Schamane

Kim Stanley Robinson

Kim Stanley Robinson hat in seinen verschiedenen Romanen bewiesen, dass er aufgrund entweder historischer Fakten oder wissenschaftlicher Extrapolation außerordentliche „Was wäre wenn“ Landschaften in der Phantasie seiner Leser entstehen lassen kann. Inspiriert von der Höhlemalerei eines eiszeitlichen Europas von vor 30.000 Jahren hat Robinson eine ausführliche, vielleicht stellenweise zu ausführliche „Coming of Age“ Geschichte niedergeschrieben, die im Grunde wie bei den meisten Jugendbüchern mit einer Herausforderung, mit einer Veränderung im Leben eines Jungen beginnt. Die Männer seines Clans nehmen Eistaucher – im Original Loon -  auf eine Bergspitze mit, singen ihm ein kleines Lied und entlassen ihn nackt in die stürmische, eiskalte Nacht, damit er zwei Wochen ohne weitere Hilfsmittel auf sich alleine gestellt überleben kann und muss. Aus diesem Jungen soll ein Mann werden. 

Dabei ist die Grundidee dieser Geschichte weder neu noch originell. Das soll von vorne herein keine Kritik an Kim Stanley Robinson sein, sondern unterstreicht nur die Herausforderungen, denen sich der Amerikaner gestellt hat. Es geht dabei nicht nur um den evolutionären Prozess der klassischen Verdrängung – der Neandertaler im Konflikt mit den Cro- Magnon -, sondern vor allem um die Konfrontation des Lesers mit Problemen, die er in einer oder der anderen Form in seinem zivilisatorischen Leben ebenfalls erleiden könnte. Andere Autoren wie Willian Golding, Elizabeth Marshall Thomas und vor allem Jean Auel haben diese Epoche eher als Hintergrund genommen, um aus den vorhandenen Höhlenmalereien heraus eher profane, einfache und nicht selten wenig originelle Geschichten zu entwickeln. Kim Stanley Robinson geht wie in seiner langwierigen und natürlich herausfordernd zu lesenden „Mars“ Trilogie vom Detail aus und baut darauf den Hintergrund quasi als Protagonisten einbauend eine humanistische, eine emotional angreifende, aber vor allem interessante Geschichte auf.  

Mit Eistaucher verbindet der Autor klassische Jugendbuchthemen mit einem erwachsenen Hintergrund. Anfänglich nackt und auf sich alleine gestellt muss er sich nicht nur um sein Überleben kümmern, sondern die Urinstinkte wie Schutz vor dem Wetter, Nahrung und schließlich auch Kleidung organisieren. Jede seiner Aktionen fordert eine Reaktion seiner Umwelt heraus, auf jede Aktien/ Herausforderung seiner Umwelt muss und kann er nicht nur instinktiv reagieren, sondern muss vor allem agieren. Mit seiner angeborenen Neugierde – vielleicht der einzige Vorwurf, den man dem Autoren machen kann -, seine Vorsichtigkeit und seine Energie helfen ihm, diese Herausforderung zu überstehen. Die Grundlogik ist reine Phantasie. Haben die Urmenschen wirklich ihren Nachwuchs mit geringen Überlebenschancen ausgeschickt, um zu einem Mann zu reifen? Erinnert diese Vorgehensweise vielleicht zu sehr an die zahlreichen Indianergeschichten, mit denen nicht selten auch die weißen Männer sich einen potentiellen Überfeind herangezüchtet haben, den sie auf der anderen Seite dank ihrer überlegenen Technik wenig tapfer besiegen und vernichten konnten? Wie viele der jungen Männer haben überhaupt überlebt und sind dadurch nicht die Stämme im Grunde selbst an einer Degeneration und einem eingeschränkten genetischen Pool schuld? Es spielt keine Rolle, ob diese Basis realistisch ist oder nicht. Während Kim Stanley Robinson bei der Eroberung des Mars über mehrere Generationen neben den naturwissenschaftlichen Hintergründen vor allem den technischen Fortschritt extrapoliert hat, konnte er bei „Schamane“ nur auf die in dieser Hinsicht noch sehr vagen historischen Ergebnisse zurückgreifen.

Die zugrunde liegende Geschichte ist aber ausgesprochen modern. Eistaucher könnte auch in einer der seelenlosen Großstädte aufwachsen. Die Herausforderungen außerhalb der unwirtlichen Natur wären fast die gleichen. Der Leser lernt Eistaucher in der Phase kennen, in der eher mit seinen Hormonen genauso kämpfen muss wie mit seiner Umwelt. Er steht in einem starken Konflikt zu seinem Stiefvater, der aus dem Jungen gegen seinen Willen einen Schamanen machen möchte. Wobei die Schamanen in der indianischen Tradition die Mittler zwischen dem Clan und der Realität sowie der Welt der Geister sind. Je weitere Robinson die Idee des Schamanen personifiziert, um so mehr entfernt er sich allerdings auch von dieser archaischen, ursprünglichen, die Wurzeln der Menschheit versinnbildlichen Welt und nähert sich der indianischen Urkultur an. Ob diese Details wirklich notwendig sind, muss der Leser selbst entscheiden. Die Grundidee wird auf jeden Fall vermittelt. Der Konflikt innerhalb der Familie wird erweitert durch die erste Liebe. Robinson ist niemals ein wirklich emotionaler, ein humanistischer Autor gewesen. Nicht selten ist die Zeichnung der Figuren ein Mittel zum Zweck, um seine außergewöhnlichen und vielschichtigen Ideen dem Leser dazureichen. Alleine „The Years of Salt & Rice“ sei hier exemplarisch genannt. Auch der Mars in seinen verschiedenen Phasen erdrückt förmlich seine Protagonisten. So wirkt die Liebesgeschichte angesichts des Szenarios ein wenig holprig und nicht gänzlich zufrieden stellend. Das Finden und Verlieren der ersten Liebe ist allerdings eine starke Triebfeder, die Eistaucher noch mehr anspornt, gegen die Scheuklappen der eigenen Familie, des eigenen Clans zu agieren und damit angetrieben durch Willensstärke und Neugierde neue Wege zu gehen. Immer wenn sich Kim Stanley Robinson von dieser zugrunde liegenden Handlung allerdings entfernt und auf wissenschaftlicher Basis spekuliert, gewinnt „Schamane“ plötzlich an Dreidimensionalität. Wie in seinen “Mars“ Romanen wird der Leser Mitglied einer verschworenen Gruppe und lernt als größte Stärke dieses Buches auf Augenhöhe neue, sowohl den Urzeitmenschen noch nicht bekannte und den Lesern nicht mehr bekannte Fähigkeiten.    

Kim Stanley Robinson hat als Grundlage eine spezielle Höhle – Chauvet –in Frankreich genommen. Die Höhlenmalereien sind erst vor zwanzig Jahren entdeckt worden. Es ist eine typische Bildfolge von alltäglichen Szenen, von verschiedenen Tieren. Ein archaischer Comicstrip, der Mahnung/ Warnung und „Ausbildung“ zu gleich ist. Vielleicht liegt es daran, dass diese Bilder dem Leser eher im Gedächtnis sind als die alten Zeichnungen. Die Sensation, ein gänzlich neue, unverbrauchte Bildfolge aus einer unendlich weit erscheinenden Frühzeit zu entdecken, hat Kim Stanley Robinson in positiver Hinsicht inspiriert. Wenn diese Zeichnungen dem Leser in doppelter Hinsicht aufzeigen, welchen unendlichen Herausforderungen sich diese Menschen in einer unwirtlichen Umgebung stellen mussten, um menschlich zu werden, so kann man in den besten Passagen des Buches erkennen, wie der Überlebenskampf und die Phantasie, der Drang, der Nachwelt etwas zu erhalten, ineinander fließen und den Plot buchstäblich aufleben lassen.

Vielleicht ist „Schamane“ als Buch ein wenig zu lang geworden. Kim Stanley Robinson hat sich weniger mit der geradlinigen, im groben bekannten Geschichte identifiziert, sondern versucht teilweise ein wenig überambitioniert, stellvertretend mit Eistaucher die Grundlagen der modernen Menschheit und ihrem alltäglichen Kampf gegen Dummheit, gegen überholte Traditionen und vielleicht auch gegen sich selbst nachzuzeichnen. Manche Passage hätte gekürzt werden können. Wenn Robinson aber mit viel Phantasie diese urzeitliche Welt, unsere Welt vor den Augen der Leser auferstehen lässt, dann lebt „Schamane“. Deutlich zugänglicher als seine „Mars“ Romane, weniger faszinierend als zum Beispiel „Gallileo´s Dream“, intensiver als „The Years of Rice & Salt“ ist diese vorliegende Urgeschichte der Menschheit aber durch die intensive Recherche, durch das Ausbilden eines realistischen Hintergrunds ein lesenswertes, aber kein einfaches Buch, das von seinen Lesern die Geduld verlangt, über die zum Beispiel der neugierige, der „modern“ denkende Eistaucher nicht verfügen muss. In dieser Hinsicht stehen Leser und Protagonist auf der gleichen Seite. „Schamane“ ist ein historischer und doch gleich auch phantastischer Roman. Eine einfache, zeitlose Geschichte vor einem dreidimensionalen Hintergrund erzählt. Berührend und provozierend zu gleich. Es ist die Geschichte des modernen Menschen mit all seinen Stärken, aber auch seinen unabsehbaren Schwächen. 

 

Originaltitel: Shaman
Originalverlag: Orbit
Aus dem Amerikanischen von Jakob Schmidt

Deutsche Erstausgabe

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 624 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-453-26948-4