Sherlock Holmes und die Zeitmaschine

Sherlock Holmes und die Zeitmaschine, Rezension, Titelbild
Ralph E. Vaughn

Im Original heisst Ralph E. Vaughn Pastiche „Sherlock Holmes and the Coils of Time“. Es handelt sich um eine Novelle, die in der gleichnamigen Sammlung zusammen mit einigen anderen sehr unterhaltsamen Sherlock Holmes Geschichten erschienen ist. Dabei reicht das Spektrum der Geschichten vom Schicksal eines Kleinverlages über einen Schauspieler, der in den fünfziger Jahren den Detektiv gespielt hat bis zu Levi, dem Dachshund.

 Im Mittelpunkt steht aber „Sherlock Holmes und die Zeitmaschine“, welche der Blitz Verlag mit einem Titelbild von Mark Freier als eigenständiges Taschenbuch veröffentlicht hat. Dabei begegnet Sherlock Holmes nicht nur H.G. Wells, der ja sich als Chronist bei „Die Zeitmaschine“, seinem populärsten Werk, bezeichnet hat. Es gibt eine Reihe von Fortsetzungen und Spielarten des berühmten Klassikers, aus denen Stephen Baxters „Die Zeitschiffe“ in mehrfacher Hinsicht herausragt. Wie in der vorliegenden Pastiche verliert der Zeitreisende eben nicht nur den Glauben an eine glorreiche Zukunft und begegnet in der fernen Zukunft des Morlocks, in beiden Geschichten adaptieren die auf den ersten Blick so hirnlosen und brutalen Morlocks die Technik der Menschheit, um die Wurzeln ihres Geschlechts in der Gegenwart allerdings dann auf eine sehr unterschiedliche Art und Weise zu sichern.

 Ralph Vaughns Text beginnt mit dem Verschwinden von Menschen im viktorianischen London. Es ist die Zeit, als Sherlock Holmes noch nach dem Attentat an den Reichenbachfällen „verschwunden“ scheint. Der Roman eröffnet quasi geschickt den Spannungsbogen mit der Verhaftung Morgans und dem Wiedererscheinen Sherlock Holmes, sowie auf der zweiten Handlungsebene mit dem Eintreffen eines seltsamen Briefes, in dem Sherlock Holmes auf eine fast einzigartige Art und Weise aufgefordert wird, einen seltsamen Fall zu übernehmen.

 Auf der dritten Handlungsebene erfährt der Leser wichtige Passagen aus H.G. Wells berühmten Klassiker, wobei nicht nur die erste beschriebene Reise im Mittelpunkt steht, sondern die zweite Expedition, zu welcher der Reisende sowohl im offenen Ende des Buches als auch einzigartig dramaturgisch umgesetzt in George Pals berühmter Adaption aufbricht. Viele der Fortsetzungen/ Interpretationen beziehen sich auch auf diese seltsame Reise.

 Das erste Drittel des Buches ist interessant konzipiert. Auch wenn der Leser dem nicht unbedingt deduzierenden, sondern wie Inspektor Kent nur ermittelnden Sherlock Holmes durch die Kenntnisse der Werksverbindungen mindestens einen Schritt voraus ist, kann der Autor ausreichend Spannung aufbauen und die viktorianische Atmosphäre der beiden in der gleichen Epoche entstandenen und doch so grundlegend verschiedenen literarischen Arbeiten gut miteinander verbinden.

 Der Mittelteil erscheint ein wenig zu lang, zumal vor allem die Erkenntnisse aus der fernen Zukunft mit einem industriellen Moloch London und vor allem den Menschenfleisch liebenden Morlocks in der fernen Zukunft viel zu kurz kommt. Der Zeitreisende fügt diese Fakten zusammen und interpretiert sie auf eine seltsame Art und Weise. Immer am Rande des Zeitparadoxon entwickeln der Reisende und Sherlock Holmes eine phantastische Theorie, in deren Verlauf der abschließende dritte Akt im Grunde nur noch aus reinen Actionszenen besteht.

 Es ist schade, dass ausgesprochen viel Potential wie der Einblick in die Kultur der Morlocks verloren geht. Sie sind impliziert nicht nur die barbarischen Wilden, sondern scheinen schnell auch die englische Sprache zu lernen. Hinzu kommt, dass der industrielle Gigant London mit seinen Fabriken, seinen Häusern und seiner erdrückenden Atmosphäre ja von den Morlocks erbaut bzw. erhalten worden ist. Vaughn geht absichtlich positiv auf Konfrontationskurse sowohl mit H.G. Wels als auch George Pals Fassung, ohne anschließend diese Ideen auch wirklich effektiv in die laufende Handlung einzubauen. Gute Ansätze reichen nicht.

 Abschließend folgt eine wilde Jagd durch die Zeit, welche eher an eine surrealistische „Dr. Who“ Episode erinnert. Auch in der französischen Comicreihe um den berühmten Detektiv gibt es ein Abenteuer, in dem Sherlock Holmes neben dem Abstecher in die Höhle durch das Necronomicon Menschen aus einer anderen Epoche begegnet. Aber diese Begegnung mit den potentiellen Zeitreisenden ist deutlich subtiler aufgebaut und in die laufende Handlung eingebaut, während Vaughn mit der Jagd durch die Zeit nach der Morlock Stammmutter in erster Linie die Handlung auf eine fast enttäuschend einfache Art und Weise abzuschließen sucht. Das Finale ist in dieser Hinsicht fast kontraproduktiv und der Leser muss zweimal genau hinschauen, um zu erkennen, dass es wirklich zu Ende ist.

 Im Gegenzug setzt Ralph E- Vaughn allerdings auch einen neuen Anfang, da Sherlock Holmes zur Rückkehr in die Öffentlichkeit auf eine besondere Art und Weise motiviert werden muss. Ein schwieriger Aspekt von Zeitreisegeschichten ist es, eine logische Chronologie zu entwickeln und sich in diesem entsprechenden Rahmen auch zu bewegen. Vaughn versucht es abschließend gar nicht, die Möglichkeit einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung abzustreiten, sondern setzt diese Prämisse sehr zielstrebig ein. Mindestens Sherlock Holmes scheint an ihrer Funktionalität nicht zu zweifeln.

 Hier zeigt sich eine weitere Schwäche der vorliegenden Geschichte. Reine Sherlock Holmes Fans werden enttäuscht werden. Natürlich beobachtet und deduziert der Detektiv vor allem zu Beginn des Textes zufrieden stellend. Aber in erster Linie scheint er sein Umfeld wieder von seinen Fähigkeiten überzeugen zu müssen, obwohl Doktor Watson mit der Beschreibung seines Todes an den Reichenbachfällen im Grunde eine ganze Nation in tiefe Trauer gestürzt hat und alleine die Idee, das Sherlock Holmes zurück ist, jeden Beweis überflüssig macht. Es ist aber auch das letzte Mal, das der berühmte Detektiv seine Fähigkeiten einsetzen kann. Nach der Expedition in die Londoner Unterwelt sind es vor allem die britischen Truppen und Elitepolizisten, welche den Morlocks auf den Leib rücken und sie natürlich bis auf die Stammmutter und einen weiteren Morlock ausschalten. Sherlock Holmes braucht im Grunde nur den selbst für Blinde ausgelegten Spuren folgen, um im Kanalnetz erfolgreich zu sein.

 Die Verfolgung in den jeweiligen Zeitmaschinen setzt auch keine ermittlungstechnischen Erkenntnisse voraus, so dass im Grunde die Namen der Protagonisten sogar austauschbar erscheinen. Vaughn bemüht sich, die Exzentrik des Detektivs in die Geschichte einzubauen, sie ist aber eher ein kleines Bonbon an die Fans als eine originäre Notwendigkeit.

 Auch der Spannungsbogen flacht trotz steigender Dynamik, eines höheren Tempos und vor allem fast hektischer Szenenwechsel mehr und mehr ab. Niemand zweifelt wirklich daran, dass erstens Sherlock Holmes erfolgreich ist und zweitens die inzwischen fast eindimensionale Gefahr der Morlocks selbst aus der vierten Dimension kommend auf eine effektive, im vorliegenden Buch schon frech simple Art und Weise gebannt werden kann.

 Auf der anderen Seite ist die vorliegende Geschichte aber auch Sicht der H.G. Wells Anhänger eine interessante Spekulation, deren Wurzeln hinsichtlich der technologischen Evolution von Zeitmaschinen durch die Morlocks eine Facette repräsentieren, den wie eingangs erwähnt vor allem Stephen Baxter in seinem Epos „Die Zeitschiffe“ aufgenommen und auf eine phantastische Art und Weise weiter entwickelt hat. Vieles ist in der vorliegenden Geschichte deutlich einfacher, ohne Frage auch stringenter entwickelt worden, aber beide moderne Fortsetzungen haben ihren Reiz und ragen über die schwerfälligen intellektuellen Arbeiten wie „Die Rückkehr der Zeitmaschine“ deutlich positiv unabhängig von ihren jeweiligen Schwächen heraus.

 „Sherlock Holmes und die Zeitmaschine“ wird vielleicht vor allem aufgrund des fehlenden kriminalistischen Geschicks, mit welchem die Ikone des Detektivromans vorgehen sollte, in erster Linie Sherlock Holmes Jünger allerhöchstens oberflächlich unterhalten, aber als Kombination zweier unterschiedlicher Werke überzeugt die ganze Geschichte mindestens als Ideensprungbrett eines umfangreicheren Romans trotzdem kurzweilig.

Band 01, Phantastischer Kriminal-Roman
ISBN: 978-3-95719-200-4 E Book
Seiten: 208

Künstler: Mark Freier
Künstler (Innenteil): Mark Freier

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