Galgenfrist für einen Toten

Gordon Ferris

Mit Gordon Ferris „Galgenfrist für einen Toten“ beginnt der Festa- Verlag in seiner Crime- Reihe eine Serie von Romanen um einen ehemaligen Polizisten, Soldaten und gegenwärtig als Journalist arbeitenden Schotten, die unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahre 1946 spielt. Im Original verkaufte sich Ferris Debütroman im Internet zeitweise besser als Dan Brown, bevor im Herbst 2011 der Roman auch als gebundenes Buch aufgelegt worden ist.

Wie es sich fast obligatorisch für den Auftakt einer Serie von Romanen um einen Amateurdetektiv gehört, zieht es den Protagonisten zu den Wurzeln zurück. Douglas Brody ist desillusioniert aus dem Krieg zurückgekommen. Dort hat er für eine Spezialeinheit sowohl in Afrika als auch Frankreich gekämpft. Er ist mit einer Handvoll Kameraden aus der deutschen Kriegsgefangenschaft mit einem gestohlenen Boot geflohen. Er hat keinen einfachen Krieg hinter sich. Nach der Kapitulation hat er NS Offiziere und Wachmannschaften in den Konzentrationslagern verhört, wo er das Grauen jenseits der Front kennengelernt hat. Vor dem Krieg hat er wie schon angesprochen als Polizist in Glasgow gearbeitet, später studiert. Zur Polizei will er nicht mehr zurückkehren, das Studium hat ihm nichts eingebracht. In London schlägt er sich als Journalist mit Gelegenheitsjobs herum. Er ist ein harter Trinker.
Ihn erreicht ein Anruf von Hugh Donovan, den er für tot gehalten hat. Donovan ist mit seinem Bomber über Deutschland abgeschossen worden. Vor dem Krieg hat Donovan dem damals siebzehnjährigen Brody die Freundin, die große Liebe ausgespannt. Seitdem haben die ehemaligen Freunde keinen Kontakt mehr gehabt. Donovan sitzt in der Todeszelle des Glasgower Gefängnisses. Ihm wird vorgeworfen, zumindest einen von fünf verschwundenen Jungen vergewaltigt und ermordet zu haben. In seinem Zimmer wurde bei einer zweiten Durchsuchung belastendes Beweismaterial gefunden. Als Brody seinen ehemaligen Freund im Gefängnis schließlich besucht, findet er einen verstümmelten Mann vor. Sein Gesicht und seine Hände sind durch das Plastik der „Lancaster“ Kuppel verbrannt und verstümmelt worden. Er kann nur noch mit wöchentlichen Beruhigungs- und Schmerzmittel, sowie als Ergänzung Heroin seine Zeit herumbekommen. Brody entschließt sich aus Mitleid, zusammen mit der Pflichtverteidigerin nach neuen Beweisen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu suchen. Wie es sich gehört, finden sie nicht nur schnell Unstimmigkeiten bei den Ermittlungen der örtlichen Polizei, sondern die Spuren führen zu einer örtlichen Gangsterfamilie, die Glasgow seit der Zeit vor dem Krieg in verschiedenen Bereichen kontrolliert.

Gordon Ferris Roman ist ein ausgesprochen ambivalentes Buch, das in der Mitte des Plots in Richtung Rachethriller umschlägt. Diese Wendung der Ereignisse gibt dem teilweise im voraus zu erahnenden Plot neuen Schwung, reduziert aber auch den Gehalt des Krimis und rückt wichtige Aspekte in eine "Auge um Auge, Zahn um Zahn" Mentalität, die sozialkritische Punkte unterschlägt. Und das liegt nicht in der Tatsache begründet, dass es am Ende Keinen mehr gibt, den selbst die korrupte schottische Polizei verhaften oder die Richter verurteilen können. Ferris folgt den Gesetzen des Subgenres. Brodie erinnert sich an seine Ausbildung zum Soldaten und übernimmt diese Instinkte für seinen Überlebenskampf während der Ermittlungen und später für die Racheaktion. Dabei sind die Actionszenen durchaus realistisch wie auch brutal. In "Galgenfrist für einen Toten" stirbt niemand leicht. Es ist ein schmaler Grad, auf welchem der Autor Gordon Ferris zwischen exzessiv und sadistisch wandelt. Das Leid der vielen kleinen Jungen wird nur angedeutet.
Die erste Hälfte des Buches besteht wie schon angesprochen aus klassischer Ermittlungsarbeit, wobei sowohl Brodie als auch der anfänglich zu unscheinbar beschriebenen Anwältin Campbell entweder Hürden in den Weg oder nicht immer nachvollziehbar Hinweise gegeben werden. Während Brodie im Grunde nur einer heißen Spur folgt, werden mehrere Mordanschläge auf ihn verübt. Der eine bürgt ein gewaltiges Risiko, da Brodie sein Wissen inzwischen geteilt haben könnte. Nachdem diese Anschläge misslungen sind, versuchen die Verbrecher mit zahlreichen weiteren Morden die eher "weichen" Spuren zu verwischen. Dabei helfen ihnen die korrupten Beamten, wobei Ferris diese "Taste" bis zum Bruchpunkt des ganzen Romans zu absolutistisch und wirklich jeder Logik widersprechend spielt. Natürlich handelt es sich um eine Geschichte aus den vierziger Jahren, als sich insbesondere die britische Gesellschaft vom Sieg gegen die Nazis auf der einen Seite und dem sich stark abzeichnenden wirtschaftlichen Niedergang auf der anderen Seite zu finden suchte. Aber nur korrupte Polizisten und Staatsanwälte sind eher konstruktiv plotbedingt als realistisch. Auch sonst birgt der eigentliche Fall bis auf den Knalleffekt in der Mitte, der wegen seiner Beiläufigkeit noch mehr unter die Haut geht, im Grunde nicht viele Überraschungen. Dazu hinterlässt Ferris dem Leser, aber nicht seinem wichtigsten Protagonisten gegenüber zu viele Hinweise: vergewaltigte kleine Jungen, ein Priester mit zu vielen ominösen, wie aber auch treffenden Hinweisen und zwei mächtige, alles kontrollierende Brüder. Die Unterschiede liegen eher in den Details, den zwischenmenschlichen Beziehungen. Die grobe Zielrichtung ist zu früh erkennbar und präsentiert zu wenige überraschende Wendungen.
Dagegen ist die Charakterisierung insbesondere der Nebenfiguren sehr gut gelungen. Hugh Donovan ist die tragische Figur. Ein Kriegsheld und gleichzeitig ein Verlierer im Leben. Das ihn der Tod des letzten Jungen auch auf einer sehr persönlichen Ebene, die er nicht der Öffentlichkeit selbst unter der drohenden Todesstrafe Preis geben möchte, berührt, rundet diese traurige, verzweifelte und im letzten Augenblick auch ein wenig um Selbstachtung ringende Figur ab. Zumindest scheint sein Tod angesichts des Blutbades, das Brodie schließlich anrichtet, nicht vergebens. Die junge, anfänglich zickige und überarbeitete Anwältin Campbell ist das genaue Gegenteil des eher forschen Brodie. Sie vertritt anfänglich als Pflichtverteidigerin den Angeklagten Donovan und muss später erkennen, dass auch ihre Familie indirekt in den Fall „verwickelt“ ist. Vielleicht lässt sie Ferris ein wenig zu schnell von einer grauen Maus zu einer attraktiven Frau mausern, um zumindest eine emotionale, aber nicht unbedingt notwendige Ebene präsentieren zu können. Aber als Figur wächst sie mit ihren Aufgaben und zeigt insbesondere im ruhigeren, aber nicht unwichtigen Mittelteil eine wunderbare Präsenz, bevor sie wieder auf die klassische Frauen-als-Opfer-Rolle reduziert wird.
Natürlich überragt Douglas Brodie alle Figuren. Im Gegensatz zu vielen im Nachkriegsleben gestrauchelter Männer und Frauen findet er durch die Rückkehr in die Heimat und die Ermittlungen in diesem Fall zurück auf die Gleise. Erst wird sein Verstand gereizt, dann seine im krieg geschulten Instinkte. Als erfahrener und nicht korrumpierter Ex- Polizist kennt er sich mit den Geflogenheiten der Polizei aus. Ferris schreibt ihm eine Reihe von lakonischen, aber nicht zynischen Bemerkungen ins Stammbuch. Es ist ein kantiger, anfänglich nicht unbedingt sympathischer, aber zumindest zugänglicher Charakter. In seiner anfänglich schwierigen Beziehung zu der Anwältin wird er wieder „menschlich“, verliert sowohl seinen teilweise aufgesetzten Zynismus als auch seine sich selbst zerfleischende Mitleidsmasche. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Figur bei den zukünftigen Ermittlungen weiterentwickelt. Als Ermittler ähnelt er eher den Hardboiled Detektiven des amerikanischen Film Noirs als den inzwischen zahllosen britischen Detektiven, die in unterschiedlichen Zeitaltern ihrem Handwerk nachgehen.
Zu den Stärken des ganzen Buches gehört ohne Frage der authentisch erscheinende Hintergrund. Der Leser wird an Carol Reeds Meisterwerke „The Third Man“ – Wien – und natürlich an „Out Man Out“ – Belfast – erinnert. Diese eher an Verzweifelung denn Siegestaumel erinnernde Stimmung. Überall die zerstörten Häuser, die teilweise für ihr Leben gezeichneten Männer und Frauen. Keine Aufbruchsstimmung mehr. Viele zivile Existenzen nachhaltig zerstört. Und trotzdem gibt es auch Leben. Nachbarschaftshilfe und einen Ehrenkodex, gegen den man als stolzer Schotte und nicht weniger nationalbewusster Ire selbst als Gangster nicht verstoßen sollte. Die Atmosphäre, die Stimmung, welche Ferris mit wenigen gut gewählten Sätzen malt, bleibt der Leser länger im Gedächtnis als Teile des ganzen Plots.

Zusammengefasst ist „Galgenfrist für einen Toten“ ein interessant zu lesender, insbesondere in der zweiten Hälfte trotz einer deutlichen Vereinfachung der Handlungsstruktur teilweise packender moderner Thriller in historischem Gewand vor einem faszinierenden und nicht alltäglichen, von verschiedenen Wandeln geprägten Hintergrund. Die Figuren sind markant und überzeugend beschrieben, auch wenn Brodie am Ende als stummer Rächer vielleicht zu überzeichnet und zu fingerfertig erscheint.

Roman / Thriller

Festa-Verlag
Originaltitel: The Hanging Shed

Festa Crime: Band 5
Taschenbuch
ISBN: 978-3-86552-217

Apr. 2013, 13.95 EUR

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