Van Helsing vs. Jack the Ripper

van Helsing vs. Jack the Ripper, Splitter Comic, Rezension, Thomas Harbach
Jacques Lamontagne

Immer wieder kommt es zu faszinierenden Kombinationen von historischen auch berüchtigten Persönlichkeiten und Protagonisten der populären Unterhaltungsliteratur. Auch Sherlock Holmes – kritisch gesprochen, ist Lamontagnes „van Helsing“ ein Schüler der Deduktionsmethode Sherlock Holmes – hat mehrmals versucht, den Fall zu klären. Die 2012 und 2015 veröffentlichte hier vom SPLITER Verlag zu einem Double zusammengefasste Begegnung zwischen Jack the Ripper und Bram Stokers Van Helsing geht aber noch einen Schritt weiter, in dem der Autor Jacques Lamontagne begleitet von der ungewöhnlich detaillierten fast photographischen Zeichnungen Sinis Radovics zwei gebrochene Menschen gegenüber stellt. Da wäre der Vampirjäger van Helsing, der aus den Karpaten zurückkommend im Grunde ein Wrack ist. Morphiumabhängig, nicht mehr in der Lage, sein Haus zu verlassen. Er hat das absolut Böse gesehen. Auf der anderen Seite Jack the Ripper, die geheimnisvolle Bestie, die Prostituierte grauenvoll ermordet und verstümmelt hat. Während der erste Teil dieses Doppelbandes sich an die historischen Fakten hält, ist der zweite Teil basierend auf einer interessanten Mischung aus Fakten und durch van Helsing auch Fiktion ein unglaublich dichter Krimi, in dessen Verlauf es zwei glaubhafte Tatverdächtige und schließlich einen einzigen Täter gibt. Dabei folgt der Autor nicht der Deduktionsmethode Sherlock Holmes – auch wenn dessen Methoden inklusiv einer genauen Untersuchung der Tatorte immer wieder angesprochen werden -, sondern greift fast auf die anderen populären Ermittler wie Poroit, Charlie Chan und schließlich Columbo zurück, die auf den einen Fehler des Täters lauern. Nur das in diesem Fall teilweise die Grenzen zwischen Ermittler und Täter verschwimmen.

Der Auftakt folgt wie angesprochen den historischen Fakten. In beiden Alben werden die Alpträume van Helsings nach der Tötung Draculas kurz zusammengefasst. Sie sollen den fragilen Geisteszustand van Helsings verdeutlich. Die eigentliche Handlung beginnt mit einem Besuch Inspektor Aberlines im Hause van Helsing. Er bittet seinen Freund, ihm bei den Ermittlungen hinsichtlich der ersten Jack the Ripper Morde zur Seite zu stehen. Van Helsing möchte allerdings lieber in seinem Dämmerzustand verbleiben. Nur mühsam kann er sich zeitweise vom Morphium wegreißen und beginnt mit Aberline die Ermittlungen. Aus Angst, das er wieder einer Bestie wie Dracula begegnet, hält er sich zwar im Hintergrund, wird aber von der Presse als Aufschneider, als angeblicher Vampirjäger angegriffen. Mit viel Emotionen und Nuancen entwickelt Lamontagne diesen van Helsing. Er entspricht weniger dem Bild, das Bram Stoker in seinem eher hölzernen Roman gezeichnet hat, sondern folgt der Tradition der gebrochenen Helden, die beginnend mit den „Shared Universe“ Comics eines Alan Moores oder den phantastischen Geschichten eines Philip Jose Farmers sich mehr und mehr in zugängliche Richtungen entwickelt hat. Immer am Rande der Versuchung, sich endgültig mit der verhängnisvollen Droge Morphium zu töten, voller Selbstzweifel und angewidert von den Verbrechen ist van Helsing ein Mann, der eher nach Bestrafung geifert als Widergeburt.

Kaum ist im ersten sehr stringenten und von den Fakten dominierten ersten Album der Hintergrund entwickelt, dreht sich die Bühne. Van Helsing findet durch einen Zufall einen gänzlich anderen Hacken bei den Ermittlungen. Während de Flucht von seinem letzten Tatort könnte der Ripper ein Messer verloren haben. Schnell entdeckt er am Tatort einen möglichen Verdächtigen, kann ihn auf die noch unfertige Tower Bridge verfolgen – auch Guy Ritchies „Sherlock Holmes“ konfrontierte im ersten Kinofilm seinen Antagonisten vor diesem Hintergrund – und stellen. Interessant ist, dass der Leser mit den beiden Tatverdächtigen und abschließend auch dem eigentlichen Täter vertrauter ist als er es erst glauben mag. Packender ist zusätzlich, das die einzelnen Aspekte wie bei einem guten Puzzlespiel zu allen drei potentiellen Tätern passen. Schon im ersten Album hat Lamontagne Hinweise auf den ersten Verdächtigen gelegt, wobei van Helsing wie in einem Spiegel ungläubig mit seinem eigenen Wesen konfrontiert wird. Aktien und Reaktion, Missverständnisse und Ängste, Treue und Misstrauen harmonieren perfekt. Selten hat der Leser in einem Comic so viele Schichten übereinander gesehen, die wie eine Zwiebel relativ schnell geschält werden. Es brennt nicht nur in den Augen, der Verstand sucht die Fakten zu ordnen und kommt wie in einem Labyrinth nicht zum Ausgang, sondern auf den Startpunkt zurück. Alle kleine Hinweise passen auf die beiden Tatverdächtigen, wobei der Leser ahnt, dass ein gebrochener Charakter geschützt werden möchte. Mit sichtlichen Vergnügen demontiert Lamontagne einen dieser Helden. Das Ende mit einer absoluten Kehrtwendung könnte vielleicht ein wenig hektisch und überraschend sein, aber es ist konsequent. Alle bekannten Fakten – dieser Jack the Ripper könnte der Arzt gewesen sein, den alle Vermuten – werden noch einmal rekapituliert und machen ein drittes Mal Sinn. Selbst der Wahn des Rippers ist vorher schon während eines Gesprächs zwischen Albertine und van Helsing beiläufig angesprochen, aber nicht in diese Richtung interpretiert worden. Ohne Verschwörungstheorien bis in den Adel hinauf zeichnet der Autor abschließend das Portrait eines von inneren Wahnvorstellungen getriebenen Menschen. Und diese Charakterisierung trifft natürlich nicht nur rückblickend auch auf van Helsing zu.  

 Es ist erstaunlich, wie packend Lamontagne das bekannte Thema aus unterschiedlichen Perspektiven mit einem vielschichtigen van Helsing statt zum Beispiel dem markanteren Sherlock Holmes im 21. Jahrhundert nach den vielen Fernsehfilmen, Büchern und der lang laufenden erfolgreichen BBC Serie noch einmal aufgegriffen hat. Dabei sind es die eingestreuten Hinweise, welche die Sahne in diesem Kriminalstück bilden. So besucht Albertine mit seinem Freund van Helsing um ihn abzulenken ein erfolgreiches Bühnenstück. Es wird Jekyll & Hyde gespielt. Ein Hinweis auf die Doppelrolle, die sich nicht nur Jack the Ripper, sondern im Grunde eine Handvoll von Charakteren freiwillig oder sogar unfreiwillig gezwungen zugelegt haben. Wenn später die Vorhänge zur Seite gezogen werden, dominiert anfänglich die Tragödie und der Leser beginnt für einige der anfänglich oberflächlich distanziert gezeichneten Charaktere Mitleid zu empfinden. Das zeigt die inhaltliche Stärke dieses empfehlenswerten Doppelbandes in mehr als einer Hinsicht.  

Aber auch die Zusammenarbeit mit Sinis Radovic und dem für die satten, von Erdtönen dominierten Farben zuständigen Bill Reinhold ist überzeugend. Die großformatigen Zeichnungen strahlen voller Details. Das viktorianische Englang mit seiner Mischung aus Pracht und Elend wirkt nicht nur dreidimensional und überzeugend, es ist lebendig. Während die gegenwärtigen Doctor Who Folgen mit einem Schwerpunkt viktorianisches London immer wieder betonen, das London als die reichste Stadt der damaligen Zeit förmlich zu einem Anziehungspunkt nicht nur außerirdischer Großmannssüchtler geworden ist, zeigen Lamontagne und Radovic den Kontrast zwischen dem gehobenen wie teilweise arroganten Bürgertum  und der stark in den Elendsvierteln wachsenden Bevölkerung. Sie sprechen die Umweltprobleme mit einer mehr und mehr veschlammenden und nicht mehr als Trinkwasserreservoir nutzbaren Themse genauso an die den alltäglichen Kampf um wenige Pennys in den Arbeitervierteln. Während van Helsing durch seine Reise nach Rumänien mit diesen ärmlichen Bevölkerungsschichten schon in Kontakt getreten ist, dient der warmherzige und vor allem nicht dumme, keinem Lestrade Verschnitt entsprechende Inspektor Albertine als erklärender Mittler. Wie angesprochen sind die Zeichnungen detailliert und die Actionszenen dynamisch inszeniert. Aber zusammen mit der überlegenen Colouring Bill Reinholds, der in entscheidenden Passagen auch das Grelle, das Provozierende nicht scheut erscheint „Van Helsing vs. Jack the Ripper“ nicht nur inhaltlich als eine äußerst interessante, den Leser vor allem in zweiten Teil auf mehreren Ebene packende Fallstudie, sondern als eine überzeugende Mischung aus gut übersetzten Texten und vor allem Bildern, die eine mehrfache Betrachtung gerade zu erfordern.

Deutlich überzeugender als die auch gegenwärtig im Splitter Verlag publizierten Sherlock Holmes Comics, in denen vor allem die Figur des Detektivs nicht immer dreidimensional wieder gegeben worden ist, zeigen Lamontagne, Radovic und Bill Reinhold, wie sich ein Sherlock Holmes Fall mit einer Figur entwickeln kann, die viele positive und negative Züge des  Detektivs in sich vereint und trotzdem so ganz anders ist.         

 

 

 

AutorJacques Lamontagne
ZeichnerBill Reinhold
EinbandHardcover Splitter Verlag
Seiten96
Band1 von 1
Lieferzeit3-5 Werktage
ISBN978-3-95839-260-1
erscheint am:01.12.2015
Kategorie: