Revival

Stephen King

In verschiedenen Interviews hat Stephen King betont, dass der vorliegende Roman „Revival“ von Mary Shelleys „Frankenstein“ – hier gibt es am Ende des Buches eine interessante doppeldeutige Namensanspielung – und Arthur Machens Geschichte „The Great God Pan“ hat inspiriert worden ist. Hinzu kommt die Erwähnung der gestaltlosen „Great Ones“ von H. P. Lovecraft. Viel interessanter ist, dass King in diesem Roman, dessen Grundidee er schon lange in sich getragen hat, nach „Dr. Sleep“  eine weitere Schwäche seiner früheren Jahre buchstäblich ausmerzt. Die Identifikationsfigur in „Dr. Sleep“ ist Alkoholiker wie Stephen King. Der Ich- Erzähler in „Revival“ ist zeitweise Drogen süchtig, wobei Stephen King auf Kokain und niemals Heroin zurückgegriffen hat. Im Gegensatz zu „Dr. Sleep“ erzählt der Amerikaner hier der Tradition seiner Vorbilder wie Shelley, Machen und Lovecraft folgend die über fünf Jahrzehnte sich hinstreckende Lebensgeschichte aus der distanzierten, aber emotional weiterhin ergreifenden Perspektive eines alten, ein wenig gereiften Mannes. Theoretisch – da auf die distanzierte Ich- Erzählerberichtsform verzichtet wird – wird dem Plot einiges an Spannung genommen, da der Leser weiß, dass zumindest der Erzähler überleben will. Praktisch reiht sich allerdings „Revival“ in eine Reihe von King Büchern ein, in denen der unschuldige Protagonist der Faszination nicht unbedingt des klassischen Grauens, sondern der menschlichen Versuchungen unterliegt.  „Needful Things“ wäre hier insbesondere zu nennen. Nur taucht das „Grauen“ weniger in Form eines umtriebigen Händlers auf, sondern in einer kleinen Gemeinde in seinem inzwischen so bekannten Neu England taucht in den sechziger Jahren, die für viele ein Zeitalter des sozialen Aufbruchs in rückblickend eine ungewisse Zukunft darstellte, ein neuer Priester auf. Charles Jacob ist jung, nicht unattraktiv und kann insbesondere mit den Kindern umgehen, wie der Erzähler des Dramas Jamie Morton bei seiner ersten Begegnung feststellen muss. Der lange Schatten Jacobs – ein anfänglich symbolisches Bild, aber diesen Schatten wird Jamie Morton Zeit seines Lebens nicht mehr wirklich los – überdeckt Mortons Spielzeugsoldatenspiel. Während Reverend Jacobs in erster Linie von den Frauen inklusiv Jamies Schwester Claire und seiner Mutter angeschmachtet wird, verlieben sich die Jungs und Männer platonisch in dessen attraktive Frau. Jamie Morton ist der einzige, der dessen frühen Experimenten mit Strom – eine weitere Anspielung auf Frankenstein, der Energie aus Blitzen bezog – beiwohnen darf. Als dann auch noch sein älterer Bruder, der unter einem Wegfall der Stimme, leidet, geheilt, ist für Jamie Morton klar, dass Reverend Jacobs nur ein echter Vertreter Gottes auf Erden sein kann. Kurze Zeit später – durch die erzähltechnischen Sprünge hat es sich angedeutet – kommen Jacobs Frau und ihr gemeinsamer Sohn bei einem Autounfall ums Leben.  So erschütternd diese Szene auch beschrieben worden ist, lässt Stephen King erstaunlich viele später relevante Implikationen liegen. Ein Zeuge sagt, dass die Frau des Reverends anscheinend betrunken gewesen ist, auch wenn sie am eigentlichen tragischen Unfall keine Schuld getragen hat. Diese Idee wird später nicht ausreichend nachhaltig aufgenommen. Kurze Zeit später tritt der Reverend vor die Gemeinde und verflucht in einer ausgesprochen pragmatischen Rede Gott und Gottes Wille.  In diesen wenigen aber  sehr relevanten Szenen argumentiert Stephen King nicht nur religiös provokant, aber nachvollziehbar, er schockiert die bis dahin zumindest Unschuld mimende Gemeinde. Das Ende ist konsequent wie vorhersehbar. Der Reverend wird entlassen und verlässt die kleine Stadt. 

Nach diesem trotz Jamie Mortons Vorgriffen auf spätere Ereignisse stringenten Auftakt konzentriert sich der Plot – bis zu diesem Augenblick gibt es keine einzige Szene, die übernatürlichem Ursprungs sein könnte – auf Jamie Mortons Wanderjahre, in denen er neben der Musik auch dem Alkohol und den Drogen an Heim fallen wird.  Stephen King hat in seiner langen Karriere immer wieder auf den durchschnittlich erfolgreichen, aber talentierten Künstler zurückgegriffen. Meistens sind es Schriftsteller gewesen. Da King selbst seit mehr als zwanzig Jahren in einer Hobby Band die Gitarre schwingt, ist es keine Überraschung, dass er dieses Mal einen soliden Backgroundgitarristen, zu dem sich Jamie Morton mausert, in den Mittelpunkt des Romans stellt. Von ihm als Musiker erwartet man Zuverlässigkeit und Solidität. Er steht nie im Mittelpunkt des Geschehens, aber als Taktgeber ist er auch unverzichtbar. Jamie Morton fasst in wenigen Zeilen seiner Karriere relativ pragmatisch bis zu dem Augenblick zusammen, in dem sein Drogenkonsum ihn Auftritte versäumen lässt. Ob es mit dem Thema des nahenden Todes zusammenhängt, kann nicht abschließend geklärt werden, aber sowohl Stephen King als auch Jamie Morton blicken aus der Position der positiv gesprochen Altersweisheit auf ihre Leben mit zahlreichen Höhepunkten aber auch Tiefschlägen zurück.  Während „Dr. Sleep“ eine schonungslose Auseinandersetzung mit dem König Alkohol und seinen Folgen ist, die angenehm autobiographisch erschienen ist, beschreibt King im vorliegenden Roman eindringlich, aber nicht so konsequent die Folgen von Drogenkonsum. Während King in eine Entziehungsanstalt freiwillig um seine Ehe zu retten gegangen ist, wird Jamie Morton von Jacob gerettet, als sie sich zufällig auf einem Jahrmarkt wiederbegegnen. Hier lebt der ehemalige Priester von Trickphotographie, die bei seinen „freiwilligen“ Opfern auch Spuren hinterlassen wird. Interessant ist, mit welch einfachen Mitteln Stephen King die Figuren angenähert hat.  Jacob hat doch einen tragischen Unfall seine Familie verloren. Er strebt mit einer krankhaften Art danach,  Krankheiten zu besiegen und im zweiten Schritt natürlich Leben dem Tod zu entreißen. Neben seiner Drogensucht hat Jamie seine geliebte Schwester verloren, die von ihrem brutalen Ehemann erschossen worden ist. Seine Mutter ist an Krebs gestorben. Im Grunde begegnen sich die beiden Protagonisten auf Augenhöhe und die anfänglich bewundernde Freundschaft zwischen dem kleinen Jungen und damit jungen Mann relativiert sich auf eine faszinierende Art und Weise. Während Jacob immer verzweifelter und damit auch kränklicher wird – ein Aspekt, den King diesem Roman originell im Vergleich zur Frankenstein Thematik hinzugefügt hat – gesundet Jamie Morton nicht zuletzt dank der Hilfe des Priesters. Trotzdem werden sie sich noch zweimal gegenüber stehen, wobei Jamie Morton inzwischen von dessen Forschungen sowohl im Bereich der Wunderheilung – wie viele Sterbenskranke muss man mindestens retten, um Gutes zu tun? – als auch der absichtlich antiquiert beschriebenen Elektrophotographie – vielen erinnert an die nicht immer klassischen Horrorfilm wie „The Asphyx“, in denen Manifestationen beschrieben worden sind – sehr viel kritisches und fragwürdig gehört hat. Natürlich lässt sich argumentieren, dass eine dieser Begegnungen stark konstruiert erscheint. Aber der Köder muss in beiden Fällen attraktiv genug sein, um Jamie zu Jacob zu locken. Erstaunlich ist, wie lange Stephen King auf übernatürliche Elemente verzichtet. Alleine die dunklen Visionen – im Vergleich insbesondere zu „The Cell“ nimmt er sich deutlich zurück und erreicht sehr viel mehr – durchdringen die Handlung und deuten an, dass es um mehr als nur eine schwierige Freundschaft zweier sehr unterschiedlicher Männer geht. Der Schlussabschnitt ist zwar absichtlich modern gestaltet, erinnert aber hinsichtlich der offenen Struktur nicht nur an die stimmungsvollen Geschichten Machen und damit vergleichbar auch Shelleys Frankenstein mit dessen berühmten Wiedererweckungsszene, die aber schließlich in einem grotesken Alptraum gipfelt, der insbesondere Jamie Mortons Visionen wiederspiegelt.  Grundsätzlich ist dieses Finale ausreichend vorbereitet worden, wobei aber die Zeichnung Jacobs in dieser Hinsicht ein wenig ambivalent erscheint. Wie Frankenstein scheint der wirtschaftlich erfolgreiche Prediger eher am Erfolg der Forschung denn persönlichen Interessen interessiert zu sein. Obwohl schwer gezeichnet hat der Leser keinen Augenblick den Eindruck, als wolle sich Jacob nur selbst vor dem Tod und damit einhergehend aufgrund seiner Gotteslästerung ewiger Verdammnis retten.

„Revival“ ist aber ein Roman, der vom Vergehen der Zeit buchstäblich lebt. Über 5 Jahrzehnte spannt sich die Handlung. Im Gegensatz zu seinem großen politischen Epos „11/22/63“ kümmert sich Stephen King weniger um den politischen Hintergrund, den Wandel Amerikas, sondern bleibt wenig an den Figuren förmlich kleben und beschreibt ein Leben voller Höhen und Tiefen, dessen Herausforderungen teilweise nicht immer mit stolzer Brust angenommen worden sind. Wenn sich Jamies Familie wieder trifft, er in die Heimat zurückkehrt und symbolisch auf der Bühne wieder steht, auf der seine solide, aber nicht glanzvolle Karriere angefangen hat, dann schließt sich ein Kreis. Stephen King ist immer ein guter, flüssiger Erzähler geworden. Der Tonfall hat sich positiv in „Revival“ geändert. Reduziert man den Plot der Geschichte aufs Rudimentärste, dann scheint unglaublich, dass die Handlung nicht gedehnt erscheint. Aber die zahlreichen lebensechten, dreidimensionalen Figuren, denen Jamie auf seiner langen inneren Reise begegnet, die sein Leben prägen, machen die Geschichte nicht nur trotz der dunklen Hintergründe erstaunlich warmherzig und lebenswert, sie verstrahlen ohne belehrend zu erscheinen eine wie schon angesprochen zufriedene Altersweisheit und machen dem Leser klar, dass es weniger auf das Alter eines Menschen denn auf seine Einstellung dem Leben gegenüber ankommt.  Diese Erkenntnisse reifen im Zeitrafferleben Jamie Mortons, das der Leser nicht zuletzt durch die verschiedenen Zeitsprünge zwischen den einzelnen Episoden sehr gut verfolgen kann.  Sie sind teilweise so positiv gesprochen simpel, dass Leser und Jamie Morton gleichzeitig verblüfft sind.  Positiv gesprochen ist es vielleicht Stephen Kings handlungsärmster Roman, der auf der anderen Seite inhaltlich wie „Bag of Bones“,  „Dolores Clairborne“ und „Duma Key“ den Leser auf der emotionalen Ebene nicht nur anspricht, sondern ihn auf eine Reise mitnimmt, die lange nach dem eigentlichen Plot im Gedächtnis bleibt.  Auf der anderen Seite umschifft Stephen King im Vergleich zu anderen seiner Romane aber auch kritische Glaubensfragen und das Titelbild der deutschen Ausgabe verspricht einen deutlich existentielleren Kampf als Stephen King überhaupt in seiner fast intimen Geschichte anzudeuten bereit erscheint. Das der Fokus nicht ungeschickt vom Amerikaner nach einem diskussionswürdigen Auftakt anschließend abgelenkt wird, geht ohne Frage zu Lasten des inhaltlichen Gehalts und lässt Jacobs Ambitionen armseliger erscheinen als es Frankensteins Ziel gewesen ist, aber die beiden so unterschiedlichen und doch gleichen Männer werden nicht von der Idee getrieben, Gott zu imitieren, sondern den schmerzhaften Verlust in ihrem Leben – Jacobs Frau und Tochter, Frankensteins jüngerer Bruder – auf eine perfide Art und Weise auszugleichen und die Endgültigkeit des Todes zu relativieren. In dieser Hinsicht ist „Revival“ vielleicht Stephen Kings zugänglichster Horror Roman, der geschickt einen Begründer des Genres mit der Gegenwart verknüpft.    

  • Gebundene Ausgabe: 512 Seiten
  • Verlag: Heyne Verlag (2. März 2015)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3453269632
  • ISBN-13: 978-3453269637
  • Originaltitel: Revival
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