Im hohen Gras

Stephen King & Joe Hill

Der Heyne Verlag veröffentlicht die zweite Zusammenarbeit zwischen Vater Stephen King und seinem Sohn Joe Hill als E- Book. Die erste Kooperation "Throttle" wurde im Jahre 2009 für den wachsenden E- Book Markt geschrieben . "Im hohen Gras" dagegen ist weniger für die elektronischen Medien, denn als eine klassische Magazinveröffentlichung geplant worden. Als Zweiteiler erschien die kurze Novelle im Sommer 2012 im Magazin von "Esquire".
Bei der Lektüre ist es positiv nicht möglich, die typischen Kingpassagen von den Arbeiten seines Sohns zu unterscheiden. Es scheint aber die Einleitung, diese alltäglich erscheinende Situation, welche nicht nur die beiden Geschwister und Protagonisten Cal und Becky DeMuth in Lebensgefahr bringt, zu sein, die für Stephen Kings so einzigartige Geschichteneröffnung spricht. Langjährige Anhänger seines Werkes werden indirekt an die mehrfach verfilmte Novelle "Children of the Corn" hinsichtlich des bäuerlich friedlichen Hintergrund erinnert, in dem sich dieses Mal nicht das ultimative Böse, aber eine unerklärliche, einflussreiche Präsenz versteckt.
Die beiden Geschwister/ Zwillinge Cal und Becky DeMuth - Becky ist hochschwanger und möchte das Kind bei Verwandten auf die Welt bringen - durchqueren die USA. In Kansas hören sie aus einem gigantischen Feld mit übermannshohen Gras die Hilferufe eines Jungen, der sich anscheinend verirrt hat. Sie halten an. Sie sehen am Straßenrand ein weiteres verlassenes Auto. Anscheinend die Mutter, die sich auf die Suche nach ihrem Sohn begeben hat und ebenfalls im Feld verschollen scheint. Die beiden Geschwister versuchen dem Jungen zu helfen und verlieren sich ebenfalls in dem Feld, in dem sie aber nicht alleine scheinen.
Wie schon angedeutet ist der Beginn ein geradezu klassischer Stephen King. Mit robusten, aber einfachen Zügen definiert er die beiden Protagonisten. Untrennbar, aber bodenständig. Es sind einfache Durchschnittsmenschen, wobei Beckys Schwangerschaft und die Tatsache, dass sie die kurzzeitige Beziehung zu einem Cal unbekannten Mann vor ihrem Bruder geheim gehalten hat. Das Amerika insbesondere für Reisende mit dem Auto zahllose Gefahren in sich birgt, hat Stephen King in seinen  Geschichten bewiesen. Hier ist es ein simples Grasfeld, in das Cal und Becky eindringen. Schnell beginnen sie die Orientierung zu verlieren und die klassischen Methoden - hochspringen, schauen und in die Richtung gehen - funktionieren nur eingeschränkt, da Becky hochschwanger nicht mehr springen kann. Dank der intensiven Atmosphäre, der wenigen prägnanten Beschreibungen erzeugen die beiden Autoren aus dieser Alltagssituation heraus eine Gefühl der Bedrohung, des Verlorensein  in der Nähe des eigenen Wagens. Ohne phantastische Elemente zieht das erste Drittel der Geschichte den Leser in seinen Bann. Da die Figuren sehr sympathisch charakterisiert worden sind, leidet der "Zeuge" mit ihnen. Nach dem ersten Drittel beginnt sich die Handlung allerdings aufzulösen. Wenn die Gefahr beschrieben wird, ist sie nicht mehr so furchteinflössend. Mit der im Gras lebenden Familie und dem seltsamen Stein mit seinen "Schwingungen" versuchen King und Hill die allgegenwärtigen Bedrohung unnötigerweise ein Gesicht zu geben. Dabei verlieren sie sich in teilweise grotesk überzeichneten Exzessen. Das Spektrum reicht vom Hund, den die Familie um zu überleben verspeist hat, bis zum Kannibalismus. Das wirkt weniger schockierend als abstossend. Ohne Frage darf Horror und Grusel auch abstoßend sein, aber mit jeder Seite, die der Aufdeckung des letzt endlich doch nicht zu erklärenden Geheimnisses führt, verlieren sie den roten Faden. Die aus dem Alltag heraus eingetretene Bedrohung der beiden DeMuths wird in einen übernatürlichen Bereich verschoben und damit weniger effektiv als zu Beginn des Plots.

King ist immer ein Meister des subtilen Schreckens gewesen, dessen brutale Exzesse notwendiges Beiwerk gewesen ist. Der Bogen reicht von "Shining" über "It" bis zu "The Arena". King hat immer versucht, das Unterbewusstsein des Menschen auf den Kopf zu stellen und zu beweisen, dass Vernunft und Gewalt dicht nebeneinander schlummern. Hill dagegen hat trotz einiger sehr guter Ideen in seinen ersten beiden Romanen direktere Wege gewählt. Seine "Schurken" sind weniger dreidimensional charakterisiert und die übernatürlichen Elemente in seinem Werk effizienter integriert. "Im hohen Gras" bewegt sich zwischen diesen beiden Extremen. Wie schon angesprochen sind die Helden und ihr geistiger Verfall sehr gut gezeichnet und das Ausgangsszenario schockierend und provozierend zu gleich. Auf der anderen Seite wirkt der unheimliche Stein mit seinen eher ambivalent eingesetzten Fähigkeiten nicht erschreckend genug und die eher dem "Texas Chainsaw Massacre" entstiegene Kannibalenfamilie ist zu wenig definiert, als das man an ihrem bisherigen Schicksal teilnehmen möchte oder auch nur kann. Es fehlen die weitergehenden Erklärungen. Leben sie wirklich schon länger im hohen Gras und haben mehr Reisende angelockt als es der Text bis zum offenen, aber vorhersehbaren Ende impliziert? Bildet sich in diesem der Natur widersprechenden Gras eine neue Zivilisation, die als Variation von Ballards Antiestablishmentromanen - siehe "Die Betoninsel" - verstanden werden kann? Welchen Einfluss hat wirklich der Stein? Ist er Katalysator oder nur Entschuldigung für das barbarische Verhalten einer vordergründig religiösen amerikanischen Durchschnittsfamilie? Selbst für eine Novelle bleiben sehr viele Fragen offen, so dass die intensive Atmosphäre des ersten Drittels zu verfliegen beginnt und die überzeichneten graphischen Schockeffekte weniger verstören als abstoßen. Der Bogen wird deutlich überspannt.
Stilistisch in gewohnter Stephen King und Joe Hill Manier geschrieben ist "Im hohen Gras" im Vergleich zum effektiveren "Throttle", der eine Hommage an Richard Matheson und sein Werk darstellt, eine durchschnittliche Arbeit, die ihr ohne Frage vorhandenes Potential nur in Ansätzen und dann auch nur zu Beginn heben kann. In der amerikanischen E- Bookausgabe finden sich Auszüge aus den neuen Romanen Stephen Kings und Joe Hills, die zeigen, dass die hier präsentierte Kurznovelle eher eine Fingerübung darstellt.

Heyne Verlag

Originaltitel: In the Tall Grass

eBook
ISBN: 978-3-641-11985-0

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