Der Schäms-Scheuß-Virus: und andere unwahrscheinliche Geschichten

Karl- Ulrich Burgdorf

 Karl- Ulrich Burgdorf präsentiert in seiner ersten eigenständigen immerhin dreißig kürzeste und Kurgeschichten umfassenden Sammlung ein sehr breites Themenspektrum, wobei nicht alle Texte grundsätzlich auch phantastisch sind. Wie in seiner bisher langen, aber ein eher schmaleres Werk umfassenden, fast 15 Jahre zusätzlich unterbrochenen Karriere setzt der in Münster lebende Autor immer wieder pointierte Schwerpunkte.

Viele der Texte sind in unterschiedlichen, kleineren und heute schwer zu beschaffenden Anthologien schon einmal erschienen. Dazu kommen eine Reihe von Erstveröffentlichungen, wobei diese sich in die Reihe von auf den Punkt gebrachten Miniaturen einordnen, die Karl- Ulrich Burgdorf vor allem für Thomas LeBlancs Anthologieserie „Miniaturen“ geschrieben hat. Nicht jede Geschichte macht es dem Leser leicht, den Gedanken des Autoren wirklich zu folgen. So steht „Nobelpreisträger“ am Ende der Sammlung. Ein geplantes Abtreten auf dem Gipfel des Ruhm Dazu kennt der Leser die Chiffreprotagonisten wie in diesem Text exemplarisch aber zu wenig. Berufliche Eitelkeit wie in dem „Märchen vom Schlüssel“ spricht da wahrscheinlich mehr die Allgemeinheit an. Andere Miniaturen beinhalten klassische Science Fiction Themen wie „Ein Beitrag aus der Nanowelt“,  der mit den Erwartungen der Kritik spielt. Ohne in die Details zu gehen, baut Karl- Ulrich Burgdorf eine Geschichte aus der Nanowelt und nicht über die Nanowelt ein. „Liebesdienst“ nimmt die Idee der alles behütenden Maschine genauso auf wie „Ineffizient“ der kompletten Durchplanung der menschlichen Gesellschaft widerspricht. Komprimiert bis zur Verspieltheit versucht Burgdorf markante und bekannte Themen des Genres einzufangen, nicht unbedingt innovativ neu zu erzählen, aber zumindest originell zu präsentieren. Ein Schwerpunkt liegt bei Science Fiction Storys, aber wie auch bei „Die beiden Waffenschmiede“ oder „Karma“ ist der Autor bereit, bekannte Ideen/ übermittelte Erlebnisse phantastisch zu extrapolieren.  

Sprache ist in seinen Texten nicht nur als Erzählform, sondern auf den Inhalt bezogen ein wichtiges Medium. Die Titelgeschichte „Der Schäms- Scheuß- Virus“ funktioniert vor allem dank der Anmerkungen des Autoren und bei einer zweiten Lektüre wird der Leser die einzelnen Verbindungen schneller erkennen und die Ironie in ihnen besser einordnen können. Im Münsterländer Platt – es gibt eine Übersetzung auf der Homepage des Autoren – erscheint „Das Alientranslatorium“ wie eine Herausforderung, Science Fiction Ideen mit Traditionen zu verbinden. Auch „Die Plaudertasche“ ist eine der Geschichten, welche die Idee der künstlichen Intelligenz auf eine absurde Spitze treiben. Was als eine latente Abhängigkeit von intelligenten Gebrauchsgütern beginnt, endet schließlich mit einer Psychiater Couch, die gerne auf ihren Herren und Meister verzichten möchte.  

 In den längeren Texten arbeitet Burgdorf nicht selten altbekannte Ideen zynisch wieder neu auf. „Der Hut“ ist ein weiterer Teufelspakt, wobei das Instrument des Ruhms den Rockmusiker überdauert. Absichtlich bricht der Autor in der Mitte der bekannten Handlung mit den Versatzmustern und manifestiert das Werkzeug des Geschäftspartners. Die Story endet mit einem kraftvollen wie stilisierten Bild. Auch „Der Architekt“ mit einem neuen Auftrag reiht sich in diese Texte mit Versuchungen ein, denen ein gestandener Mann nicht wirklich widerstehen kann.

 Eine Hommage vor allem an Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“ stellt die Geschichte „Die beiden Waffenschmiede“ dar. Ein Wettstreit in diesem orientalischen Märchen endet fatalistisch. Wenn der Leser in einem Tölpel auf intellektuellen Abwegen vielleicht eine Hommage an Woody Allen erkennt, dann funktioniert die Tierfabel „Das Blau deiner Füße, Geliebter“ ausgesprochen gut. Die stilistischen Variationen zeigen, wie sehr sich Burgdorf mit den Vorbildern auseinandergesetzt hat und wie stark er eine Eigenständigkeit des Textes unabhängig von der Vision des Autoren anstrebt.   

 Eine seiner ersten Science Fiction Kurzgeschichten „Der Mann, dessen Gesicht in Fetzen hing“ ist gleichzeitig eine der besten Arbeiten dieser Sammlung. Karl- Ulrich Burgdorf hat einige Episoden aus dem Leben des in New York lebenden Fotographen Weegee für seine Science Fiction Geschichte zweckentfremdet. Auch wenn der zugrunde liegende Plot zwischen dem Machtkampf zweier „Gruppen“ unter Einbeziehung des organisierten Verbrechen in den dreißiger und vierziger Jahren vielleicht einigen Lesern durch den später gedrehten, aber deutlich bekannteren „Man in Black“ Film bekannt ist – Karl- Ulrich Burgdorf weist in seinem Nachwort darauf hin -, überzeugt die Geschichte durch die stilistische Hommage an die Hardboiled Krimis dieser Zeit. Hinzu kommen das Erschaffen einer absolut stimmigen Atmosphäre als einer der Stärken des selbst in seinen Miniaturen

minutiös planenden Autoren sowie überzeugende Charaktere. „Zeitmaschine“ als Zeitschriftenartikel mit der phantastischen Bibliothek in Wetzlar im Mittelpunkt ist eine von mehreren Texten, in denen Burgdorf mit Ideen der realen Zeitreise, der Idealisierung der literarischen Vergangenheit und schließlich der Reise in möglicherweise fiktive literarische Welten spielt. Obwohl diese Texte zu den Miniaturen gehören, überzeugen sie vor allem durch die immer wieder geschickt variierten Versatzstücke. 

 Bei einigen Texten – siehe „Ninny“ – findet der Autor allerdings nicht den Schlüssel zu seinen Geschichten. Sie sind stilistisch gut geschrieben worden, funktionieren aber durch die Vorwegnahme eines Teils der Pointe nicht überzeugend genug. Es ist schade, dass eine Variation der Werwolfidee verbunden mit den möglicherweise traumatischen Erfahrungen eines Dreizehnjährigen zu stark auf die böse, aber konsequente Pointe zugeführt werden, während der Spannungsaufbau dabei unterminiert wird.  In diese Richtung führt auch „Sweet Child of Mine“, wobei die brutale wie leider auch geschmacklose Komponente gar nicht das Elend erfassen kann, dass unschuldigen Dritten ein hoffentlich kurzes Leben lang angetan wird. Natürlich geht es Burgdorf um die Provokation, um das Schockieren und in dieser Hinsicht sind solche Miniaturen auch effektiv, aber der Leser findet keinen richtige Sympathie/ Antipathie Ebene zu den hier vorgestellten Protagonisten. „Abattoir“ ist eine der zugänglicheren Horror Geschichten. Eine Familie besucht ihren Sohn in den Staaten. Eine Horror Ranch lädt ein. Das Geschehen erinnert an einen Film, den der Sohn leider nicht bis zum Ende gesehen hat. Burgdorf hat die Story um ein leider sehr offenes Kapitel erweitert. Bis dahin ist es eine stimmungsvolle, teilweise brutale Gruselgeschichte, die ihre Faszination vor allem aus der unerklärten Vermischung von Realität und Fiktion bezieht. Der letzte Horrortext ist „Die Haut“. Ein Mädchen ist verschwunden, die Suche endet erfolglos. Wie in „Sweet Child of Mine“ steuert Burgdorf stringent und doch für den Leser nicht erkennbar dieses Mal über einen viel längeren Zeitraum hinweg das bitterböse Ende an. Sehr gut geschrieben ohne von Dialogen vorangetrieben zu werden durch die Distanz der Berichtsform auch ein wenig erträglicher gemacht überzeugt nicht nur dieser Text, sondern hinsichtlich ihrer konsequenten Ausrichtung alle Horrorgeschichten der Anthologie.       

Zu den auf historischen Fakten basierenden, aber durch einen fiktiven Hintergrund reinen Fantasy Geschichten gehört „Das Prinzip der Gerechtigkeit“. Burgdorf beschreibt eine phantastische wie brutale Inquisition, der ein einzelner Magier zumindest nicht in dieser Generation widersteht. Sehr dunkel, sehr brutal und zynisch wirkt das zu intellektuelle Ende nicht gänzlich befriedigend. Es sind wie bei einigen anderen Texten dieser Sammlung die feinen Zwischentöne, mit denen der Autor wahrscheinlich seine Leser zum weiteren Nachdenken reizen möchte. Auch „Der Fremde“ – einige Aspekte der Geschichte entstammen der Jugend Burgdorfs – ist eine realistische Fantasygeschichte, deren phantastische Elemente in erster Linie aufgesetzt erscheinen. Als dunkle Parabel auf den Aberglauben der Menschen in nicht aufgeklärten Zeiten funktioniert der Text sehr gut. 

 Neben der Hommage an Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“ spielt auch Johann Wolfgang von Goethe eine wichtige Rolle in dieser Sammlung. Wie Thomas Mann in seinem Goethe Roman eine fiktive Begegnung als Grundlage genutzt hat, spielt Burgdorf in „Die Kutschfahrt nach Angelmodde“ mit der Idee, das eine tatsächlich stattgefundene Reise des Dichterfürsten einen phantastischen Tag länger gedauert hat. In der kleinen Goethe Ecke ist sie durch die Inszenierung und die Etablierung einer überzeugenden Stimmung der Höhepunkt. Die Verweise auf Goethes Faust sind ein wenig zu verspielt in dem x- ten Teil des bekannten Dramas, während zum Beispiel der schon beim Thema Zeitreise angesprochene „Walpurgis- Rave“ schwungvoll verfasst worden ist.

 Zusammengefasst zeigen die dreißig Texte – nicht alle Miniaturen sind wirklich als Kurzgeschichten anzusehen, es handelt sich manchmal nur im zu Papier gebrachte Geistesblitze –  die Bandbreite, die Karl- Ulrich Burgdorf auch in seinem Romanschaffen immer wieder bewiesen hat. Von klassischer Science Fiction über Exkurse in die allerdings nicht heroische Fantasy bis zu griffigen Horrorgeschichten. Abgerundet wird diese empfehlenswerte Sammlung durch die literarisch intellektuellen Spielereien, auf welche der Autor positiv in seinen pointierten, manchmal auch ein wenig selbstironischen Anmerkungen im Anhang hinweist.  

 

  • Paperback: 224 Seiten
  • Verlag: Westfälische Reihe (18. August 2016)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3956275152
  • ISBN-13: 978-3956275159