Lavie Tidhar versucht in seinem Roman "The Violent Century" im Grunde eine fast unmögliche Quadratur des Kreises. Auf der einen Seite schlägt er den nicht immer treffenden melancholischen Ton seines nicht gänzlich befriedigenden "Osama" ein, der an einigen Stellen ohne Frage richtig ist, aber schwer einen ganzen auch noch experimentell verfassten Roman durchzuhalten ist. John Le Carres frühen Agentenromanen nacheifernd - hier lässt George Smiley als Alter Mann über weite Strecken grüßen - versucht er ein chaotisches "Jahrhundert" beginnend allerdings im Jahre 1936 mit der Ausbildung der beiden Meta- Menschen Fogg und Oblivion bis eben ins 21. Jahrhundert mit den Anschlägen auf das World Trade Center in eindrucksvollen Szenen/ Bildern zusammenzufassen. Diese Aufgabe kann nur als eine Aneinanderreihung von Anekdoten erfolgen, wobei der Rahmen den Leser zusätzlich von den Ereignissen distanziert und an einigen Stellen dem zugrundeliegenden Buch ohne Frage die Spannung nimmt. Am ehesten erinnert "The violent Century" an George R.R. Martins "Wild Cards" Serie, die politische wie soziale Ereignisse beginnend unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg aufnehmend auf der Perspektive der durch das fremde außerirdische Virus veränderten Menschen/ Mutanten beschrieben hat. Im Gegensatz allerdings zu Lavie Tidhar versuchten sich die Autoren in den Mosaikromanen intensiver mit den einzelnen Figuren und daraus folgend mit den entsprechenden Ereignissen zu identifizieren. Positiv gesehen ist es die zynische Seite der beiden in diesem kleinen Subgenre herausragenden Bücher "The Amazing Adventures of Kavalier & Clay" aus der Feder Michael Chabons und Jonathan Lethems "The Fortress of Solitude". Wie Chabon und Lethem erzählt Lavie Tidhar die Geschichte des 20. Jahrhunderts - der Teil mit den Anschlägen auf das World Trade Center wirkt leider ermüdend und dient eher als Ablenkung in der sehr schematisierten Gegenwartshandlung - mit den tatsächlichen Ereignissen manchmal nur um ein oder zwei Jahre chronologisch verschoben nur mit Superhelden bzw. Superschurken neu. Im Gegensatz allerdings zu den Comicvorlagen und positiv für die ganze Erzählung definiert er seine Übermenschen nicht nach diesen Klischees, sondern sieht sie als verlängerte Arme ihrer jeweiligen "Regierungen" und damit impliziert auch der entsprechenden politischen Richtungen. Da wäre übersetzt die rote Sichel der Sowjetunion, die Übermenschen des Dritten Reiches wie Schneesturm und schließlich die Helden sowohl der USA - sie erinnern am ehesten tatsächlich an die entsprechenden Vorbilder mit einem kaum zu erkennenden Stan Lee als eine Art Ausbilder – als auch Großbritannien.
Der Episodenroman beginnt in der Gegenwart. Am Ende stellt sich heraus, das alle Ereignisse direkt oder indirekt sich in diesem Augenblick widerspiegeln. Es ist das Ende einer langen Freundschaft und vielleicht auch einer Art dienstlicher Beziehung und impliziert der Neuanfang einer Welt mit gänzlich anderen Vorzeichen hinsichtlich der Behandlung von Superhelden. Wie schon angesprochen erschwert die Konstruktion den Spannungsaufbau, da der Leser von Beginn weiß, welche der wichtigsten Protagonisten trotz oder vielleicht auch wegen aller Herausforderungen bis in die Gegenwart überleben. Die Einbestellung von Fogg in das Hauptquartier - zynisch "The Retirement Bureau" genannt - erinnert an den Auftakt von John le Carres Roman "Dame, König, As, Spion". Fogg hat seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr zum Büro gehabt. Sein ehemaliger Freund Oblivion bringt ihn zu diesem Verhör. Es geht um Ereignisse des Jahres 1946 in Berlin, die eher in einem oberflächlichen Zusammenhang mit der Gegenwart stehen. Es ist schade, dass Lavie Tidhar der Gegenwartsebene nicht mehr Dramaturgie geschenkt hat. Fogg soll von seinem kurzzeitigen Verschwinden berichten. Rückblickend ist es vielleicht der zweite Teil einer melancholischen Liebesgeschichte. Der Autor impliziert, dass zumindest Oblivion Männer liebt und der Umgang der beiden "Superhelden" mit ihren einzigartig exzentrischen Fähigkeiten bewegt sich immer am Rande der tiefen Männerfreundschaft und einer Mischung aus Liebe/ Vertrauen. Vordergründig hat sich Fogg, der keine homsexuellen Tendenzen zeigt, natürlich in einer Superheldin des Dritten Reiches, aber nicht unbedingt der Nazis verliebt. So sehr sich Tidhar auch bemüht, die Liebesgeschichte wirkt angesichts des Überbaus und der verschiedenen politischen Zusammenhänge zu dünn. Genau wie die Verflechtung der Superhelden in das zeitpolitische Geschehen. Beginnend nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Amerikaner nicht nur die deutschen Wissenschaftler wie Wernher von Braun zusammengetrieben, sondern auch die Superhelden, welche für die USA zukünftig tätig sein sollten. Die Russen suchten für ihre Armeen ebenfalls nach diesen tragischen Übermenschen. Nur die wichtigsten deutschen Superhelden sind verschwunden. Obwohl Tidhar ihre Fähigkeiten sehr unterschiedlich beschreibt, macht er nicht den Fehler, die Welt mit einem Superman auf den Kopf zu stellen. Dessen Väter profilieren sich als sekundärliterarische Autoren. Die Fähigkeiten sind mächtig, aber nicht übermächtig. Oblivion kann Gegenstände, die er berührt, verschwinden lassen. Fogg wie Schneesturm das Wetter manipulieren. Der Tigerman ist eine wilde Bestie mit Fähigkeiten, die an die DC Comics erinnern und die rote Sichel ist eine mächtige Erscheinung. Teilweise können sie zumindest fliegen. Zu den tragischen Helden gehört der jüdische Übermann, der beim Aufstand im Warschauer Ghetto für seine Landsleute angesichts der Übermacht der Supermenschen sein Leben lässt. Da keine dieser Fähigkeiten alleine den Krieg entscheiden und die Welt schützen kann, etabliert Tidhar auf der einen Seite zwar eine Art Elite, auf der anderen Seite allerdings isoliert er diese Übermenschen emotional und charakterlich von ihrem Umfeld. Trotz ihrer Fähigkeiten sind sie in allen System Diener ihrer Herren. Das die Nazis mit dem Wolfman über einen Superhelden verfügen, der alle Fähigkeiten in seiner Umgebung aufheben kann, wirkt ironisch und fast konträr, ist aber effektiv und nachhaltig eingesetzt.
In die Entwicklung der Superhelden - für Fogg und Oblivion beginnt es 1936 in einer der frühsten Episoden des Romans, wo sie in eine Art "X- Men" Trainingscamp gebracht werden - eingeflochten ist die teilweise sehr unangenehm realistische Zeichnung einer Historie, die der Leser zur Genüge kennt. Zu den schockierenden Szenen gehört der Aufstand im Ghetto, Mengeles Experiment in Auschwitz erweitert um die Superheldenkomponente, die Belagerung von Stalingrad, das Ende des Zweiten Weltkriegs, der Kalte Krieg mit der Schlüsselepisode in Berlin 1946, der Bau der Mauer mit einer Auflistung einer Handvoll von getöteten DDR- Flüchtlingen; ein Exkurs nach Vietnam und schließlich der Anschlag vom 11. September. Tidhar springt zwischen diesen Episoden hin und her. Er erwartet zwar von seinen Lesern, dass sie die historischen Ereignisse zumindest oberflächlich kennen, aber die Details spielen weniger für diesen Streifzug durch ein brutales Jahrhundert eine Rolle als dass sie die Position der Übermenschen zu beleuchten sucht. Eine Elite, die missbraucht worden ist und weiterhin missbraucht wird. Der Autor impliziert, dass die Superhelden das atomare Gleichgewicht des Schreckens darstellen könnten. Dieser Vergleich hinkt, dass es sie im Zweiten Weltkrieg schon gegeben und keine ihrer Fähigkeiten sich nach dem Krieg sich weiter entwickelt hat. Interessant ist, wie sehr diese Superhelden unter den Nachkriegsfolgen leiden. Mit dem ominösen, aber zu wenig nachhaltig charakterisierten Dr. Vormacht – dessen Vorbild Eichmann ist sehr gut zu erkennen - als wissenschaftlicher Vollstrecker und dem harten Leben hinter dem Eisernen Vorhang wirkt der historische zweite Teil des Buches immer noch ambitioniert, kann aber mit dem Grauen des Nazi Terrors nicht mithalten.
Die Ausbildungsszenen mit dem unsterblichen Alten Mann – ein Aspekt, der zu spät zu hektisch, aber auf eine theatralische Art und Weise abgehandelt wird – wirken dagegen zu statisch, zu bemüht, die Verführung der naiven Befähigten zu beschreiben.
Es ist nicht der erste Versuch, die Comics zu politisieren oder gar dem historischen Zeitgeist anzupassen. Mit "Osama" ist der Autor den Weg einer fiktiven Parallelwelt gegangen und hat so versucht, eine Utopie zu etablieren, in welche nicht nur mit den Schriften des in unseren Welt als Terroristen bekannten Mannes, die Gewalt einfliesst. In "Violent Century" stellt er nicht die Frage, ob der Zweite Weltkrieg oder gar der Holocaust mit Superhelden hätte verhindert werden können, sondern zeigt teilweise ein wenig melodramatisch auf, dass diese Schrecken auch mit den hilflosen, teilweise naiven, meistens aber blinden Befehlsempfangenden Superhelden vielleicht nur um eine Ebene erweitert möglich gewesen sind. Während die Superhelden diese blinde Zerstörungswut der Menschen voller Schock verfolgen und es als Irrealität ansehen, sollen die Leser zusammen mit dem fiktiven Protagonisten an die Existenz der Übermenschen - hier erinnert manche Struktur auch Busieks Serie "Astro City", aus der auch einige der Superhelden stammen könnten - nicht nur glauben, fiktive Bücher von Siegel/ Shuster oder der Rückgriff auf angepasste Zitate runden diesen Exkurs in eine vertraute und doch absichtlich entfremdete und distanziert beschriebene Vergangenheit hat. Im Vergleich zum letztendlich zu pragmatischen, zu sehr sich selbst in den Mittelpunkt darstellenden "Osama" ist "Violent Century" ohne Frage die reifere, die bessere Geschichte, die nur oberflächlich verschachtelt aufgebaut das Thema Superhelden anreißt, aber nicht wie die deutlich besseren, immer noch veröffentlichten "Wild Cards" Mosaikromane erwachsener behandelt.
- Taschenbuch: 352 Seiten
- Verlag: Hodder & Stoughton (24. April 2014)
- Sprache: Englisch
- ISBN-10: 1444762893
- ISBN-13: 978-1444762891