Ich muss schreien und habe keinen Mund

Harlan Ellison

HarlanEllison war in den sechziger und siebziger Jahren nicht nur einer der einflussreichsten Science Fiction Autoren, vielleicht sogar Mainstream Autoren, mit seinen „Dangerous Visions“ ein provokanter Anthologie Zusammensteller, ein Journalist, ein Kritiker des American Way of Life, ein vor Gericht streitbarer Genosse und schließlich im Umkehrschluss auch ein Mann, der für Hollywood und das amerikanische Fernsehen gearbeitet und sich dort auch für das Geld komprommitiert hat. Herausgeber Sascha Mamczak lobt Ellison vielleicht ein wenig zu viel und versucht aus dem Amerikaner eine Ikone der amerikanischen Literatur auf dem Niveau eines Burroughs zu machen, dessen Sprachgewalt in Form der amerikanischen Kurzgeschichte unerschütterlich gewesen ist. Ohne Frage ist Ellison in den USA auch dank der empfehlenswerten Sammlerausgaben seiner Werke bekannter als in Deutschland, wo neben einigen Kurzgeschichtensammlungen seine Novelle „Mephisto in Onyx“ allein stehend veröffentlicht worden ist. Dieser Text schließt die Sammlung ab. Aber Harlan Ellison ist auch ein Autor, der aus dem Fandom kommend immer wieder hinter seiner harten Rüstung auf die Bedürfnisse der Kollegen geschaut und ihre Rechte stellvertretend vor Gericht ausgefochten hat. Der die Strömungen des Genres ignorierte und seinen Namen zu einer Handelsmarke gemacht hat. Der mit zunehmenden Alter literarisch ruhiger geworden ist. Die experimentelle Schärfe seiner Kurzgeschichten ist deutlich verloren gegangen, während er seit den achtziger Jahren und dem nicht Erscheinen seiner dritten „Dangerous Visions“ Anthologie deutlich an Bedeutung verloren hat. Die Zahl der Autoren wie John Varley, die er beeinflusst und mit seinen Arbeiten „geformt“ hat, ist ohne Frage Legion. Die hier versammelten zwanzig Geschichten, von denen zwei Novellenlänge erreicht haben, geben einen guten Eindruck von Ellisons Schaffen über mehr als dreißig Jahre. Alleine der Mut, eine umfangreiche Kurzgeschichtensammlung eines lange in Deutschland in Vergessenheit geratenen Autoren für eine neue Lesergeneration – viele der älteren Sammler werden die meisten Texte verstreut auf Anthologien in den Regalen stehen haben -  aufzulegen, macht „Ich muss schreien und habe keinen Mund“ zu der wichtigsten Veröffentlichung des Jahres 2014 im Rahmen der Heyne- SF Reihe.   

 Die zwanzig Geschichten sind sklavisch chronologisch angeordnet. Ein Zyniker von Harlan Ellisons Format könnte dabei davon sprechen, dass die Qualität mit zunehmendem Alter des Autoren deutlich abnimmt. Dem kann grundsätzlich nicht widersprochen werden. So steht der heute noch aktuellere Text „„Bereue Harlekin“, sagte der Ticktackmann“ auch qualitativ am Beginn einer exquisiten, aber auch nicht perfekten Originalauswahl seiner Geschichten. Wie modern Harlan Ellison in dieser zynischen Abrechnung mit einer perfekten Gesellschaft extrapoliert aus dem Jahre des Entstehens der Geschichte 1965 vorgeht, zeigen die Comicarbeiten, die Ellison anscheinend inspiriert hat. Von Alan Moores ersten Werken wie „V for Vendetta“ über Kurt Busieks melancholische „Astro City“ Werke mit ihren anarchistischen Helden bis zu den französischen Meisterwerken. Eine vollkommen auf die Minute durchorganisierte Gesellschaft, die in der Spitze der Unterdrückung ihrer Bürger zeitliche Verspätungen mit abgezogener Lebenszeit bestraft. Ein durchschnittlicher, unauffälliger Bürger, der im Harlekinkostüm mit surrealistischen Aktionen mit dem Verteilen von Geleebonbons im Gegenwart von damals gigantischen 150.000 Dollar den ersten Sand in das Getriebe streut. Den Wächter, Richter und mittelbaren Diktator Ticktackmann provoziert und kurzzeitig in dieser grauen Gesellschaft als „Superheld“ fungiert. Im vergleich zu einigen anderen Texten dieser frühen Phase dekonstruiert Ellison von Beginn an klassische Erzählstruktur, fängt er in der Mitte an und verwirrt seine Leser, bevor er eine im Grunde traurig melancholische Geschichte des Außenseiters erzählt, die wie eine komprimierte Form von Orwells „1984“ – wird im Text auch expliziert erwähnt – im Superheldenmilieu erscheint.     

Harlan Ellison zeigt sich in der zweiten hier versammelten Geschichte „Die Stadt am Rande der Welt“ als Meister der Interpretation klassischer und vielleicht auch klischeehafter Science Fiction Ideen. Jack the Ripper wird von einem Zeitreisenden in die Zukunft entführt. Ellisons Jack the Ripper ist ursprünglich ein Mörder mit einer Mission gewesen. Auf eigene Faust wollte er die Elendsviertel bei den Prostituierten beginnend reinigen und somit den Engländern eine saubere Stadt überlassen. In der Zukunft erweisen sich seine neuen „Freunde“ als schlimmere Psychopathen, die ihre Exzesse ausleben und im Großen das exerzieren, das der Mörder selbst im Kleinen nicht geschafft hat. Innovativ ist die perverse Sensationsgier der Zukunftsmenschen, die ihn in der Vergangenheit morden lassen, um es quasi live verfolgen zu können. Ohne Frage eine Kritik an den immer offensiver werdenden Medien. Am Ende zerfällt die anfänglich ungewöhnlich dichte Geschichte allerdings eher in Fragmente, die surrealistisch in einander übergehend eine überall aus den Angeln fallende Welt zeigen, ohne das sich der Leser noch mit den gebrochenen und verrückten Protagonisten aus Vergangenheit und Zukunft identifizieren kann.

Ähnlich geht Harlan Ellison bei der Titelgeschichte vor. Die Idee einer aus verschiedenen nationalen Ansätzen sich selbst erschaffenden künstlichen Intelligenz, welche das Kommando über die Welt übernimmt, ist insbesondere in den sechziger Jahren ein wichtiges Thema gewesen. Im Gegensatz zu Büchern/ Filmen wie "Colossus", welche den Menschen zu ihren willigen Sklaven machen, sucht sich Harlan Ellisons AM - die Wortspielereien machen den Reiz des ersten Drittels aus - fünf Menschen aus, um sie erstens in ihren endlosen Innereien zu versklaven, zweitens wie Gott ihre Sünden zu extrapolieren und drittens sich von ihnen "anbeten" zu lassen. Der zugrundeliegende Plot der Geschichte ist eine Quest der zurück an die Oberfläche, die schließlich die Spannungen zwischen den einzelnen Menschen eskalieren lässt.

 Mehr in Richtung "Twillight Zone" mit einem unfreiwilligen Faust Pakt ist “Zauberhafte Maggie Moneyeyes” mit einem süchtigen Spieler, der an einem besonderen einarmigen Banditen gefüttert mit alten Silberdollars zumindest kurzzeitig sein Glück findet, während der Leser weiß, was hinter den drei blauen Augen steht. Das Ende ist zwar offensichtlich und hätte Red Serling stolz gemacht, aber Harlan Ellisons experimentierfreudiger Stil weicht vor allem in der ersten Hälfte einer emotional einfühlsamen Erzählweise. Auf der anderen Seite könnten sich viele Leser spätestens mit dieser Geschichte an seinem antiquierten, klischeehaften, die Hure in der Frau herausstellenden Frauenbild stoßen. Entweder sind seine Frauen graue, ordnungsliebende Mäuschen wie in der Auftaktgeschichte oder Nymphomanin wie in "Ich muss schreien und habe keinen Mund" oder Huren, die für das alltägliche Überleben ihren Körper verkaufen und ihren Ekel auch mit drei Bädern ab Tag nicht abwaschen können.  “Zauberhafte Maggie Moneyeyes” und die Opfer Jack the Rippers in "Die Stadt am Rande der Welt" seien hier stellvertretend erwähnt.

Auch wenn die Geschichte 1969 mit einem HUGO ausgezeichnet worden ist und vielleicht einer der berühmtesten Kurzgeschichtentitel in Harlan Ellisons Werk ist, erscheint  “Die Bestie, die im Herzen der Welt ihre Liebe herausschrie” zu experimentell auf der Suche nach einem Inhalt und weniger einer Form. Harlan Ellison hat später versucht, die Kontraste innerhalb des Textes mit einem gigantischen Rad zu vergleichen, dessen Kern schneller routiniert als die Peripherie, aber die Suche nach dem ultimativen Bösen, das naiv von dem eindimensionalen Protagonisten wie die Büchse der Pandora am Vorabend des vierten Weltkriegs geöffnet wird, erscheint zu offensichtlich konstruiert und mit einer belehrenden Botschaft versetzt, als das der Text über das experimentelle Stadion herausgekommen ist.

Für diese Anthologie sind die Geschichten teilweise neu übersetzt, teilweise aber nur lektoriert worden. Im Vergleich zur ersten Veröffentlichung und vor allem dem Original ist der Lektor mit den chronologischen Querverweisen bei „Ein Junge und sein Hund“ ein wenig durcheinander geraten, so dass sich die Daten im Verlaufe der Geschichte widersprechen. Die mit einem jungen Don Johnson in der Hautrolle verfilmte  Kurzgeschichte einer nach dem Krieg verwüstet zurückgelassenen Erde, die durch Genmanipulation und Mutation intelligente Hunde – siehe Ellisons Vorbild Olaf Stapledon – hervorgebracht hat und auf der Hund/ Mensch in einer umgekehrten Synthese leben gehört ohne Frage zu seinen besten Arbeiten. Die bitterböse Pointe am Ende funktioniert am besten in der vorliegenden, kompakten Kurzgeschichte, während sich die Verfilmung zu sehr in Nebenkriegsschauplätzen verzettelt. 

 Ohne Zeitreise oder im Grunde phantastische Elemente überträgt der Autor die Idee des existentiellen Überlebenskampfes in einer menschenfeindlichen Stadt – in diesem Fall New York – aus der Zeitreisegeschichte „Die Stadt am Rande der Welt“ auf „Das Winseln geprügelter Hunde“, in der eine Frau einen Mord in ihrem Hinter beobachtet und schnell selbst zum Opfer eines gänzlich anderen Täters werden könnte. Der anfängliche Realismus weicht in Ellison blumigen extrovertierten Stil einer Meditation über das Schicksal der nicht sozial Schwachen, sondern der schweigenden Mehrheit. Wie viele andere Texte realistisch und nachdenklich stimmend beginnend versucht Harlan Ellison am Ende zu viel Pathos in seinen Text zu lesen und endet ein wenig pathetisch mit einer semihoffnungsvollen Erkenntnis.

 Die ebenfalls mit dem HUGO und dem Locus Award ausgezeichnete Novelle “Der Todesvogel“ trägt neben autobiographischen Zügen ausgesprochen viele religiöse Bezüge in sich, die in den siebziger Jahren auf eine zynisch distanzierte, den Glauben hinterfragende Art und Weise wie in diesem Multiple Choise Test in „der Todesvogel“ eskalierten. Das Ende der Welt nach der Übernahme durch Gott in einer Art kosmischen Gerichtsauseinandersetzung wird aus der nicht linear erzählten Perspektive eines Nachkommen von Liliths Ehemann erzählt, der die Erde aus ihrem Elend erlösen kann. Eingeschoben sind schwierige, die autobiographischen Züge nicht nur Harlan Ellisons wiedergebend Entscheidungen, die Menschen immer wieder in ihrem Leben treffen müssen. Es sind diese realistischen Passagen, die den zu experimentellen „Der Todesvogel“ auch heute noch zu einer eindringlichen Lektüre machen. Religion auf eine überdrehte Art spielt eine wichtige Rolle in „Ich suche Kadak“, in der ein jüdischen Alien ein anderes Alien auf einem Planeten voller religiöser, die irdischen Glaubensrichtungen extrapolierenden Sekten sucht. Harlan Ellison macht sich einen bitterbösen Spaß draus, die verschiedenen absurden Sekten und vor allem ihre geistigen Führer zu persiflieren und im Grunde der Lächerlichkeit Preis zu geben. In diesem Fall fügen sich Form und Inhalt zu einer überdrehten Synthese zusammen.  

Am Ende von „Croatoan“ greift Ellison auf ein Rätsel der amerikanischen Geschichte in dieser modernen Hommage auf H.P. Lovecraft zurück. Je tiefer der namenlose Protagonist in den Schoß der Mutter Erde quasi zurückkehrt, desto mehr schließt sich der Kreis seines Lebens. Ellison nutzt aber nur Aspekte von Lovecraft und seinen obskuren Religionen, während er als Autor zu experimentell ist, um die Stimmung und die Stimmungen Lovecrafts in diese Hommage zu übertragen. 

„Jeffrey ist fünf“ ist eine der Geschichten, die ansonsten nur in der Twillight Zone spielen können oder von Ray Bradbury geschrieben worden sind. Eine melancholische Stimmung, die Sehnsucht nach der ewigen Kindheit, ein übernatürlich begabter Junge und schließlich die schreckliche Auflösung. Wer mit Ellisons experimentellen Texten wenig anfangen kann, kommt hier auf seine Kosten.Sowohl in der nur vordergründing tabulosen Geschichte „Das Nachtleben aus Cissalda“ als auch dem zu statischen Text „Der Mann, der Kolumbus an Land ruderte“ finden sich viele ausgesprochen prominente Namen in teilweise provokanten Posen. Insbesondere Ellisons Hassliebe zu Hollywood spiegelt sich im ersten Text auf eine absurde, überdrehte, allerdings auch die zugrundeliegende Handlung ignorierende Art und Weise wieder. 

Die ebenfalls mehrfach preisgekrönte Novelle „Wächter der letzten Stunde“ ist parallel als eher ambivalente Novelle als auch als Drehbuch zur neuen „Twilight Zone“ entstanden. Wie „Jeffrey ist fünf“ zeigt Ellison, dass er sich in die einfachen Menschen in extremen Situationen hineindenken und ihnen fünf Minuten des Ruhms schenken kann, ohne ihre Persönlichkeiten deutlich zu verändern. Es sind diese warmherzigen, im Vergleich zu den konstruierten Texten ruhigen Geschichten, die überdeutlich nachweisen, was für ein starker Erzähler Harlan Ellison in sich ist.

Der letzte Text ist die wie schon eingangs erwähnt gesondert veröffentlichte Geschichte „Mephisto in Onyx“, die 1996 entstanden ist. Dreißig Jahre nach der ersten Story dieser Sammlung. Der einzige natürliche Empath der Welt soll einer befreundeten und ehemaligen geliebten Anwältin helfen, in den Geiist eines verurteilten Serienkillers einzudringen, in den sie sich verliebt hat. Sie hält den Mann für unschuldig. Aus diesem anfänglichen Klischee macht Harlan Ellison im Verlauf der Geschichte einiges, aber gänzlich befriedigend ist diese lange Arbeit nicht. Zum einen liegt das am Erzähler, der als Identifikationsfigur des Lesers das Geschehen auf den Schultern tragen soll. Ein intelligenter, gebildeter Farbiger, der immer wieder die amerikanische Kolonialpolitik impliziert kritisiert und deswegen ehr wie ein Kunstgebilde erscheint. Über die Ausbildung seiner Fähigkeiten erfährt der Leser zu wenig. Der dunkle Anfang lädt ein, Ellisons Reise nicht nur zu folgen, sondern sie sich in Graphic Novel Form vorzustellen. Aber wie in einigen seiner anderen, etwas längeren Arbeiten verliert der Amerikaner irgendwann das Interesse an seiner Geschichte und konzentriert sich auf ein zu passendes, nicht überzeugendes Ende. Die Beziehung zwischen dem Empath und seiner ehemaligen Freundin, jetzigen Anwältin und Geliebten des Serienkillers wird ein wenig zu opportunistisch und für Ellison zu einfach beschrieben, aber Fokus liegt auf der nur mäßig spannend geschriebenen Suche nach der Wahrheit. Wie eingangs erwähnt eine längere Arbeiten mit einem sehr starken Auftakt, aber deutlichen Schwächen im Mittelteil und inhaltlich ein Rückgriff auf Ellisons Arbeiten aus den siebziger Jahren, ohne deren provokante Brillanz zu erreichen.

Zusammengefasst ist wie eingangs erwähnt die Konzentration von überdurchschnittlichen Harlan Ellison Geschichten alleine ein Kaufgrund für diese Sammlung. Durch das Entstehen des New Wave bis zur Stilisierung des Moments unter Ignoranz der Handlung, von sprachlichen Experimenten bis zu den angesprochenen, an Ray Bradbury erinnernden Texten ist alles vorhanden und wartet darauf, von einer neuen Lesergeneration entdeckt zu werden. Das alleine macht die Veröffentlichung wertvoll, auch wenn jeder Hinweis auf Ellisons auch in Deutschland bekannte Arbeiten wie zum Beispiel die „Star Trek“ Folge „Die Stadt am Rande der Ewigkeit“ oder „The Outer Limits“ mit der Vorlage zu Camerons „Terminator“ oder die neue „Twilight Zone“ leider in einem erklärenden Vor- oder Nachwort fehlen.    

 

 

 

 

Originaltitel: Best of Collection

Deutsche Erstausgabe, Heyne Verlag

Paperback, Klappenbroschur, 672 Seiten, 13,5 x 20,6 cm
ISBN: 978-3-453-31557-0