Sherlock Holmes & das Necronomicon

Sylvain Cordurié, Laci

Mit "Sherlock Holmes und das Necronomicon" erscheint der zweite bislang, ursprünglich in Frankreich schon 2011 veröffentlichte Comic um den britischen Meisterdetektiv und seine Begegnungen mit dem Übernatürlichen.         

Das erste Abenteuer "Sherlock Holmes und die Vampire von London" ist vor einigen Jahren genau im Mosaik Steinchen für Steinchen Verlag wie französische Originalausgabe in zwei Alben publiziert worden. Kurze Erläuterungen über die unnatürliche Phänomene und die erste Wiederkehr Moriartys finden sich auch im vorliegenden „Sherlock Holmes und das Necronomicon“, es ist nicht unbedingt notwendig, den ersten Comic gelesen zu haben. Es macht den Leser aber eher mit dem überwiegend realistischen Hintergrund und den wenigen phantastischen Abweichungen vertraut. Der dritte Teil   "Sherlock Holmes & Les Voyageurs du temps"  sowie die "Sherlock Holmes: Crime Alley Tomes" sind bislang nur in Frankreich erschienen. Eine Chronik mit dem Schicksal Moriartys wird ebenfalls von Sylvain Cordurié und seinem Zeichner Vladimir Krstic - Laci  angekündigt. 

 Der 1968 in Neuilly-sur-Seine geborene Cordurie hat sich vor allem durch verschiedene Fantasy- Serien wie "Die Herren von Cornwall" oder "Ravermoon einen Namen gemacht. Die "Sherlock Holmes" Abenteuer  stellt seine erste Zusammenarbeit mit Vladimir Krstic- Laci dar, der sich neben seiner Tätigkeit als Dekorateur im Theater einen Namen als Graphik Designer gemacht hat. Zwischen seinen ersten Comic Veröffentlichungen und seiner Rückkehr 2006 zu den französischen Verlagen hat der Illustrator fast zwanzig Jahre "Pause" gemacht. Im Gegensatz zum "Mosaik" Verlag legt der Splitter die beiden einzeln in Frankreich veröffentlichten Alben als "Double" in einem schön gestalteten Band auf.  

 Das Objekt der Begierde ist das wohl berühmteste fiktive Buch der Literaturgeschichte. H.P. Lovecraft erschuf dieses Buch als Teil des Ctulhu Mythos und erwähnte es vor der ersten aktiven Erwähnung in der Kurzgeschichte "The Hound" in Briefen an einen Freund. Der Name soll ihm in einem Traum eingefallen sein. Eng verbunden ist wie auch im Comic das Schicksal dessen Autoren, dem verrückten Araber Abdul Alhazred. Das Interessante am "Necronomicon" in Lovecrafts ursprünglicher Verwendung ist die Hintertür von seinen ansonsten eher streng regulierten Horrorkurzgeschichten ins Mystische. Seit der ersten Erwähnung hat das "Necronomicon" eine Art Eigenleben entwickelt und wurde in zahlreichen Kurzgeschichten, Romanen und Filmen erwähnt. Es gelang dem Buch sogar, die TARDIS des Dr. Who zu einem Planeten im Nichts zu entführen, auf dem er zusammen mit seiner Begleiterin  in einer namenlosen Stadt - auch eine Hommage an Lovecraft -  kurzweilig gestrandet ist.  Im vorliegenden Holmes Abenteuer wird Anfang der zweiten Hälfte kurz der wahnsinnige Autor erwähnt. Ansonsten hält sich Cordurie sehr eng an die Lovecraft Vorlage, wobei das dramaturgisch überspannte Ende eher eine Mischung aus Clive Barkers „Books of Blood“ Texten und einem Superheldencomic ist.

In Bezug auf die eigentlich zu Grunde liegende Sherlock Holmes Geschichte  geht der Autor anfänglich einen anderen Weg. Die Handlung spielt in den verlorenen Jahren nach Holmes Tod an den Reichenbachfällen.Die Expedition ins ewige Eis mit einem inkognito reisenden Sherlock Holmes erinnert eher an das Ende von Mary Shelleys "Frankenstein". Während Frankenstein im Eis seiner Kreatur begegnet, sieht Holmes in einer Vision den fatalen Kampf mit Moriarty, der – wie der Leser dank des Prologs weiß – noch lebt. Holmes und Moriarty bilden in dieser Geschichte im realistischen Sinne des Wortes zwei Hälften, die untrennbar miteinander verbunden sind. Während andere Autoren mit der Idee spielten, dass sich ein gelangweilter Sherlock Holmes den Professor nur eingebildet oder ihn selbst erfunden hat, ist Moriarty in „Sherlock Holmes und das Necronomicon“ Realität. Denn nicht nur eine Sondereinheit der britischen Polizei sucht ihn seit 12 Jahren vergebens, Moriarty hat unmittelbar vor seinem Sturz in die Fälle, sein Bewusstsein mit dem Holmes verschmolzen. Das gelang ihn durch den Einsatz von mystischen, aus dem Nahen Osten stammenden Zauberformeln, für die sein lange Zeit im Hintergrund agierender arabischer Begleiter zuständig ist. Diese Idee ist nicht nur neuartig, sie wäre auch faszinierend, wenn Corduie sie nicht kontinuierlich unterlaufen würde. Um den mehr und mehr zerfallenden, aber geheilten Originalkörper Moriartys mit dessen vollständigen Geist wieder zu beleben, braucht er das „Necronomicon“. Das Buch der Bücher hält die britische Regierung – hier finden sich ausreichend Anspielungen nicht nur auf einen phantastischen Hintergrund, sondern eine Art archaischen Steampunk inklusiv entsprechender Vorahnungen, dass Holmes bei kommenden Ereignissen eine wichtige Rolle spielen wird – in einem Museum versteckt. Der Austausch der so konträren Geister gelingt, wobei Moriarty sich aus dem Staub macht und einen leblosen, apathischen Holmes zurücklässt. Mit dieser schockierenden Erkenntnis endet die erste Hälfte des Albums.

Bislang konnte ein ausgesprochen passiver Sherlock Holmes nur reagieren und Cordurie geht an keiner Stelle auf die außergewöhnlichen deduzierenden Fähigkeiten Holmes ein. Mit einigen kleineren Veränderungen könnte der Ich- Erzähler Holmes – in Lovecrafts Geschichten erzählt nicht selten der Betroffene selbst von seinen Erfahrungen – durch verschiedene andere Pulpcharakter der viktorianischen Abenteuerliteratur bis zu den Pulpgeschichten der dreißiger Jahre ersetzt werden. Es ist kein klassisches Sherlock Holmes Garn, dass der Franzose erzählt. In einigen wenigen Rückblicken hat er durch die Augen des Meisterdetektivs seine Leser schon auf ein von übernatürlichen Phänomenen wie Vampires, Zombies und schließlich den an einen Werwolf erinnernden High Lord vorbereitet. Mit der Auflösung dieses Cliffhangars geht Cordurie noch einen Schritt weiter. An der Seite Holmes stand eine attraktive junge Frau Miss Connelly, die ihn erst wie Irene Adler manipulierte und auf eine eher fiktive Ermittlungsspur setzte. Im Laufe des Plots stellt sich nicht nur heraus, dass sie zumindest Emotionen spüren kann, sondern plötzlich auch um Holmes Geist während der metaphysischen Transplantation einen Schutzschirm legen kann. In einer anderen relevanten Szene lässt sich sie zusammen mit dem Detektiv aus dem sichtbaren Bereich der Spezialagenten verschwinden. Diese Fähigkeiten werden nicht hinterfragt noch erklärt. An einigen Stellen sind die einfach notwendig, um den stark konstruierten Plot aufzulösen und das hohe Tempo der Geschichte nicht erlahmen zu lassen. Erst gegen Ende übernimmt ein an Robert Downey jr. erinnernder Holmes die Initiative und stellt Moriarty/seinen Hintermann zu einem finalen Duell, das gleichzeitig wie auch in Lovecrafts dunklen Geschichten über die Zukunft der Menschen und den Einfluss der dunklen Mächte aus dem Jenseits entscheidet. Trotz der optischen Virtuosität, mit der Laci die großformativen Seiten füllt, wirkt die finale Konfrontation zu aufgesetzt, zu wenig intellektuell und angesichts der Tatsache, dass sich Moriartys und Holmes Geist niemals im Kanon näher gestanden haben, auch zu wenig pointiert geschrieben.

Holmes ist als ermittelnder Detektiv eher durchschnittlich entwickelt worden. Dafür der Napoleon des Verbrechens mit einer erstaunlichen Perfektion. Brutal, rücksichtslos und entschlossen setzt er seine wahnsinnigen Pläne durch, bis er schließlich in einer der wenigen nachhaltigen Wendungen des Plots erkennt, das auch er nur benutzt worden ist. Wie schon angesprochen könnte Miss Connelly eine neue Irene Adler allerdings im Auftrag der nicht dummen britischen Regierung werden. Im Vergleich zu allen anderen Texten, in denen Holmes verlorene Jahre höchstens seinem Bruder Mycroft bekannt gewesen sind, weiß die britische Regierung über Holmes bescheid und alleine die Königin schätzt seine Fähigkeiten. „Sherlock Holmes und das Necronomicon“ liefert auch keinen abschließenden Beweis, ob Holmes wirklich alleine den Fall schlechter oder besser als der Chef dieser Geheimorganisation Damien, dem allerdings in einigen entscheidenden Punkten das entsprechende Wissen abgeschnitten worden ist. Den Fehler, Moriarty den Zugang zum „Necronomicon“ zu gewähren, machen Damien und Holmes in Personalunion. Laci zeichnet Miss Connelly als eine zeitlose Schönheit, zierlich, brünett, intelligent, ausgesprochen modern denkend mit Respekt vor Holmes Fähigkeiten, aber auch dank ihrer übernatürlichen instinktiv eingesetzten nicht weiter beschriebenen Mutantenfähigkeiten an einigen Stellen einen wichtigen Schritt voraus. Holmes akzeptiert sie als gleichberechtigte Partnerin, auch wenn das hohe Tempo der Geschichte eine weitergehende Entwicklung der Charaktere nicht zulässt.

Um Holmes, Moriarty und Miss Connelly herum haben Cordurie und sein kongenialer Partner eine Reihe von markanten, zeitgemäßen Nebenfiguren gesetzt, welche immer unterstützend tätig sind und trotzdem als Individuen leicht zu erkennen sind. Das beginnt beim schwedischen Forscher, der zu Holmes Lehrer auf der Expedition in die Antarktis wird und der ihm die Liebe zur Literatur mit auf den Weg geht und endet bei Königin Victoria, die sich hinter ominösen Andeutungen hinsichtlich Holmes relevanter Zukunft eher versteckt.

Als Abenteuergeschichte mit einigen Kompromissen und vor allem als interessante Neuinterpretation vieler Motive aus Lovecrafts Geschichte überzeugt „Sherlock Holmes und das Necronomicon“ deutlich mehr denn als klassische Detektivgeschichte. Holmes braucht aufgrund seiner Verbundenheit mit Moriarty wenig ermitteln, er kann den überdeutlich ausgelegten Spuren folgen, wobei er anfänglich von Moriarty in typischer James Bond Antagonisten Manier über dessen detaillierte Vorbereitungen hinsichtlich der Konfrontation an den Reichenbachfällen informiert wird. Holmes muss auch am Ende dieser visuell betörenden Sequenz von Damien und Miss Connelly gerettet werden, nachdem er vorher sehr leichtfertig in Moriartys schließlich doch nicht perfekte Falle gelaufen ist.  Auf der anderen Seite fügt Cordurie mit einem Leben als Buchhändler in den verlorenen Jahren und einer interessanten Erklärung für Holmes Opiumsucht dem Kanon auch neue, nicht unbedingt zu widerlegende Aspekte hinzu.

Während Cordurie wie schon angesprochen eine kurzweilig zu lesende Mischung aus Lovecraft, Doc Savage und vielleicht Sir Henry Rider Haggard vorgelegt hat, konzentriert sich Laci mit seinem detaillierten, technisch orientierten Zeichnungen am Steampunk und entwickelt ein archaisch viktorianisches England, in das immer wieder Aspekte moderner Architektur genauso einfließen wie mystische Anspielungen auf übernatürliche Wesen. Die Charakterzüge der handelnden Protagonisten sind ausgesprochen genau herausgearbeitet, auch wenn Holmes asketische Züge ein wenig zu breit erscheinen. Die Komposition der Bilder, der visuelle Erzählfluss und die gute Mischung aus Totalen und kleineren Frontalzeichnungen ist überdurchschnittlich gut. Der sich durch weite Teile der Geschichte ziehende Realismus wird bei der finalen Konfrontation durch die auch bei Lovecraft nur selten eindeutigen Oberflächlichkeiten ersetzt. Dieser Wechsel ins latent Surrealistische stört ein wenig angesichts der letzt endlich zu einfachen Auflösung des Plots, wird aber durch den genau gezeichneten Epilog wieder relativiert.

Der Splitter Verlag hat den „Double“ Band mit einigen Werkzeichnungen, einer kurzen Vorstellung der Künstler und einem kurzweilig zu lesenden Interview ergänzt. Zusammenfassend stellt „Sherlock Holmes und das Necronomicon“ eine lesenswerte Fortsetzung von „... Vampire in London“ dar, wobei Cordurie sich bis auf wenige Referenzen mehr und mehr vom Originalkanon entfernt und eine eher Steampunkwelt erschafft, in der Sherlock Holmes irgendwann in der Zukunft eine sehr wichtige Rolle spielen , momentan aber eher wie ein Spielball zwischen den übernatürlichen Elementen unter scharfer Bewachung des britischen Geheimdienst hin und her getrieben wird. 

 

 

 

 

 

 

 

 

EinbandHardcover
Seiten112 Seiten inkl. Bonusmaterial
Band1 von 1
Lieferzeit3-5 Werktage
ISBN978-3-86869-107-8
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