Emily Tesh hat für ihren Science Fiction Debütroman „Die letzte Heldin“ den HUGO erhalten. Auch wenn der deutsche Titel ein wenig zu simpel im direkten Vergleich zum deutlich passenderen Original „Some desperate Glory“ klingt, versteckt sich hinter der Social Military Fiction eine interessante Schablone der gegenwärtigen Zeit. Die Autorin verlangt trotz des von Beginn an hohen Tempos ein wenig Geduld von ihren Lesern, da sie im ersten Drittel des Buches vor allem mit zahlreichen Klischees des Genres arbeitet, bevor mit dem Verlassen/ der Flucht er Raumstation Gaea die Handlung nuancierter, vielschichtiger und vor allem auch politischer wird.
Die Britin Emily Tesh arbeitet als Lehrerin. Für ihre „Greenhollow“ Duologie ist sie mit dem World Fantasy Award und dem Astounding Award als bester Newcomer ausgezeichnet worden. Neben dem HUGO Gewinn ist der vorliegende Roman auch auf der Auswahlliste des Arthur C. Clarke Awards sowie des Locus Award gewesen.
Die Menschheit hat den Krieg gegen die Außerirdischen Majo vor Dekaden verloren. Er endete niemals offiziell, aber mit der Zerstörung der Erde und der Ermordung von mehr als 14 Milliarden Menschen fehlte ihr das logische, militärische und politische Rückgrat. Viele Menschen haben sich dem Völkergemisch der Majo angeschlossen. Eine Handvoll von Offizieren ist mit vier Kriegsschiffen desertiert, welche auf einem Asteroiden eingegraben die Raumstation Gaea bilden. Alle Strukturen sind militärisch hierarchisch, die Verschwendung von Resourcen ist verboten und die Kinder werden wie zum Beispiel in Orson Scott Cards „Ender“ Serie frühzeitig militärisch gedrillt. Kurz vor der Volljährigkeit werden sie den einzelnen Kasten zugeordnet. Vakyrie „Kyr“ ist eines dieser aufstrebenden Talente. Ihr Onkel ist sehr einflussreich. Obwohl sie in militärisch taktischer Hinsicht auf ausgezeichnete Werte kommt, wird sie den Brutkammern zugeschlagen. Die Frauen sollen sich um die Kinder kümmern, alle zwei Jahre möglichst von unterschiedlichen Männern wegen des Genpools schwanger werden und gehören zu den respektablen, aber unter den jungen Menschen wenig angesehenen Teilen der Bevölkerung. Emily Tesh macht allerdings deutlich, dass die Führungsoffiziere nicht alleine dem Faktor Zufall trauen. Die Menschen werden genetisch manipuliert, optimiert für die potentiellen Kriegseinsätze.
Kyr ist geschockt, ihre Welt bricht zusammen. Ihr älterer Bruder Magnus sollte sich einer Kampfstaffel anschließen, ist aber geflohen. Auch Kyrs ältere Schwester hat die Station heimlich verlassen. Kyr glaubt nicht, dass ihr Bruder desertiert ist und will ihm mit Hilfe des queeren Hackers Avi folgen, nachdem Magnus angeblich auf einer geheimnisvollen Selbstmordmission draußen auf einer der Majowelten sein soll. Kyr und Ave kommt zuGute, dass die Menschen einen Majo und sein Raumschiff gefangen genommen haben.
Zu Beginn etabliert die Autorin eine faschistoide Gesellschaft, die vor allem auf der Erhaltung des Status Quo und damit des allgegenwärtigen Feindbilds basiert. Es wird keinen Endsieg mehr geben, vielleicht nicht einmal einen Pyrrhus Erfolg. Eingegraben in die Oberfläche des Asteroiden verharren die Menschen in ihren Abläufen. Erst im Laufe der Handlung stellt sich natürlich heraus, dass es Opportunisten gibt und die Geschichte hinsichtlich der Gründung der Kolonie nicht so stimmt. Es ist weiterhin keine Überraschung, dass Kyrs Familie auf beiden Seiten der Front gedient hat. Ihr Onkel ist hier aktiv in einer leitenden Position, über ihre Mutter wird Kyr während der Flucht einiges erfahren. Anfänglich ungläubig wird natürlich auch ihr Weltbild erschüttert. Aber es dauert auch angesichts der ambivalenten Allianzen – insbesondere Magnus und Avi entwickeln sich im Laufe der Handlung – lange, bis Kyr ihren eigenen Weg zu gehen lernt.
In dieser Hinsicht ist „Die letzte Heldin“ eine fast klassische Coming-of-Age Geschichte. Die Zertrümmerung der eigenen sozialen Welt erfolgt im Einklang mit der Bildung einer noch mehr vielschichtigen Persönlichkeit – zu Beginn haben alle eher Angst vor Kyr aufbrausenden, resoluten Temperament . Sie ist die 1000 Prozent Frau, die sich immer wieder an einer Art Kobayashi Maru Test versucht, welchen ihr Bruder als einziger Kadett bestanden hat. Natürlich hat er geschummelt oder besser schummeln lassen. Für Kyr bricht eine Welt zusammen.
Zu den Stärken der ersten Kapitel gehört auch die Charakterisierung der Protagonistin, die trotz ihrer fast dogmatischen, überambitionierten und dem System ohne Widerspruch huldigenden Denkweise trotzdem sympathisch rüberkommt. Bis zur ihrer Versetzung in die Krippe aufgrund fadenscheiniger, die menschliche Art hinsichtlich ihrer außergewöhnlichen “Fähigkeiten” besser zu erhaltender Art stellt sie nichts in Frage und jede noch so kleine Opposition ist ein Verrat nicht nur an der Sache, sondern der Menschheit.
Mit dem Verlassen der Station, der kontrollierten Umgebung, beginnen auf dem Planeten drei Prozesse fast gleichzeitig. Kyr muss von der falschen Perspektive Abstand nehmen, dass ihr Bruder auf einer selbstmörderischen Mission ist. Grundsätzlich liegt Kyr hier falsch und zugleich auch richtig. Zum ersten Mal begegnet sie einem der Majo von Angesicht zu Angesicht und lernt stellvertretend für den Leser mehr über deren Kultur. Und drittens erlebt sie zum ersten Mal das Leben auf einem erdähnlichen Planeten, auf dem es Kuchen gibt; Wasser im Überfluss vorhanden ist und nicht jede Meinungsäußerung streng kontrolliert wird.
Es ist die erste von zwei potentiell perfekten Welten, in bzw. auf denen Kyr mit der bitteren Realität ihrer Existenz als „Immer die Beste im Wie-werde-ich-ein-faschistisches Weltraummädchen- Bootcamp“ (Seite 364) zu hinterfragen beginnt.
Dieser Handlungsstrang endet auf einer bitteren Note, den potentielle Verbündete erweisen sich als Verräter, der Außerirdische ist anders als Kyr denkt und die Blume der Weisheit – eine von zwei gigantischen künstlichen Intelligenzen in diesem Universum – ist auch nur ein Spielzeug. Emily Tesh entzieht ihrer Protagonistin im wahrsten Sinne des Wortes alles und lässt sie im metaphorischen Regen stehen.
Sich mit eigenen Kräften aus dem selbst erschaffenen Loch zu ziehen, wäre eine klassische Fortführung einer Young- Adult Geschichte. Aber Emily Tesh greift fast aus dem Nichts und technisch ausgesprochen ambivalent erklärt auf ein anderes klassisches Sujet der Science Fiction zurück, wobei er Leser sich eher in einer futuristisch dunklen Version des Frank Capra Klassikers „Ist das Leben nicht schön?“ ohne Weihnachten, aber mit seiner sexuell sadistischen Scrooge Version versetzt wird.
Der „zweite Versuch“ ist für Kyr zu gut. Zwar werden existentielle Themen wie Ambition, Emotionen, Liebe zwischen und innerhalb der Geschlechter und schließlich auch Vertrauen angesprochen, aber Kyr sieht sie erstens in einer zu passiven Rolle und zweitens will sie nicht das Schicksal ihrer älteren Schwester durchleben. Auch sexueller Missbrauch von Minderjährigen und einhergehend eine dominante und erdrückende Haltung aus der vermeintlichen Position der Stärke jungen Mädchen gegenüber.
Es muss also eine dritte Version her. Während in der zweiten Fassung Kyr wirklich auf den Anfang der Katastrophe zurückversetzt und zur Heldin wird, deren Tat niemand kennt, verschiebt Emily Tesh die Leser manipulierend das Szenario wieder zum Ausgangspunkt des Buches zurück. Kyr ist sich allerdings bewusst, dass es mehr als eine Realität gibt. Sie scheint nicht die einzige Protagonistin zu sein, die das spürt. Diese unbestimmte Gefühl umfasst neben dem Außerirdischen allerdings nur potentielle Verbündete, die Schurken sind natürlich ahnungslos.
In dieser letzten Version entwickelt Emily Tesh eine actionreiche Alternative zum ersten Handlungsstrang. Manches, aber nicht alles kommt sowohl den Leser wie auch Kyr vertraut vor. Durch dieses Mehrwissen kann sie erstens anders handeln und zweitens die finalen Ziele definieren, während sie im ersten Handlungsstrang nur reagiert hat. Ob sie wirklich die im Titel letzte Heldin ist, soll nicht weiter diskutiert werden. Sie ist auf jeden Fall die junge Frau, die entschlossen agiert, als sie erkennt, dass selbst ein Teil der auf der Station verbliebenen Menschen nur Kriegstreiber sind, deren Ziele weniger der im Grunde aussichtslose Sieg über die Majo, sondern die Unterdrückung weiterer Menschen ist, die auf den Planeten mit den Fremden friedlichen zusammen leben.
Vor dem Hintergrund der rasanten und gut erzählten Handlung handelt die Autorin nicht belehrend, aber teilweise zu viel erklärend verschiedene Topics ab: Faschismus und Rassismus unter dem Deckmantel militärischer Konflikte sind der eine Schwerpunkt, wobei die Autorin hier nicht in die Tiefe geht und die Folgen aufzeigt, sondern die drangvolle Enge der Station nutzt, um aufzuzeigen, wie leicht eine kleine Gruppe von Menschen durch ranghöhere Offiziere zu kontrollieren ist. Gehirnwäsche beginnend mit der Wiege. Da er Konflikt mit den Außerirdischen nur gestreift , aber historisch nicht erläutert wird, fallen einige Ambitionen der Autorin zu kurz. Die Vernichtung von vierzehn Milliarden Menschen wird in keinem der Überlebenden etwas anderes als blanken Hass erzeugen.
Während die Science Fiction Actionhandlung mit einigen konstruierten Szenen und vor allem einer Technik, die eher Wunschdenken ist als das sie auf realistischen Hintergründen basiert, zumindest zufrieden stellend bis spannend unterhält, reichen diese Komponenten im Kern nicht aus, um den HUGO als bester Roman des Jahres zu verdienen.
Wahrscheinlich hat die Jury diese Mischung aus Young Adult Geschichte, Space Romance und schließlich Coming-of-Age Familienstory vor allem wegen ihres nur auf den ersten Blick innovativen queeren Ansatzes mit dem Preis ausgezeichnet. Die nachfolgenden Betrachtungen sind rein neutral und stellen vor allem keine Vorverurteilung dar.
Es gibt zwei Frauen, die vergewaltigt werden oder denen sexueller Missbrauch angedroht wird. Der „Täter“ ist überrascht, dass die zweite Frau nicht einfach „nein“ sagt, obwohl sie deutlich macht, das sie keine Beziehung zu ihm haben möchte. Ihre Schwester hatte da weniger Glück. Natürlich wird der Täter relativ schnell bestraft und sein Machtmissbrauch basierend auf seiner Stellung von Kyr entlarvt, während die anderen Bewohner der kleinen Station es immer hinter vorgehaltener Hand nur gemunkelt haben. Aber wie viele andere zwischenmenschliche Szene im vorliegenden Buch hat der Leser das unbestimmte Gefühl, als wenn der Wille stärker als die schreibende Hand, das Fleisch gewesen ist.
Es leben zweitausend Menschen auf dieser Station und der Fortbestand der menschlichen Rasse durch genetische Optimierung und eine ständige Kontrolle des Genpools ist elementar. Trotzdem finden sich erstaunlich viele junge Menschen mit homosexuellen und nicht queeren Neigungen an Bord, obwohl in der Übersetzung immer wieder von queer gesprochen wird. Natürlich umfasst der Begriff queer auch homosexuellen Neigungen oder sogar Beziehungen, aber es wirkt ein wenig verstörend, wenn hier durch die Wahl des Begriffs mehr angedeutet wird als tatsächlich stattfindet. Weder das Schmachten zwischen Kyrs Bruder und seinem besten Freund noch der scheue Kuss als Beginn einer Beziehung zwischen Kyr und einer Lil sind ausreichend für Beziehungen. Auf der einen Seite sind diese jungen Leute extrem scheu, auf der anderen Seite fühlen sie sich stark und von der Öffentlichkeit im Gegensatz zu ihnen auch bemerkt zum gleichen Geschlecht hingezogen. Die Autorin lebt in einer heterosexuellen Beziehung und hat ein Kind. Vielleicht liegt es daran, dass sie diese Beziehungen stereotyp aufbaut, sie entsprechend extrapoliert und dann wieder komplett fallen lässt. Zwischen den Actionszenen wird kurz geschmachtet, es werden einige Worte gehaucht, aber den Sequenzen fehlt jede notwendige sexuelle Spannung. Von Erotik ganz zu schweigen. Und damit nimmt die Autorin einem wichtigen Aspekt ihres Buches auch die Glaubwürdigkeit. Sie arbeitet vor allem bei Magnus und seinem Freund mit klischeehaften Parametern wie großer, attraktiver und schüchterner Junge sowie der kleinen wenig attraktiven, aber hochintelligenten Tunte/ Zicke, die sich mehrmals an allem und jedem auf unterschiedliche Art und Weise hinterhältig rächen will.
Kyr muss ihre falsche Familie verlassen, um eine richtige Familie abseits ihrer Heimat zu finden. Das ist konsequent und logisch, auch wenn sie buchstäblich alle Brücken in dem feurigen Finale hinter sich abbrennt und gleichzeitig alle Schuldigen bestraft. Das wirkt auch angesichts des ambitionierten, aber in dieser Form auch eher an ein Videospiel erinnernden Plans unrealistisch und schräg. Orson Scott Card hat im ersten „Ender“ Roman das Problem der schwachen Helden sehr viel besser gelöst. Wobei Kyr keinen Völkermord begeht und ihre Feinde sehr sorgfältig ausgewählt hat.
Natürlich will die Autorin vor faschistischen Regierungen warnen, aber die Ausgangsprämisse lässt sich nicht mit der Gegenwart vergleichen. Die Erde ist zerstört, eine Handvoll Menschen hat überlebt. Das klassische, vielleicht auch klischeehafte Kampfstern Galactica Ausgangsszenario. In der vorliegenden Theorie sind alle Resourcen in der von den ehemaligen Admiralen zu kontrollierenden Welt begrenzt. Es gibt mindestens einen Planeten, auf dem die Menschen frei leben können. Das würde aber den Status Quo innerhalb der Gaia Station gefährden und muss unterdrückt werden. Diese Gefangennahme und Manipulation von Menschen ist das Thema, das der Leser in die Gegenwart übertragen kann. Aber das rein faschistische System in einer Extremsituation wäre dazu nicht ausreichend, denn immer wieder macht die Autorin auch deutlich, dass die versteckte menschliche Kolonie auch von den Feinden vernichtet werden könnte.
„Die letzte Heldin“ ist keine leichte Lektüre. Ambitioniert und vielschichtig versucht die Autorin ein interessantes Szenario unter Nutzung der Klischees und dem Hinweis auf familiäre Neuordnung zu verfassen, in dem auch die neuen zwischenmenschlichen Beziehungen adäquat, vielleicht sogar überbetont berücksichtigt werden. Es gibt nur eine normale heterosexuelle Beziehung, die seit fast zwanzig Jahren hält. Diese wird kurz gestreift. Das wirkt überambitioniert mit einem Hauch Belehrung zwischen den Zeilen. Auf der anderen Seite liest sich das Buch mit entsprechenden Scheuklappen und hinsichtlich der Außerirdischen – sie wirken eher wie eine Mischung aus Yoda inklusive Stock und bunt schillernden Zwergen – sowie der Technik mit der Weisheitsblume – eine K.I. mit unendlichen Möglichkeiten – auch wie ein Konzept, das wie ein Wein noch reifen muss. Abschließend ist positiv, das die Autorin auf keinen Zyklus zusteuert, keine offenen Fäden hinterlässt und ihre Geschichte konsequent beendet. In dieser Hinsicht ist „Die letzte Heldin“ eine zufrieden stellende Lektüre, aber sicherlich nicht der beste Roman des Jahres, der unbedingt einen HUGO erhalten muss.
Herausgeber : Heyne Verlag; Deutsche Erstausgabe Edition (12. Juni 2024)
- Sprache : Deutsch
- Broschiert : 560 Seiten
- ISBN-10 : 345332319X
- ISBN-13 : 978-3453323193
- Originaltitel : Some desperate Glory