Das Lange Morgen

Leigh Brackett

Im Rahmen seines neuen Labels „Carcosa“ legt Hannes Riffel einen der wichtigsten Romane der amerikanischen Science Fiction, Krimi und Westenautorinnen Leigh Brackett nicht nur in neuer Übersetzung, sondern zum ersten Mal auch vollständig in deutscher Sprache vor. 

Das 1955 im Original veröffentlichte Buch ist bislang zweimal in Deutschland erschienen.  Beide Ausgaben heißen „Am Morgen einer anderen Zeit“. 1959 in einer Übersetzung von M.F. Arnemann als Utopia- Großband 110. Im Rahmen der Utopia Classics hat Horst Hoffmann das Buch noch einmal übersetzt. Es erschien als Utopia Classics Nummer 50.

Vor einem postapokalyptischen Hintergrund erzählt Leigh Brackett im Grunde eine Geschichte, deren Wurzeln in die Zeit der Bibel reichen. Die Geschichte spielt ungefähr achtzig Jahre nach einer atomaren Auseinandersetzung. Len Colters Großmutter kann sich noch an Städte, an Flugzeuge und vor allem auch von Benzin getriebene Autos erinnern. Auch der Atombombenabwurf auf Hiroshima als Verlust der atomaren Unschuld wird erwähnt. In technischer Hinsicht ist Leigh Brackett von einer atomaren Auswirkung auf dem Niveau der bekannten,  in den  fünfziger Jahren propagierten Technik ausgegangen. In ihrer Geschichte gibt es keine Mutanten und von verstrahlten Städten ist auch keine Rede. In ihrer Zukunft gibt es keine Städte. Die allgegenwärtige zentrale Regierung der USA hat der Verfassung einen Zusatzartikel hinzugefügt. Städte darf es nicht mehr geben. Nicht mehr als 2000 Menschen und damit ungefähr 200 Gebäude dürfen nicht auf einem Fleck entstehen.

Die Autorin impliziert, dass die USA auf das Niveau einer sich selbst versorgenden Agrarnation zurückgefallen ist, welche die relativ überschaubare Bevölkerung mit der Ergänzung von Tauschhandel ernähren kann. Das Wissen aus der Zeit vor dem Atomkatastrophe – die Autorin lässt komplett offen, ob es sich um einen atomaren Weltkrieg handelt oder konträre Kräfte in den USA einen Bürgerkrieg ausgelöst haben – ist noch in Form von Büchern unter Kontrolle des örtlichen Bürgermeisters vorhanden, es gibt aber niemanden, welcher das Wissen effektiv einsetzen kann. Es halten sich Gerüchte von einer geheimnisvollen „Stadt“ namens Bartorstown, in welcher die Menschen noch über Elektrizität und vor allem auch Maschinen verfügen. Niemand weiß, wo diese Stadt wirklich liegt und die  örtlichen Priester warnen vor den Versuchungen des technokratischen Teufels.

Len Colter und sein Vetter Esau wachsen in einer kleinen Gemeinde auf. Das Land steht unter der Kontrolle der Ludditen, Fundamentalisten, welche – vergleichbar den Mormonen ohne die Vielehe - jeglichen Fortschritt verdammen und alle Entscheidungen als von Gott gegeben annehmen. Überbracht von aggressiv agierenden Predigern. Andere religiöse Gruppen sind klar zu erkennen. So haben sich die Ureinwohner zu einem bettelnden Stamm zurückentwickelt. Die christlichen Vertreter finden sich eher in der legendären Stadt Bartorstown.

Ausführlich beschreibt Leigh Brackett das Leben in dieser kleinen Gemeinde. Len Colter ist im Grunde zu intelligent, zu aufgeschlossen, um buchstäblich in dem kleinen Ort zu versauern. Esau schert sich nicht um die Gesetze. Bei einer der in der Wüste stattfinden religiösen Versammlungen sehen sie, wie ein Mann gesteigt wird. Angeblich kommt er aus Bartorstown. In letzter Sekunde werden sie von einem anderen fliegenden Händler gerettet. Esau revanchiert sich, in dem er aus der Kiste einen Gegenstand stiehlt: ein Radio. Schnell wird der Diebstahl bemerkt und die Strafe ist drakonisch.

Leigh Brackett ist in Los Angeles aufgewachsen. Nach ihrer Hochzeit mit dem Captain Future Autoren Edmond Hamilton zog sie in die Amish Gemeinde in Kinsman, Ohio. In Ohio spielen auch Teile des Buches. Von einer Abrechnung mit den Fundamentalisten zu sprechen, wäre zu viel des Guten. Nach Edmond Hamiltons Tod ist Leigh Brackett für die letzten Jahre ihres Lebens wieder nach Los Angeles gezogen. Die Stärke dieser anfänglichen Passagen liegt in Bracketts realistischer und damit auch unangenehmer Beschreibung von einer kleinen Gemeinde, die nicht nur durch die Umstände des lange zurückliegenden Atomkriegs, sondern die Hierarchien von Menschen mit Scheuklappen weniger regiert als tyrannisiert wird. In welchen drakonischen Strafen auch durch die Eltern verabreichtden Willen brechen sollen. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet die Großmutter mit ihren lebendigen Erinnerungen an die Zeit davor Lens Vertrauensperson ist. Gleichzeitig ist sie auch die einzige Person, die ihren positiven Freiheitswillen akzeptiert und unterstützt.        

Die Abenteuerlust der beiden Jungs lässt sich aber nicht mehr unterdrücken und sie fliehen entlang des klar erkennbaren Mississippi, auf der Suche nach einer besseren Zukunft in Bartorstown.

Die ersten zwei Drittel des Buches erinnern an einer Science Fiction Version von Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Nur sind Leigh Bracketts Protagonisten ein wenig älter und wissen sogar, was man mit Mädchen/ frauen anstellen kann.

Die Reise ist auf den ersten Blick interessanter als das Ziel. Leigh Brackett zeichnet ein Land, das von religiösen Fanatikern kontrolliert wird. In einer der nächsten Siedlungen lernen Len und Esau diesen Kontrast fast am eigenen Leib kennen. Sie kommen beim erzkonservativen Richtung auf der einen Seite des gigantischen Flusses unter. Sie arbeiten für einen Unternehmer, der auf der anderen Seite des Flusses gigantische Lagerhallen errichten lässt, um den Handel besser zu koordinieren. Für die Fundamentalisten bedeutet  mehr Handel gleichzeitig nicht nur Reichtum, sondern mehr Menschen und damit eine Verletzung des Zusatzartikels der amerikanischen Verfassung, die nicht direkt in die Hölle führt, aber die Gefahr einer weiteren atomaren und nicht grundsätzlich kriegerischen Auseinandersetzung heraufbeschwört. Und Fanatiker kennen nur einen Weg. Der Fortschritt muss radikal gestoppt werden. Ein Gedanke, der sich fatalistisch durch den ganzen Roman zieht und während des Finals noch einmal auf einer anderen Sicht diskutiert wird. Fortschritt besteht auch aus Rückschlägen, aus Enttäuschungen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Menschen religiöse Fanatiker oder schwache, alkoholkranke Wissenschaftler sind.

Zwar streut die Autorin gegen Ende des Buches einen kleinen Hoffnungsfunken angesichts der nächsten Generation aus, aber der dunkle Tonfall bleibt bestehen.

Leigh Brackett hat in vielen ihrer Werke das Motiv der Quest genutzt. Selbst in den Drehbüchern zu „Der Tod kommt zweimal“ oder dem Western „El Dorado“. Ihre Mitarbeit an „Das Imperium schlägt zurück“ hat die Geschichte dynamischer und damit auch hektischer gemacht. Und offen gesprochen wird auch im zweiten Teil der „Star Wars“ Saga sehr viel gesucht. Daher überzeugen die Passagen auf dem endlos erscheinenden Fluss deutlich mehr als das Finale.  Len und Esau erwarten ein Feuerwerk von technischen Erfindungen. Obwohl sie immer wieder von ihren Begleitern gewarnt werden und die Details schätzen sollen, sind sie enttäuscht. Diese Enttäuschung scheint sich auf die Leser zu übertragen. Dabei haben die Menschen in Bartorstown es perfekt gemacht. Die Tarnung hinter einer alten Bergbausiedlung ist schwer für Außenstehende durchschaubar. Mittels Kameras kann der einzige echte Zugang überwacht werden. Kontrollposten entlang des Flusses verfügen über Radios und Verfolger werden durch Zufälligkeiten abgelenkt, aber nicht mittels  überlegener Technik getötet. Von dieser Technik ist sowieso nicht mehr so viel vorhanden.

In Bartorstown selbst diskutiert Leigh Brackett ein gänzlich anderes Thema. Die kleine Siedlung wird zu einer anderen Art von Gefängnis, denn die Legende der Technikstadt darf weder durch Augenzeugen noch Beweise offenbart werden. Wie die religiösen Fanatiker mittels Steinigungen ihre Pfründe verteidigen, sind auch die wichtigen Männer in Bartorstown entschlossen, ihr Geheimnis mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Die Schlussszene spricht Bände. Leigh Brackett ist nicht bereit, ihren Roman auf einer gänzlich dunklen Note enden zu lassen, aber sie macht deutlich, dass die Gesamtheit der noch vorhandenen Technik wichtiger ist als persönliche Sympathien. Und der Leser soll nicht einen Moment an der Entschlossenheit der Menschen in Bartorstown zweifeln.

Am Ende des Buches  macht Leigh Brackett aber deutlich, was Fortschritt ausmacht. Während draußen in dem kärglichen Land jeder Fortschritt niedergebrannt wird, motiviert jede Niederlage die Menschen in Batorstown, wieder von vorne anzufangen. Während Len und Esau nach Wissen gieren und sich in der kleinen Gemeinde ein Land voller Wein und Honig vorstellen, sind die Menschen in Bartorstown mit dem Erreichten zufrieden und wollen in Frieden leben. Daher auch die gemeine Mission, deren Idee sich Jahrzehnte später in einigen Science Fiction Romanen und Filmen wiederfindet.

Die größte Schwäche des Buches sind die beiden jugendlichen Protagonisten. Es sind klassische Teenager in einer Coming of Age Geschichte. Beginnend mit dem Verlust der Unschuld – sie schleichen sich nachts zu einem der religiösen Treffen und erleben eine Steinigung – bis zum fatalistischen Eingeständnis, dass Bartorstown nicht der perfekte Ort zum Leben ist, aber besser als die Unterdrückung auf dem Lande. Die beiden Jugendlichen durchlaufen im Eilverfahren verschiedene Entwicklungsstufen. Ihre Charaktere werden teilweise gegen ihren Willen geformt. Aber sie wirken vielleicht auch durch die Komplexität des Romans, erzählt in einer ausgesprochen kompakten Form, ein wenig zu distanziert beschrieben, zu sehr konstruiert, als aus sich selbst herum entwickelt. Um ihre beiden jugendlichen Protagonisten hat Leigh Brackett eine Reihe von eher eindimensionalen, pragmatisch unterschiedlichen Lager vertretenden Erwachsenen platziert, um den moralischen Inhalt ihrer Geschichte besser herausarbeiten zu können.

Viele Ideen dieses auch heute noch empfehlenswerten, in Bezug auf Halbwertszeiten und Fall out  ein wenig antiquiert wirkenden Buches finden sich vor allem in einer Reihe von utopischen Jugendbüchern des 21. Jahrhunderts wieder. Ihre Warnung vor religiösen Fanatismus und dem Ausschalten des freien Denkens ist dagegen zeitlos und unterscheidet „Das Lange Morgen“ von einer ganzen Phalanx anderer postapokalyptischer Romane der fünfziger und sechziger Jahre. Die Autorin konzentriert sich fast ausschließlich auf zwischenmenschliche Probleme und hat gleichzeitig eine der lesenswertesten Hommage an Mark Twain verfasst, welche das Flair, aber auch die Schrecken des amerikanischen Hinterlands aus den Augen der staunenden, aber auch meistens überforderten jugendlichen Leser unglaublich lebendig erscheinen lässt.

„Das Lange Morgen“ ist die nicht die beste postapokalyptische Geschichte der Science Fiction, aber vor allem ist sie einer der wenigen Romane, der sich mit Dogmen, Fundamentalisten und vor allem der Angst vor dem Fortschritt und seinen Folgen auf eine ansprechende und vor allem die unterschiedlichen Positionen herausarbeitende Art und Weise auseinandersetzt.            

Das lange Morgen: Roman (Carcosa)

Leigh Brackett
Das lange Morgen
Roman · Neuübersetzung
[The Long Tomorrow (1955)]
Deutsch von Hannes Riffel

Klappenbroschur · 284 Seiten · Euro 22,–-
ISBN 978–3‑910914–04‑9
E‑Book · 284 Seiten · Euro 17,99
ISBN 978–3‑910914–05‑6

Im Oktober 2023 erschienen