbst eingegangen, passiv bei verheirateten Frauen – erstaunlich freizügig um und ist sich nicht zu schade, auch eine Ehe zu dritt vorzuschlagen. Karl May ist deutlich mehr an seine Leser gebunden und durch die Veröffentlichung in einer katholischen Zeitschrift eingeschränkt. Im Umkehrschluss impliziert Helmut Schmiedt allerdings zu wenig, dass sich der ältere Goethe deutlich konservativer äußerste und aus der offenen Ehe schließlich eine Tragödie machte, während der ältere Karl May literarisch nach seiner Orientreise den entgegengesetzten Schritt gegangen ist und die engen Fesseln der Abenteuerliteratur zu Gunsten seiner pseudo philosophischen Reisen ins Ich – anstatt seines sich auf Reisen befindlichen Ichs- in den Mittelpunkt seiner Romane gestellt hat.
Karl May verfügte in seinem Hauptwerk im Grunde nur über eine Figur als roter Faden – sich selbst -, um den herum er einige signifikante Protagonisten platzierte. Helmut Schmiedt argumentiert, dass Goethe viel länger in seinem Leben geschrieben hat als Karl May, der relativ spät mit seinem Hauptwerk begonnen hat. Allerdings hat Karl May in der Zeit der Arbeit an seinem Hauptwerk sich nur auf die Ich- Erzählungen konzentriert, so dass dieses Argument nur teilweise zählt. Es gibt unzählige Autoren, die ihre fiktiven Figuren ihr Leben lang begleitet haben. Sie sind gemeinsam alt geworden, wobei der Schriftsteller die Grenzen der Zeit überwinden konnte. In seiner Feder konnten die Protagonisten auch wieder jung werden, der Autor ist bei seinen Figuren nicht sklavisch an eine chronologische Reihenfolge gebunden, auch wenn es die meisten Schriftsteller machen. Karl Mays Hauptwerk ist dagegen „zeitlos“. Es fällt dem Leser schwer, die einzelnen Abenteuer nicht chronologisch, aber hinsichtlich der vergangenen Zeit einzuordnen. Ein echter Alterungsprozess findet nur im Spätwerk statt.
Darum ist vergleichend richtig, dass Goethe und Karl May öfter bis überwiegend einzelne Protagonisten ein zweites (Goethe) oder mehrmals (Karl May) benutzt haben. Aber die Unterschiede in der Handlung ihrer Figuren sind groß. Hinzu kommt, dass es wieder kein Alleinstellungsmerkmal zwischen den beiden Autoren ist.
Bei den Textrevisionen wird Helmut Schmiedt ein wenig kleinlich. Natürlich hat Karl May seine frühen Geschichten vor allem in die beiden Fortsetzungen zu „Winnetou“ eher schlecht als recht eingebaut. Der kommerzielle Druck hat sicherlich einiges dazu getan. Aber grundsätzlich hat Karl May darauf bestanden, dass seine Texte so gedruckt werden, wie der Meister sie geschrieben hat. Goethe dagegen hat einzelne Werke nach Jahren gänzlich umgeschrieben und so aus einer frivolen Beziehungskomödie schließlich die schon angesprochene Tragödie gemacht. Daher ist der grundsätzliche Ansatz der Überarbeitung zwischen den beiden Autoren auch aufgrund ihrer finanziellen und persönlichen Situation gänzlich unterschiedlich. Und als Karl May finanziell unabhängig gewesen ist, hat er sich buchstäblich anderen Themen zugewandt. Zynisch gesprochen könnte man auch sagen, die fortwährende Beschäftigung mit den Themen “Kampf gegen Unrecht” und “Friede auf Erden” bedingte keine notwendige Neufassung seiner bisherigen Romane mit gänzlich anderen Handlungsverläufen, sondern mittels neuer Arbeiten eine kontinuierliche Weiterentwicklung der Themen.
Der größte Unterschied ist aber, dass Goethe „Ein Geschäftsmann in literarischen Angelegenheiten“ (Seite 120), während Karl May es wichtig ist, „seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und seinen Lebensstandard zu verbessern“ (dito). Thomas Mann sollte Goethe in dieser Hinsicht folgen, da er aufgrund der Geschäftsauflösung seiner Familie lange Zeit über eine gute Leibrente verfügte, während Karl May die tausende von Autoren vertritt, die lange Zeit eher schlecht als recht von den eigenen Worten leben konnten und immer wieder vom literarischen und damit auch kommerziellen Durchbruch träumten. Äpfel und Birnen, gemeinsam im großen Pflückkorb der Literatur und doch meilenweit voneinander getrennt.
“Karl Mays Umgang mit Goethe“ beschließt den ersten Teil der Studie. Folgt der Leser Karl May aus „Mein Leben und Streben“ sowie Helmut Schmiedt, dann hat ein „Faust“ Puppenspiel und der Hinweis eines Kantors den Sachsen als Autoren für Menschen auf die richtige, aber nur mittels Umwegen erreichte Fährte gelenkt.
Karl May ist erst nach Goethes Tod geboren worden. Bis er Schriftsteller geworden ist, vergingen weitere Jahrzehnte. Helmut Schmiedt analysiert zu Beginn des Kapitels mit „Goethe als Bildungsgut“, wie oft Karl May den Dichterfürsten direkt oder indirekt aufgreift. Nach Schiller gibt es nur einen Schriftsteller, der öfter erwähnt wird: Karl May. Schiller passt vom Werksprofil auch eher zum Sachsen und ist es wahrscheinlich, dass er in der Schule und als Lehrer eher zum griffigeren und populären Schiller mit seinen Balladen fürs Volk gegriffen hat als dem intellektuellen Goethe.
Auch wenn Goethe nicht direkt oder indirekt als Schriftsteller, als Mensch erwähnt wird, verballhornen Karl Mays Protagonisten seine Gedichte. Insbesondere Hobble Frank hebt sich hier positiv hervor. Das kann Absicht sein, aber eher hat Karl May noch sehr bekannten und leicht zu verändernden Vorlagen gesucht. Der durchschnittlich gebildete Leser seiner Geschichten sollte die Gedichte sofort erkennen, auch wenn er sie wahrscheinlich nicht rezitieren konnte. In dieser Hinsicht eignete sich Goethe besser als Schiller mit seinen schwermütigen Balladen.
Aber Karl May hat sich nie direkt wie ein Thomas Mann oder Martin Walser mit Goethe und seinem Werk auseinandergesetzt. Das hätte sicherlich auch überrascht. Daher gibt es auch keine Vergleichmöglichkeit, wobei Helmut Schmiedt deutlich macht, dass das Schreiben von Parodien kein Zeichen von Geringschätzung ist und Karl May in seinen späten Lebensjahren sich intensiver mit Goethes Werk auseinandergesetzt hat. Vor allem nach seiner Bibliothek zu urteilen mit vielen Schriften über Goethe. Zyniker sprechen vielleicht davon, dass sich Karl May angesichts der Diffamierungen im Bildungsbürgertum mit dem Wissen über die größten deutschen Dichter etablieren wollte. Optimisten wie Helmut Schmiedt weisen darauf hin, dass sich in der umfangreichen Bibliothek neben unzähligen wie notwendigen Sachbüchern vor allem zahlenmäßig Goethes Werk befunden haben und das auch etwas in Kombination mit Mays Anmerkungen in den Büchern zu bedeuten hat. Es spricht manche Tatsache dafür, dass sich Karl May im Rahmen der inhaltlichen wie konzeptionellen Umstrukturierung seines Spätwerks in Hinblick auf Dramen, auf Zwischenmenschlichkeit Goethe zugewandt und dem Schiller abgewandt hat. Wenn Helmut Schmiedt allerdings von „Bestandteilen einer fundamentalen geistigen Verwandtschaft, ohne das dies jemals ausdrücklich gesagt werden müsste“ (Seite 149) schreibt, dann fehlt der mehrfach angesprochene direkte Vergleich und vor allem ein schlüssiger Beweis. Der anschließende Rückzug in den Bereich der Allgemeingültigkeit Goethes angesichts seiner Rolle im deutschen Kulturgut ist in diesem Punkt und angesichts der ausgesprochenen These zu wenig.
In Goethes Frühwerk ist das Scheitern nicht selten schon zu Beginn der Geschichten angelegt: Werther, Götz, Egmont und mit Einschränkungen auch Faust scheitern. Bei Karl May handelt es sich aber trotz aller Herausforderungen und Erschwernisse um Erfolge. Seine Helden scheitern nicht. Und wenn sie sterben – siehe Winnetou – dann schreiten sie nicht nur begleitend von einem „Ave Marie“ in den christlichen Himmel, vielmehr werden sie zu einem Fanal der Menschlichkeit. Zu einem Symbol für ein besseres Miteinander. Diese vielleicht ein wenig theatralische Symbolik kann ein neutraler Leser keiner der Goethe Figuren zu schreiben. Bei Goethe ist es auch eher die individuelle Freiheit, mit welcher sich die Protagonisten auseinandersetzen müssen, während Karl May mit seinen Überhelden Old Shatterhand/ Winnetou/ Kara Ben Nemsi/ Hadschi Halef Omar die Freiheit aller Menschen zum Ziel setzt. Ein klarer Punktsieg für Karl May. Vielleicht sind Karl Mays Helden Figuren des Sturm und Drangs. Aber genauso sind sie Kinder der Kolportage, die ein gänzlich anderes Publikum begeistern sollen. In diesem Zusammenhang wäre es sinnvoll gewesen, einen doppelten Vergleich zu präsentieren. Einmal die angesprochene Gegenüberstellung von Goethes Figuren und Karl Mays Helden und dann die Positionierung Karl Mays im engen Zusammenhang mit den Kolportage, aber vor allem auch populären Abenteuerromanen. Natürlich wären damit zu viele Birnen im Korb mit den Äpfeln, aber Helmut Schmiedts hier angesprochene Thesen ließen sich breiter aufstellen.
Im Zweiten Teil „Romanwelten“ verzichtet Helmut Schmiedt auf die mehrfach angesprochenen Vergleiche, sondern konzentriert sich auf Gegenüberstellungen. Alleine der Überfall in den Lehrjahren und die einzelne Szene mit wilden Tieren bei Goethe vergleicht er direkt mit der Auseinandersetzung zwischen Winnetou und Old Shatterhand. Bei Karl Mary geht es – wenig überraschend – blutiger zu und der Überfall ist auch angesichts des Umfangs von Goethes Werk eher ein klassisches Spannungsmomentum als eine relevante Szene. Kein Karl May ohne einen entsprechenden Überfall.
„Erste Sätze“ leitet diesen langen Abschnitt ein. Es ist ein wenig befremdlich, dass Helmut Schmiedt weiterhin fast stoisch am Orient Zyklus und Winnetou I festhält. Dabei liegt das Gute so nahe. Der Autor verweist auf die ungewöhnliche Einleitung „Am Rio de la Plata“, in welcher sich der Ich- Erzähler über die lokalen Begebenheiten schlau macht. Im Werther sortiert der Erzähler die Briefe, welche er seinen Lesern präsentieren möchte. Es wäre also leichter, diese beiden Bücher miteinander zu vergleichen. Durch die Einleitung und nicht den Sprung in die laufende Handlung werden auch der Werther und Winnetou miteinander verbunden. Aber trotz des Wortes „Und“ als Auftakt einer langen Diskussion über den wahren Glauben in „Durch die Wüste“ macht Karl May immer wieder deutlich, dass es einen Ich- Erzähler gibt, welche die Geschichte erlebt und dieser tritt nicht aus dem Handlungsrahmen heraus. In Werther dominieren die ausgewählten Briefe. Ausgewählt vom Erzähler, der im Off präsent ist, aber nie wirklich in die Handlung eingreift.
Helmut Schmiedt geht sehr ausführlich auf das erste Wort in “Durch die Wüste” ein: “und” als Teil eines gesprochenen Dialogs und Bestandteil einer sich wie ein roter Faden durch die Orient Romane ziehenden Diskussion um den wahren Glauben. Der Leser kann den Argumenten des Autoren gut folgen, aber vielleicht ist Karl Mays Idee einfach pragmatischer: Der Leser soll nicht nur mitten in die Handlung geworfen werden, sondern das “und” demonstriert, dass es ein “davor” gibt. Keine lange Einleitung, keine notwendigen Erklärungen, sondern wie bei einem guten Kolportage- oder Heftroman soll der Leser gleich an der Gurgel gepackt und für die Länge der Geschichte festgehalten werden.
Bei beiden Autoren wird viel gereist. Bei Karl May ist das Reisen nicht nur ein Begriff von Freiheit, sondern Figuren sind auf Missionen, deren Ausgangspunkt sie zu Beginn der jeweiligen Geschichte nicht kennen. Sie sind auf der einen Seite frei. Nicht umsonst hat der Cowboy selbst in den Zigarettenwerbung des 20. Jahrhunderts immer noch das unbeschwerte Leben in der Natur und damit auch die Freiheit von allen gesellschaftlichen Zwängen symbolisiert. Aber Karl Mays Helden sind nicht nur frei. Immer wieder müssen sie für Gerechtigkeit kämpfen und werden damit in Handlungen hineingezogen. Frei wären sie, wenn sie einen Kampf links liegen lassen oder ein Unrecht ignorieren. Aber das könnte Karl May seinen Lesern nicht verkaufen. Karl May präsentiert also eine bedingte Freiheit und – wie schon angesprochen – gehört das Reisen zur Kolportage. Siehe auch Robert Kraft, der in unzähligen Geschichten ganze Gruppen von Menschen mehrmals um die Welt geschickt hat. Nur bei einem Roman Karl Mays gibt es den Hinweis einer Verfolgung um die Welt.
Goethes Figuren reisen viel, aber sie haben immer Ziele. Diese Ziele stehen bis auf die Lehr- und Meisterjahre fest. Auch bei diesem Doppelroman hat der Protagonist ein festes Ziel, aber keine feste Route. Daher lassen sich die Reise nur bedingt vergleichen, zumal Goethes Figuren – wie in den Eingangskapiteln erwähnt – sich meistens dort aufhalten, wo sich der Herr und Meister (sprich der Autor) auch am besten auskennt. Bei Karl May agieren die Figuren außerhalb des natürlichen Radius des Autoren, sie werden von ausführlichen wie entliehenen Zitaten zu Flora, Fauna und Bevölkerung unterstützt.
„Individuelle Entwicklungen“ ist nicht nur für den Leser, sondern auch Helmut Schmiedt ein Kapitel, das sich gut mit der Quadratur des Kreises umschreiben lässt. Der Autor versucht den Unterschied zwischen einer statischen Charakterentwicklung – bis auf „Winnetou", signifikant für Karl Mays Werk – und einem Bildungsroman der klassischen Definition folgend herauszuarbeiten. Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre dienen eher als Beispiel für eine kontinuierliche Charakterentwicklung, nicht nur der wachsenden Erfahrung wie auch des Alters geschuldet. Helmut Schmiedt zieht eher den „Werther“ als Beispiel hinzu. Aber „Werther“ ist eine in sich geschlossene Geschichte, in welcher der Leser nicht nur aufgrund des Sujets eine Entwicklung - auch der Weg in die Verzweiflung und zum Selbstmord ist eine Entwicklung – erwartet, sondern grundsätzlich einfordert. In „Winnetou“ I entwickelt sich als einzige Figur der Ich- Erzähler, das Greenhorn mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit aufgrund der in Deutschland erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten. Da Werther sich zum ersten Mal auch noch unglücklich verliebt, kann er auf diesen Fundus aus angelernten Erfahrungen nicht zurückgreifen.
Im Grunde sind aber Karl Mays Geschichten statisch und mechanisch angelegt. Die Hintergründe wechseln sich ab, aber viele der zugrundeliegenden Plots ähneln sich. Es gibt auch eine Reihe von wiederkehrenden Szenen, bei denen der Leser mehr und mehr verzweifelt. Die Lernkurve vor allem von Old Shatterhand geht nach „Winnetou“ I was Gefahren angeht stark nach unten. Axel Halbach hat in seinen ansonsten lesenswerten Pasticheromanen dieser Entwicklung die Krone aufgesetzt.
Bei Karl May wird viel gereist, bei Goethe weniger und dann, wie mehrfach auch von Helmut Schmiedt erwähnt, in einem eher vertrauten Umfeld. Daher ist es schwer, mit „Wahlverwandtschaften“ auch noch einen Goethe-Roman in diese Vergleichskette einzubeziehen, in dem die Protagonisten Besuch empfangen. Berechtigt ist der Einwand, dass Werther und Wilhelm Meister für unterschiedliche Formen der Lebensführung stehen. Ein Aspekt, der sich bei Karl May so nicht findet, denn sein Ich- Erzähler ist im Wilden Westen wie im Orient immer die gleiche Persönlichkeit: ein neugieriger Mann im positiven Sinne, der Gerechtigkeit walten lässt und gleichzeitig auf Augenhöhe den fremden Kulturen begegnet. Während Goethe anscheinend Bildungsromane geschrieben hat, wird der in erster Linie jugendliche Leser von Karl May durch den Erzähler moralisch, sozial wie auch geographisch erzogen. Die Leitfäden sind bei Goethe und Karl May streng genommen genau umgekehrt.
Karl May legt auch weniger Wert auf eine kontinuierliche Weiterentwicklung seiner Figuren. Beginnend mit den kurzen Monaten der Lehre durch Sam Hawkens und später Winnetou ist Old Shatterhand seinen Lehren von Beginn an überlegen, auch wenn ihm vielleicht die Erfahrung, die praktische Anwendung fehlt. Noch schlimmer ist es in Karl Mays Kolportageromanen wie „Das Waldröschen“, in dem der Protagonist allen Mitmenschen so überlegen ist, dass im Grunde keine echte Spannung aufkommen kann. Eine Schwäche, die Karl Mays fortlaufendes Werk auch auszeichnet. Bis auf Winnetou wird keine Hauptfigur mehr sterben und wenn der Ich- Erzähler in schwere Wasser kommt, dann weiß der Leser, das er sich entweder wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf zieht oder die Freunde ihn nicht in letzter Minute, sondern in letzter Sekunde retten. Goethes Werk ist bei der charakterlichen Entwicklung deutlich vielschichtiger und damit auch diskussionswürdiger.
Wenn Helmut Schmiedt seine für die Freiheit kämpfenden Karl May Helden als Figuren des Sturm und Drangs charakterisiert, dann wirkt es ein wenig bemüht. Die Protagonisten des Sturm und Drangs entwickeln sich gegen das soziale Umfeld und erkämpften sich die Freiheit. Karl Mays Figuren bewegen sich in fremden Ländern und opponieren gegen die bestehende brutale Ordnung, in dem sie den notwendigen Schritt weitergehen. Noch mehr in seinen Wilder Westen Geschichten zeigt sich aber, dass Karl Mays Helden wie die Antagonisten, die Indianer und schließlich auch die Büffel dem Untergang geweiht sich… bedroht von etwas, das sich zivilisiert nennt und ein anderes, ebenfalls brutales Gesicht zeigt. Daher sind Karl Mays Helden eher Überprotagonisten in einem etablierten Umfeld als Gipfelstürmer in einer Gesellschaft, die statisch der Dekadenz entgegen strebte. Aber in einem Punkt hat Helmut Schmiedt recht. Die Zeit vor dem Sturm- und Drang mit der französischen Revolution als Scheidepunkt und der angesprochene Wilde Westen (der Orient wird in dieser Form nur kurze Zeit später folgen) haben ihren Höhepunkt überschritten und können nur noch darnieder schreiten.
„Miteinander umgehen“ nennt Helmut Schmiedt argumentativ das vielleicht schwerste Kapitel dieser Ausgabe. Goethes Geschichten spielen überwiegend in Europa mit Schwerpunkt Deutschland. Bei Goethe bezieht sich der Titel auf die verschiedenen Klassen, beginnend mit der einfachen Arbeiterschicht und endend mit dem selbstverliebten Adel. Wilhelm Meister scheint in dieser Hinsicht vielleicht die Speerspitze der Toleranz zu sein, der sich in allen Klassen auskennt und mit ihnen umgehen kann. Ob Mitglieder der jeweils andere Klasse mit ihm umgehen, steht auf einem anderen Blatt. Werther versucht an den gesellschaftlichen Barrieren zu rütteln, wird aber von auftretenden Adligen eingebremst. Wie auch die junge Frau gemaßregelt wird, die sich mit Werther unterhalten hat.
Karl Mays Geschichten spielen überwiegend auf der ganzen Welt. Karl Mays Figuren begegnen den Mitgliedern anderer Rassen. Grundsätzlich sollten in dieser Hinsicht alle Menschen gleich sein. Die Stände gäbe es in der Theorie nicht. Allerdings Hierarchien, wobei Karl May vor allem in seinen Orient Romanen die meisten Stammesfürsten als affektierte Narzissten entlarvt, denen Kara Ben Nemsi Manieren beibringt. Die offenherzigen Stammesfürsten begegnen dem Fremden mit offenen Armen auf einer freundschaftlichen Ebene.
Die Grundvoraussetzungen könnten also konträrer nicht sein, was auch die Argumentationsbasis unterminiert.
Technisch gesehen hat Helmut Schmiedt recht. Von der Kolportage kommend ist Karl May ein Seitenschinder, der nicht selten ausführliche Dialoge – alleine acht Seiten zu Beginn von „Durch die Wüste“ - nutzt, um dicke Bücher zu präsentieren. Dabei wechselt der Tonfall zwischen freundschaftlichem Geplauder, leidenschaftlichen Diskussionen und einer Abqualifizierung der „Gegner“. In diesem Punkt fasst Helmut Schmiedt absichtlich den Begriff des „Miteinander umgehen“ sehr weit, damit , denn faktisch scheitert bei Karl May einmal ein anderer Anführer der kleinen Reisegruppen und kommt ums Leben, während Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand nur eine bedingte Basisdemokratie akzeptieren. Wir können über den Weg sprechen, ich entscheide aber, ist Karl Mays Credo.
Das „Miteinander umgehen“ ist bei Goethe einmal durch die sozialen Stände, aber auch die inhaltliche Breite seines Werkes selbst mit dem vorgestellten Schwerpunkt „Werther“ und den beiden „Wilhelm Meister“ Jahre deutlich breiter. Es gibt bei Wilhelm Meister hierarchische Strukturen, aber ein Bruch dieser Strukturen ist nicht tödlich. Bei Karl May lauert hinter jedem Felsen, jedem Busch oder nach der nächsten Sanddüne eine möglichst tödliche Gefahr. Karl Mays Leser erwarten das auch.
Aber Karl Mays Werk an sich ist nicht statisch. Es ist immer schwierig, wenn ein Autor beim Vergleichen/ Gegenüberstellen im Falle Goethes auf unterschiedliche Arbeiten zurückgreift, sich bei Karl May vor allem auf die erste Periode bis zur Orientreise beruft. Hier vermisst der Leser einen direkten Bezug zu “Ardistan”. In diesem Spätwerk spielt ja auch Kara Ben Nemsi eine Rolle. Wie bei Wilhelm Meister böte sich also ein Vergleich der Lehrjahre (spricht des Orientzyklus) und der Meisterjahre (“Ardistan” und “Der Mir von Dschinnestan” ) förmlich an. Goethes Werk wird innerhalb seiner Gestehung viel öfter mit sich selbst verglichen als Karl Mays Arbeiten. Insbesondere das Kapitel “Miteinander umgehen” hätte sich hier angeboten.
Es sind nicht nur die Stände. So wird Old Shatterhand in „Winnetou I“ von einer Indianerin gepflegt, die im Gegensatz zu ihrem Bruder Winnetou aus unerklärlichen Gründen sehr unindianisch aussieht. Beginnend bei den Backenknochen über die feinfühlige Nase bis zur helleren Hautfarbe. Helmut Schmiedt zitiert auf Seite 231 ausführlich. Sie wird sich in ihn verlieben, Old Shatterhand wird in ihr nur Winnetous Schwester sehen.
Die Freundschaft zum stolzen und indianischen Winnetou steht natürlich auf einem anderen Level. Da hat es Goethe sehr viel einfacher. Liebe zwischen den Ständen ist zu seiner Zeit alltäglich gewesen. Standesgemäß von oben nach unten ohne Hochzeit akzeptabel; in die andere Richtung eher ein kleiner Skandal, der wiederum den Autoren Tinte in die Schreibfedern spielte.
Nur Sam Hawkens darf kurzzeitig – um dem nächsten Kapitel „Alltagsleben“ vorweg zu greifen – zwischen den Rassen lieben. Ihm werden neue Kleider genäht, die allerdings nach Ende der Beziehung im literarischen Nirgendwo verschwinden. Das wirkt provozierter formuliert, als es tatsächlich der Fall ist. Helmut Schmiedt lässt die unzähligen Nebenfiguren außer acht, die tatsächlich auf beiden Seiten des Kontinents mit Mitgliedern anderer Rasse teilweise langjährig glücklich sind. Markantes frühes Beispiel ist Old Firehand. Um wieder auf Vergleiche zurückzukommen. Karl May und Goethe haben ein umfangreiches Werk verfasst. Daher lohnt es sich bei solchen Gegenüberstellungen, auf eine eingeschränkte Titelbetrachtung zu verzichten und lieber in die Tiefe zu schauen. Wer sich nur auf die Bemerkungen zwischen Winnetous Schwester und Old Shatterhand konzentriert, bekommt von Karl Mays Beziehungsdramen ein schiefes Bild. Wer nur auf die „Wahlverwandtschaften“ schaut, übersieht einiges im „Werther“. Von den beiden Faust Teilen ganz zu schweigen.
„Alltagsleben“ konzentriert sich auf Essen und Trinken (Goethes Leidenschaften neben den Frauen) und Kleidung. Helmut Schmiedt macht deutlich, dass bei beiden Autoren sehr viel gegessen wird, wobei auch hier die Gegenüberstellung hinkt. In Goethes Werk wird gut und viel gegessen. Das liegt aber nicht nur an den gesellschaftlichen Schwerpunkten, in denen seine Geschichten spielen, sondern auch am europäischen Hintergrund. Helmut Schmiedt hat immer betont, dass Goethe selbst vor seinem Adelstitel aus einem guten, vielleicht sogar einflussreichen, aber auf jeden Fall vermögenden Hause gekommen ist. Hunger kannte Goethe im Gegensatz zu Karl May nicht. Karl May hat sich sein Vermögen erschrieben und Menschen, die sich ihr Geld erarbeitet und nicht geerbt haben, agieren in beiden Richtungen beim Genuss exzessiver. Im Gegensatz zu Goethe ist aber Karl May kein Autor/ kein Mann, dessen Charakteren erst im Gleichschritt mit dem monetären Erfolg ihres Schöpfers besser ging.
So wird bei Karl May teilweise gut gegessen und gespeist. Insbesondere in den Orient-Romanen werden Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand mehrfach wie Könige empfangen und bewirtet. Im Wilden Westen ist es natürlich anders. Karl Mays Schwerpunkt ist die Prärie. Dort wird das Essen gejagt und dann frisch zubereitet verspeist. Beim Töten eines Bären besteht Old Shatterhand darauf, dass er nicht nur das Fell, sondern auch das Fleisch verteilen kann. Immer wieder macht Karl May deutlich, dass die echten Westmänner (und Indianer) nur so viele Tiere töten, um davon ggfs. mit ihren Familien zu leben. Vom Morden der Büffel aus den Zügen hält er genauso wenig wie das Vertreiben der Indianer aus ihren Gebieten mit perfiden Taktiken wie dem Aushungern. Aber eine Einordnung der Protagonisten und damit der Autoren über die Essgewohnheiten ihrer Charaktere ist zumindest bei Karl May deutlich schwieriger, da sie sich ja nicht in umschlossenen Räumen, sondern in der freien Wildbahn befinden. Der britische Adlige Sir David Lindsay sei hier ausgenommen. Er würde sich auch bei Goethe wohlfühlen. Zumindest bis zum nächsten Abenteuer.
In Hinblick auf die Kleidung ist bei Karl May Pragmatismus angesagt. Kara Ben Nemsi schützt sich vor der Sonne über der Wüste genauso mit passender Kleidung wie die Lederklamotten im Wilden Westen praktisch und strapazierfähig zugleich sind. Karl Mays Protagonisten gehen nur selten in die Stadt und mischen sich unter die Gesellschaft. Auf der anderen Seite tragen Goethes wenige Reisende wie Wilhelm Meister auch praktischere Kleidung, wenn sie sich auf Reisen befinden. Helmut Schmiedt argumentiert, dass die Beschreibungen von Körper/ Träger und Kleidung bei Goethe fast getrennt erfolgen. Das mag aber auch an der eloquenten Erzählweise – der „Werther“ als Briefroman ist hier die Ausnahme – liegen. Ohne zu bewerten, hatte Goethe als ernster Dichter andere Ansprüche an die Gestaltung seines Werkes, während Karl May in seinem zitierten Wilden Westen oder Orient auf eine bizarre Realität Wert legte.
Helmut Schmiedt arbeitet zusätzlich die grotesken Widersprüche bei einigen von Karl Mays Figuren heraus. Tante Droll mit seinem sackartigen Gewand sei hier explizit genannt. Wie vieles in Karl Mays fiktivem Wilden Westen ist Kleidung irgendwo zwischen pragmatisch und unpraktisch angesiedelt. Auch wenn Karl May im direkten Vergleich zu Goethe immer wieder die Bekleidung in ihrer Funktion als zweite (Schutz-) Haut gegen die Unbilden der Witterung betont.
Auf den ersten Blick das interessanteste und widersprüchlichste Kapitel ist mit „Erotik“ überschrieben. Ein besserer und passendere Titel wäre vielleicht „Erotik und Liebe“, denn diese beiden Eckpfeiler umfasst das sinnliche Vergleichen.
Die jeweilige Vita der beiden Autoren hat Helmut Schmiedt schon erläutert und seiner These folgend, dass der Autor nie ganz aus seinen Figuren verschwindet, müsste sich die Waage auch zu Gunsten Goethes neigen. Nicht umsonst leiten Blicke in den „Werther“ und die „Lehrjahre“ diesen Abschnitt ein. Goethe als Wortschmied kann eine sinnliche, erotisierende, aber keine expliziert sexuelle Atmosphäre erzeugen. Das hätte Probleme mit der Öffentlichkeit gegeben. Aber auch sonst provozieren die verschiedenen Beziehungen zwischen Frauen und Männern.
Bei Karl May kommt es zu einer Zweiteilung in die abenteuerlichen Kolportageromane, deren erotische Passagen in einem Zeitalter der erneuten Prüderie zu einer Diffamierung als Schmutz und Schund führten. Karl May hat immer wieder behauptet, der Verleger hätte diese beanstandeten Abschnitte von einem anderen Autoren schreiben lassen und eingefügt. Handelt es sich deswegen um einen echten Karl May unter Pseudonym, der zu einer Gegenüberstellung herangezogen werden kann? Helmut Schmiedt müsste Zeugnis führen, dass Karl May diese Abschnitte wirklich geschrieben und vor allem auch so gemeint hat. So ist es fairer, diese fünf Romane als gedanklichen Exkurs anzusehen und sich auf die Passagen in den Büchern zu konzentrieren, die der Sachse als von eigener Hand auch anerkannt hat. Da wird es biederer. Ein im Grunde harmloser Kuss in „Orangen und Datteln“, Winnetous Liebe zu Rabanna und schließlich die in mehrfacher Hinsicht zu interpretierenden Landschaftsbeschreibungen. So fern sie nicht kopiert sind.
Helmut Schmiedt führt aus, dass Arno Schmidt die Ideen von homosexuellen Sehnsüchten in Karl Mays Werk aufgeworfen hat. Eine These, die sich erstens trotz zahlreicher Zitate nicht wirklich beweisen lässt und die zweitens von der ernsthaften Karl May Forschung als Irrweg angesehen wird. Erst mit „Brokeback Mountain“ durfte Mann ein Mann sein und dementsprechend gleichgeschlechtlich lieben. Die Interpretation von engen Männerfreundschaften als öffentliche Tarnung homosexueller Gelüste ist kein neues Phänomen. Winnetou und Old Shatterhand; Sherlock Holmes und Doktor Watson; Captain Kirk und sein Spock.... die Liste ließe sich beliebig fortsetzen und sollte in dieser Studie nur als Fußnote betrachtet werden.
Auch der „Umgang mit der Natur“ ist hinsichtlich der Gegenüberstellung ein wenig karg. In den Lehrjahren gibt es ein wildes Tier, bei Karl May hunderte von unterschiedlichen Wildtieren. Bei Goethe steht die Natur immer in einem engen Verhältnis zur Gefühlslage der Menschen, bei Karl May nutzt Old Shatterhand brennende Kakteen, um den Wolken Regen zu entlocken. Bei Karl May sind die Helden immer Bestandteil der Natur, aber das weite Land oder die unwirtliche Wüste werden nicht von ihren Stimmungen beeinflusst. Anders vielleicht, wenn die Strapazen der Reise zu groß sind und Pausen gemacht werden müssen. Dazu nutzen sie die Natur effektiv, wie Winnetous Nachricht für Old Shatterhand, versteckt hinter einem artfremden Ast, beweist.
Aber Karl Mays Beschreibungen sind – wie schon mehrfach erwähnt – auch eine seltene Mischung aus reiner Phantasie und guter Kopie. Bei Goethes „Wahlverwandtschaften“ ist die Zähmung der Natur in Form von Schlossanlagen nicht nur harte Arbeit, sondern dem auch zwischen menschlichen Misserfolg gleichgesetzt. Karl May nutzt die Natur in seinem Werk niemals als Metapher. Natur ist bei Karl May elementar, bei Goethe emotional. So leicht lässt sich dieser Abschnitt zusammenfassen.
Dagegen ist „Umgang mit Bildung“ eine Herausforderung. Das macht auch Helmut Schmiedt deutlich, in dem er „von einer Stelle“ spricht, „an der ihre Plausibilität grundsätzlich zweifelhaft erscheinen mag“ (Seite 281).
Unterschiedlicher könnten die Voraussetzungen der Autoren nicht sein. Nicht nur hinsichtlich ihrer Herkunft, sondern vor allem hinsichtlich ihres Zielpublikums und schließlich auch Karl Mays Sendungsbewusstsein, mit seinen Bücher endlich der gute Lehrer zu sein, der er wegen seiner kriminellen Taten nicht werden konnte. Aber Helmut Schmiedt macht auch deutlich, dass Goethe und Karl May für eine gänzlich andere Bildungsschicht schrieben. Bei Karl May konnten viel mehr Menschen lesen und taten es auch als Freizeitbeschäftigung. Den elitären Kreis seiner Leser brauchte Goethe nicht mit Hintergrundwissen aufzuklären, es wurde einfach erwartet. Dabei soll nicht gesagt werden, dass Karl May Leser ungebildet an den Stoff herantreten dürfen. Die Parodien des Hobble Franks sollten genau erkannt werden, wie zum Beispiel der Hinweis auf „Das Lied von Hiawatha“. Aber Goethes Texte quellen förmlich vor Zitaten über.
Obwohl Goethe kein religiöser Mann gewesen ist und Karl May für eine katholische Zeitschrift geschrieben hat, finden sich in beiden Werken christliche Symbole. Bei Karl May gehen diese schließlich in sein reales Leben über, als er sich über Jahre von der Öffentlichkeit ans Kreuz geschlagen sieht. Werther tötet sich am Geburtstags Jesus Christi, auch wenn viele Analogien auf Christus wie das letzte Abendmahl mit Brot und Wein ja eher zum Karfreitag passen. Aber der Heilige Abend ist theatralischer. Da wird dann kurz umgeplant.
Goethes Bücher strotzen vor Bildung, aber Karl Mays Romane belehren im positiven Sinne manchmal sehr ausführlich das einfache Volk. Helmut Schmiedt arbeitet diesen augenscheinlichen Widerspruch überzeugend heraus und niemals in diesem ganzen Buch sind sich die Autoren Goethe und Karl May, aber nicht ihre Figuren näher.
Auf den ersten Blick scheint das Kapitel „Bauformen des Erzählens“ absurd. Auf der einen Seite der eloquente Goethe mit der ganzen stilistischen Klaviatur des Erzählens, auf der anderen Seite der stoische Ich- Erzähler Karl May mit seinem Hang zu endlosen langen Dialogen und vor allem der Identifikation mit seinen wichtigsten beiden Protagonisten Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi.
Aber Helmut Schmiedt will sich mit diesen simplen Tatsachen nicht begnügen. Es geht ihm nicht nur um die Struktur, sondern die Form des Erzählens, welche untrennbar mit dem Gehalt des Erzählten in einen Zusammenhang zu setzen ist. Neben dem Ich- Erzähler arbeitet Karl May gerne mit Wiederholungen. Helmut Schmiedt verweist auf die zahlreichen Verfolgungsjagden durch unterschiedliche Terrains auf den verschiedenen Kontinenten. Die Jagd bleibt gleich, der Unterschied liegt in den Details. Aber auch Varianten nutzen sich irgendwann ab. In Hinblick auf Goethes Werk setzt Helmut Schmiedt seinen Schwerpunkt beim „Werther“, der über strukturelle Wiederholungen in Briefform durch die Stärkung einzelner inhaltlicher Aspekte verfügt. Daher holpert der Vergleich ein wenig.
Karl May und Goethe sind Erzähler, die manchmal, aber nicht immer, auch die Handlung unterbrechen, um nicht nur auf den ersten Blick zusammenhanglose Episoden zu präsentieren. Bei Goethe stärken diese Geschichten innerhalb der Geschichte die charakterliche Entwicklung der Figuren; Karl May hat diese Methode einmal genutzt, um seine Rechte an den alten Romanen zu stärken, dann aber auch, um wie bei den Dialogen Seiten zu schinden. Ein gängiges Mittel vieler Kolportage Autoren wie zum Beispiel Robert Kraft. Die Bauformen sind gleich, die Intention konträr.
Am Ende versucht Helmut Schmiedt die strukturellen Thesen auf die Entwicklung der einzelnen Figuren mit einem Schwerpunkt Werther und Winnetou zu reduzieren. Werther ist eine kontinuierliche wie emotionale Abwärtsbewegung bis zum Selbstmord. In „Winnetou“ I geht es um die unaufhaltsamen Aufstieg eines Greenhorns zum späteren Überhelden.
Das Kapitel endet mit der Definition eines Leitmotivs am Beispiel der „Wahlverwandtschaften“. Schon in einem der vorangegangenen Kapitel hat der Autor auf die stetige Arbeit an den Schlossgärten als verzweifelte Zähmung der Natur hingewiesen. Hier nutzt er es noch einmal als roten Faden in Goethes Werk. Bei Karl May wäre die Gerechtigkeit ein deutlich stärkeres Leitmotiv, das sich nicht nur in den jeweiligen Helden manifestiert, sondern sie unter Lebensgefahren zu immer neuen Höchstleistungen motiviert. Dazu gehört aber auch die Struktur der Erzählung. Wieder greift Helmut Schmiedt die „Wahlverwandtschaften“ auf und versucht an Hand der Komplexität der Struktur nachzuweisen, dass die übertriebenen guten Absichten in dieser Häufung komisch wirken könnten.
Aber beide Aspekte gehören eigentlich nicht zu den Bauformen des Erzählens, in denen der Inhalt der Struktur des Textes gegenübergestellt werden soll.
Goethe als komischer Autor? Das mag ein Leser nicht glauben. Aber mit „Varianten der Komik“ versucht Helmut Schmiedt diesem Sujet auf den Zahn zu fühlen. Dabei muss er erst einmal den Begriff der angewandten Komik definieren. „Die Komik entsteht dadurch. Das etwas zusammenkommt, was nicht zusammenpasst“ (Seite 312). Und plötzlich kann ein Leser an der Seite Helmut Schmiedts auch in den tragischen Geschichten unpassende und damit per Definition auch komisch wirkende Momente erkennen. Natürlich sind es bei Karl May vor allem seine skurrilen Nebenfiguren und der naiv dümmliche, aber unendliche reiche Sir David Lindsay als Karikatur des britischen Adels, der seinen Zenit überschritten hat. Helmut Schmiedt findet in Goethes Werk einzelne kleine Sequenzen, in denen diese Widersprüchlichkeiten zur Erwartungshaltung der Leser auch komisch wirken könnten. Das zeigt sich an der Übersteigerung von Ritualen, die bei Karl May nicht selten auch von einer Form des Aberglaubens begleitet werden. Bei Goethe sind Rituale schwieriger zu erkennen, aber als Gegengewicht präsentiert Helmut Schmiedt einzelne Beispiele.
Goethes Komik ist subtiler und dient laut Helmut Schmiedt als „untermittelbar der Abrundung und Ergänzung eines übergreifenden Zusammenhangs“ (Seite 326). Aber ist es im direkten Vergleich zu Karl Mays deutlich mehr greller Situationskomik noch wirklich komisch? Diese Frage bleibt offen.
Helmut Schmiedt beendet den zweiten Teil seiner Studie, wie er ihn begonnen hat: mit Sätzen. Auf die ersten Sätze müssen natürlich die letzten Sätze folgen, wobei das mit dem Epilog im „Orient“ Zyklus oder dem Anhang bei „Winnetou“ III schon schwieriger zu definieren ist. „Hier ruht die rote Rasse. Sie wurde nicht groß, weil sie nicht groß werden durfte“ (Seite 332) ist der eigentliche Schlusssatz Karl Mays. Damit hat er vieles, vielleicht nicht sogar alles in seinem Werk gesagt. Dass diese Worte nicht die letzten Worte sind und der Sachse auch nach „Winnetou“ III weitere Abenteuer konzipierte, steht auf einem anderen kommerziellen Blatt. In seinem Alterswerk ist er mit den Hinweisen auf weitere Reisen einem solch finalen Ende entgegengetreten. Dramaturgisch ein Rückschritt. Ein derartige Vor-Schlusssatz findet sich an keiner weiteren Stelle in Karl Mays Werk.
Goethes Bücher enden subtiler. Es sind lange Spiralen dem Ende, meistens dem Sterben entgegen. „Werther“, die Lehrjahre und „Wahlverwandten“ enden wie „Winnetou“ III mit dem Tod. Nicht aller Figuren, aber einiger Protagonisten. Aber Goethes Geschichten sind dann auch zu Ende, während Karl May mit der Verbindung des jeweiligen Anfangs mit dem Ende die einzelnen Reiseabenteuer als Bestandteil eines großen Erzählung angesehen hat. Vielleicht sogar als Chronik des eigenen Lebens in einer anderen Welt.
„Werther trifft Winnetou“ mit dem Untertitel „Über Goethe und Karl May“ ist ein kurioses Experiment. Der an Verkaufszahlen immer noch populärste Autor begegnet dem Schriftsteller, dessen Namen mit Deutschtum am meisten in einen Zusammenhang gebracht wird. Helmut Schmiedt präsentiert eine anspruchsvolle, eine teilweise überambitionierte sekundärliterarische Gegenüberstellung, die beiden interessanten Lagern im Grunde nicht gerecht werden kann. Zu umfangreich sind die beiden Gesamtwerke, teilweise inhaltlich natürlich auch zu konträr. Wie bei den Affen an den Schreibmaschinen, die irgendwann laut der Statistik einen Shakespeare verfassen, gibt es Ähnlichkeiten, Annäherungen und Zufälligkeiten. Nimmt der Leser Karl May als fixen Ausgangspunkt, dann ist es nicht unmöglich, dass sich Goethe durch andere Autoren wie Schiller (angesprochen), den Gebrüdern Grimm, provokant Hermann Hesse oder Thomas Mann ersetzen ließe. Gäbe es auch vergleichbare Überschneidungen ? Sehr wahrscheinlich. Aber Goethe zieht mehr. Der Titel konzentriert sich auf Werther und Winnetou, was nur bedingt richtig ist. Es geht um Karl May und Goethe.
Daher handelt es sich bei dieser Studie auch um einen literarischen Spass. Ernst erzählt und ist auch ernst gemeint. Die meisten Käufer werden eher Karl May als Goethe auswendig kennen. So lernen sie den Dichterfürsten aus der Perspektive ihres liebsten Autoren kennen. Manchmal ein wenig verkniffen und zu sklavisch fokussiert präsentiert Helmut Schmiedt eine Abfolge von Fakten, aber auch Thesen, deren Beweise er teilweise durch die Verschiebung der literarischen Versuchsobjekte innerhalb der jeweiligen Gesamtwerke Mays und Goethes schuldig bleibt. Tritt Werther wirklich Winnetou? Nein, das ist nicht der Fall. Irgendwo in dem riesigen Pantheon aller fiktiven Figuren könnten sie sich gegenseitig betrachtend aneinander vorbei gelaufen sein. Mehr aber nicht.
Kommen dem Leser Karl May oder Goethe näher? Nur mit Einschränkungen, da Helmut Schmiedt sich ja bei seiner Studie vor allem Sekundärliteratur zitierend auf Gegenüberspielungen konzentriert, die Werke aber nicht neu seiner Ausgangsthese der Übereinstimmungen folgend interpretiert.
Trotz der zahlreichen kritischen Anmerkungen hat die Lektüre vor allem wegen der auf den ersten Blick bizarren Ausgangslage Spaß gemacht. Helmut Schmiedt kennt seinen Goethe. Er kennt auch seinen May. Daher verweist er auf eine Vielzahl von Handlungselementen und Textstellen direkt, ohne sich in dieser Hinsicht auf Zweitzitate zu verlassen. Dank dieser Vorgehensweise wird “Werther trifft Winnetou” eine zusammenfassende Reise durch einen großen Teil des May´schen Werkes. Viele Käufer des Buches werden mit Goethe weniger vertraut sein. Ob sie nach Helmut Schmiedts Studie zum Dichterfürsten greifen, lässt sich nicht beurteilen. Aber über Karl May eröffnet Schmiedt den interessierten Lesern einen Teilzugang zum Dichterfürsten und erdet ihn nicht nur als Menschen, sondern hinsichtlich Teilen seines Werkes.
Am Ende wird der Leser erkennen, dass Goethe auch nur ein Mensch gewesen ist. Und was für einer. Damit ist zumindest ein wichtiges Ziel dieser Studie erreicht.

- Herausgeber : Karl-May-Verlag GmbH
- Erscheinungstermin : 17. Juli 2024
- Auflage : Erstausgabe von 2024
- Sprache : Deutsch
- Seitenzahl der Print-Ausgabe : 360 Seiten
- ISBN-10 : 3780205793
- ISBN-13 : 978-3780205797
