Sunset & Sawdust

Joe Lansdale

In seinem 2002 veröffentlichten, während der großen Depression spielenden Thriller macht Joe Landsdale seinen Lesern von der ersten Seite an klar, dass sie sich nicht in Kansas befinden. Selten ist ein Roman aus seiner Feder so surrealistisch bizarr und doch eindringlich eröffnet worden. Ein Tornado sucht die kleine Stadt im Osten Texas heim. Während der Sturm die Dächer abdeckt und die Häuser zum Einsturz bringt, verprügelt der örtliche Marschall Pete seine Frau Sunset – ein Spitzname für ihr leuchtend rotes Haar – und will sie vergewaltigen. Kurz bevor der Sturm das ganze Haus wegreißt, gelingt es ihr, nach Petes Dienstwaffe zu greifen und ihn durch einen Kopfschuss zu töten. Er stirbt wie Landsdale so bildlich ausdrückt mit heruntergelassenen Hosen. Ab diesem Augenblick entwickelt sich keine klassische Kriminalgeschichte um Schuld und Sühne, sondern der Texaner dreht die bekannten Prämissen des Subgenres mit wenig subtiler Perversität um. Obwohl die meisten Männer des kleinen Ortes, der von einer Sägemühle dominiert wird, der Ansicht sind, dass die Männer in der Ehe das Sagen haben, will niemand, dass Sunset vor einen Richter geführt wird. Der Fall wird unter Notwehr abgelegt. Nicht zuletzt weil Sunsets Schwiegermutter der Sägemühle gehört und sie ebenfalls unter einem brutalen Ehemann zu leiden hatte. In der gleichen Nacht zwingt die Schwiegermutter ihren Mann, auszuziehen. Kurze Zeit später wird er unter der Sägeblättern der Mühle Selbstmord begehen. Sunset wird in einer nicht ganz überzeugenden plottechnischen Wendung in das Amt des Sheriffs für die verbleibende Amtszeit gewählt. Durch einen Zufall findet sie in den abgelegten Akten einen ganz besonderen Fall. Auf der Grundstück eines Farbigen hat ihr Mann eine Babyleiche gefunden, die in ein Öl getränktes Tuch eingewickelt worden ist. Kurze Zeit später wird auf dem gleichen Grundstück auch die Leiche einer Frau entdeckt. Es handelt sich um Petes Geliebte. Anscheinend hat Sunsets Mann mehr zu verstecken als nur seine gewalttätige Ader. Joe Landsdales Bücher zeichnen sich nicht nur durch geradlinige Kriminalhandlungen aus. In erster Linie sind es Portraits einer nicht unbedingt so weit zurückliegenden Zeit, in der er verschiedene Aspekte der Schmelztiegelgesellschaft Amerikas im Allgemeinen und den Rassismus der sich überlegen fühlenden weißen Rasse im Besonderen minutiös, zynisch und unter die Haut gehend untersuchte. Im Vergleich zum dunkleren „A fine dark Line“, dessen farbige Charaktere sehr viel dreidimensionaler, sympathischer und vor allem zugänglicher gezeichnet worden sind, geht es im vorliegenden Thriller um klassischen Landbetrug, den der Leser schon lange vor den wichtigen Charakteren erahnen kann. Ein fleißiger Farbiger bewirtschaftet sein Land dank moderner Methoden und erreicht Ernten, auf welche seine Nachbarn nur neidisch sind. Daneben liegt ein brachliegendes Grundstück, das in doppelter Hinsicht ein Geheimnis birgt. Verschiedene „Geschäftsleute“ inklusiv eines käuflichen Bürgervorstehers haben ein ungesundes Interesse an dem Land. Dieser Handlungsarm ist relativ geradlinig erzählt und endet in einer brutalen Auseinandersetzung, in deren Verlauf einige sympathische und exemplarisch gezeichnete Nebenfiguren wie der schweigsame Bruce ums Leben kommen. Wie in einigen anderen seiner historischen Thriller dient dieser Haupthandlungsarm in erster Linie als roter Faden, um die verschiedenen sozialen Strukturen und Zusammenhänge einer auf kleinstem gesellschaftlichen Raum – ein klassische Kleinstadt mit einem dominierenden Arbeitgeber – aus der Perspektive einer nach außen stark wirkenden Frau zu untersuchen. Dreh- und Angelpunkt des Romans ist ohne Frage Sunset. Jahrelang hat sie die Demütigungen und Liebschaften ihres Mannes klaglos ertragen. In der Nacht des Sturms zerbricht etwas in ihr und geboren wird eine starke Frau mit trotzdem markanten emotionalen Schwächen. Sie ist sich klar, dass sie einen Mord begangen hat. Sie erwartet eine Gefängnisstrafe und wird – die Motive werden erst später überdeutlich – überraschend zum Sheriff gewählt. Mit ihrer pubertierenden Tochter gibt es zwei Probleme. Zum einen hat ihr Mann und deren Vater sie Tochter niemals geschlagen und sich nach außen als guter Vater gegeben. Durch die Ermordung ist das Verhältnis zwischen Sunset und ihrer Tochter aufs Äußerste gespannt. Hinzu kommt, dass sich die beiden Frauen in einen Mann – den Tramp Hillbilly, der ebenfalls über ein dunkles, nur dem Leser bekanntes Geheimnis verfügt – verlieben. Mit ungeahnten Folgen. Sunset erweist sich als entschlossene Frau, die nicht die kommissarisch das Amt ihres toten Mannes bis zur Neuwahl im nächsten Jahr verwalten möchte. Sie ordnet die Akten und beginnt mit der Unterstützung ihrer Schwiegermutter – vielleicht die ambivalenteste Figur der ganzen Geschichte – für Ordnung zu sorgen. Lansdale kann es sich nicht verkneifen, sie als Inkarnation des Wild West Sheriffs mit langen roten wilden Haaren und einer Hand an der 38er zu beschreiben, mit welcher sie ihren Mann erschossen hat. Sunset ist intelligent und dickköpfig. Sie will das Rätsel der Babyleiche lösen und als sie erkennt, dass vielleicht ihr Mann seine Finger im Spiel haben könnte, sucht sie in diesem Fall eine Art Reinigung ihres eigenen schlechten Gewissens. Ermittlungstechnisch geht Landsdale allerdings Kompromisse ein. Sunset müsste viel schneller zumindest die erste Reihe der „Verschwörer“ und ihre Motive erkennen als das es der Autor zulässt. Als Protagonistin mit zahlreichen inneren Zwiespalten ist sie gut beschrieben und dominiert diese dreidimensionale und lesenswerte Geschichte. Sunset gehört aber zu einer ganzen Reihe von Figuren, die im Verlaufe ihrer jeweiligen Abenteuer von Landsdale auf eine neue reifere Ebene ihres Lebens geführt werden. Die mit den Aufgaben nicht nur wachsen, sondern über sich hinaus wachsen und teilweise das Joch ihrer Existenz abwerfen können. Sunsets Schwiegermutter Marilyn ist vielleicht die schwierigste Figur der ganzen familiären Tragödie. Auf der einen Seite verliert sie zu Beginn ihren Sohn. Sie kann wegen der eigenen Situation – auch ihr Mann schlägt sie seit der Eheschließung, ihr holt sich seinen Sex – Sunset verstehen und gibt sich die Schuld, nicht rechtzeitig in der eigenen Ehe eingegriffen und so ihrem Sohn die Konsequenzen seines Handelns drastisch aufgezeigt zu haben. Sie wirft ihren eigenen Ehemann raus und befreit sich. Sie hilft Sunset. Aber auch sie verheimlicht ein dunkleres Geheimnis, das ihre Figur ambivalenter, aber auch negativer darstellt. Der Leser hat unbewusst das Gefühl, als suche Landsdale ein Ventil für die aufgestauten Wutgefühle der ganzen Sippe. Diese Enthüllung trifft den passiven Beobachter wie eine Art Keulenschlag, auch wenn die Puzzlestücke vom Anfang und dem Ende der Geschichte eher mühsam zusammenpassen. Sunset steht aber auch zwischen zwei Männern. Da ist auf der einen Seite der einfache, aber treue Clyde, einer ihrer beiden Deputys. In der kleinen Siedlung aufgewachsen verkörpert er fast idealisiert das Standardbild des Westerners mit seiner Naivität Frauen gegenüber, aber auch seiner fatalen Treue und Aufrichtigkeit. Das Gegenbeispiel ist der schmierige Hillbilly, ein Musiker und Tramp, der seine Fahne buchstäblich in den Wund hängt und hinter jedem Rock her ist. Die finale Konfrontation ist konsequent, da sich Landsdale traut, aus dieser anfänglich trotz der verfügbaren Informationen sympathischen Gestalt einen weiteren Antagonisten zu zimmern, für den Geld am Wichtigsten ist. Seine Bestrafung ist konsequent und erfolgt in Form einer Figur, die aus dem Nichts heraus vom Autoren hervorgezaubert wird. Sunset lernt ihren Vater kennen, der unwissend ob der Schwangerschaft ihre Mutter schon vor der Geburt verlassen hat. Ein christlicher Mann mit einer Faust wie ein Dampfhammer. Er verkörpert im Grunde eine Art ausgleichendes Element, das es Sunset ermöglicht, den Kampf gegen die eigenen fehlgeleiteten Emotionen genauso siegreich zu überstehen wie die Konfrontation mit den kapitalistischen, anscheinend von der Mafia gesteuerten behördlichen Schattenmännern. Mit dem Killer „Two Face“ kann sich der Autor allerdings auch nicht verkneifen, eine weitere sehr bizarre, eher an seine früheren Arbeiten erinnernde Figur in die Handlung zu integrieren, die vom realistisch bodenständigen Hintergrund ablenkt. „Sunset & Sawdust“s Hintergrund ist sehr überzeugend gezeichnet. Mit wenigen harten „Pinselstrichen“ entwirft Landsdale ein überzeugendes Szenario Amerikas Hinterhöfe während der großen Depression und am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Die Dialoge insbesondere in der amerikanischen Originalausgabe mit ihrer Mischung aus Slang und rührender Naivität runden das dreidimensionale Bild ab. Die Schwäche des Romans liegt in der grundlegenden Handlungsebene begraben, die insbesondere gegen Ende zu stark konstruiert und zu schwach extrapoliert wird. In dieser Hinsicht überzeugt die „Coming of Age“ Geschichte „A fine dark Line“ deutlich mehr.

Deutsche Ausgabe Taschenbuch: 460 Seiten Verlag: Suhrkamp Verlag; Auflage: 1 (10. Dezember 2012) Sprache: Deutsch ISBN-10: 3518463985 ISBN-13: 978-3518463987 Originaltitel: Sunset and Sawdust Rezension bezieht sich auf die amerikanische Originalausgabe

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