Clarkesworld 133

Clarkesworld 133, Titelbild, Rezension
Neil Clarke (Hrsg.)

Herausgeber Neil Clarke berichtet über den Jahrestag seines Herzinfarktes und vor allem den inzwischen medizinischen Fortschritten, während sekundärliterarisch die beiden Tschechen

Julia Novakova und Tomas Patrasek sich in einer Gegenüberstellung von optimistischen und pessimistischen Argumenten mit der Besiedelung des Alls im Allgemeinen und den Fortschritten der Raumfahrt im Besonderen auseinandersetzen. Ein interessant konzipiertes kurzweilig zu lesendes Essay.

 Chris Urie interviewt Elizabeth Bear zu ihrer neuen Fantasy Trilogie, wobei es nicht das einzige Gespräch zwischen den Beiden in „Clarkesworld“ bislang gewesen ist. Die Fragen sind ein wenig zu Objekt bezogen und die Antworten eher kurz und knapp.

 In „Grains of Salt, Lumps of Gold“ geht es um die Probleme von Autoren hinsichtlich nicht nur der Veröffentlichung ihrer Beiträge, sondern auch der Konzipierung eines entsprechenden Marketingkonzepts inklusiv der literarischen Umsetzung der angebotenen Werke. Diese Kolumne hat sich seit den letzten Ausgaben konsequent und sehr differenziert zu einem interessanten Sprachrohr von Autoren entwickelt, das direkt die Leser ohne Umschweife mit der tatsächlichen Situation der durchschnittlich publizierenden und dadurch auch verdienenden phantastischen Autoren bekannt macht.

 Die beiden umfangreichen Nachdrucke dieser Ausgabe könnten auf der einen Seite nicht unterschiedlicher sein, während sie auf der anderen Seite auch irgendwie/ irgendwo Liebesgeschichten sind. Dabei sticht „Red Lights and Rain“ von Gareth L. Powell als “Terminator” Inkarantion mit einem aus der Zukunft in die Gegenwart verlagerten Krieges, den künstlich erzeugte Vampire als fünfte Kolonne führen heraus. Der Ton ist Cyberpunk mit seiner Mischung aus Retronostalgie und futuristischen Auseinandersetzungen. Der Hintergrund ist extrem verdichtet, die Informationen eher rudimentär und vor allem subjektiv. Erstaunlich ist, dass mit wenigen Zügen diese kantigen Protagonisten lebendig werden und sie wie fliegende Hollänger von einer Zeitzone zur nächsten in diesem futuristischen Krieg eilen, um im Grunde nur Pyrrhussiege zu erringen.

 Nisi Shawls „Shiomah´s Land“ ist die umfangreiche Liebesgeschichte der beiden Storys. Während in Powells Werk möglicherweise die Liebe erst stattfinden wird, obwohl die Ergebnisse in der Gegenwart „sichtbar“ sind, handelt es sich um bei Nisi Shawls Epos um eine ungewöhnliche Liebe zwischen einer jungen Frau und einer Außerirdischen/ genetisch erzeugten Göttin in einer Welt, die auf der einen Seite archaisch erscheint, auf der anderen Seite aber durch Raumschiffe im Orbit, eine überlegene wie fremdartige Zivilisation und schließlich der Versklavung der Menschheit dominiert wird. Es ist eine dramaturgisch durch die Ich- Erzählerperspektive sich nach dem spektakulären Selbstmord der Mutter langsam entwickelte Geschichte, die vor allem von den Stimmungen und zwischenmenschlichen Strömungen lebt, anstatt sich über die Actionelemente oder gar epochale Ereignisse zu definieren. „Shiomah´s Land“ verlangt eine gewisse Geduld vom Leser, die sich aufgrund der Auseinandersetzung mit fundamentalen Fragen bezahlt macht. Stilistisch deutlich zurückhaltender als Powells kürzere Story geschrieben wachsen die Figuren mit ihren unmöglichen Aufgaben, wobei die beiden Texte ein Gesamtbild verweigern und durchaus in Romanform auch gut unterhalten hätten.     

 Jack Skillingsteads „The Sum of Her Expections“ ist eine dieser längeren Geschichten, die sich vor allem mit den Herausforderungen auseinandersetzen, welche sich die vom Leben gezeichneten Protagonisten selbst gegen den Ratschlag ihrer Umwelt auferlegen, um vordergründig zu helfen – es geht um eine besondere Rettungsmission -, sich aber hintergründig selbst etwas zu beweisen und damit eine mehr oder minder reale Lücke im eigenen Leben zu schließen.

 Amrita möchte ihren künstlichen Freund von einer Welt retten, welche offiziell durch eine überlegene außerirdische Macht in einer verzerrten Form der Prime Directive gesperrt worden ist. Dabei stellt sie sich wie die Rückblicke zeigen gegen ein System, das ihr vordergründig niemals wirklich etwas gegeben hat. Der zugrunde liegende Plot inklusiv des Erreichen eines interessanten Doppelzieles ist ausgesprochen stringent und direkt entwickelt. Wie bei Skllingsteads anderen Texten ist es der Hintergrund mit seiner Mischung aus Cyber- und Steampunk, welche die längere Kurzgeschichte lesenswert macht. Seine tragischen, aber niemals gebrochenen, stetig vorwärts strebenden Figuren sind dabei die wichtigen Eckpunkte. Das die Fremden sich in Form ihres verstorbenen Vaters manifestieren ist eine der besonderen Noten dieser Geschichte. Amrita muss sich also auch gegen die Erwartungen der eigenen Familie durchsetzen.

 Es ist vor allem eine Story, die sich wie eingangs erwähnt mit Unmöglichkeiten und Herausforderungen auseinandersetzt. An deren Ende steht für die Protagonistin und damit die Leser die Erkenntnisse, das nicht alle Ziele wirklich in einer dreidimensionalen, fremdartigen und vor allem überzeugend entwickelten Atmosphäre erreichbar sind, aber auch die kleinen Schritte befriedigen können. Vor allem die vielen kleinen Exkurse und die ausführlichen, den Handlungsverlauf aber stetig unterstützenden Exkursionen machen auch „The Sum of Her Expections“ eine lesenswerte Story.

 Auf den ersten Blick könnten Griechenland und Irland nicht weiter voneinander entfernt sein. Aber die beiden Länder und die hier vorliegenden Extrapolationen in eine ferne Zukunft („The Nightingales in Platres“ von Natalia Theodoridou) oder eine nur aufgrund eines Faktes veränderte Gegenwart (“The Last Boat-Builder in Ballyvoloon“ von Finbarr O´Reilly) verbindet sehr viel mehr. Der erste Text ist die Geschichte eines Selbstopferung nach einigen Härten und schwarzen Karten, welche das Schicksal dem Protagonisten zugespielt hat. Vor allem ist es das kontinuierliche Hinterfragen der Herausforderungen, welche die Götter den Menschen selbst in einer fernen Zukunft an einem weit entfernten Punkt der Galaxis an Bord eines kleinen Raumschiffs den Menschen auferlegen. Es ist eine Glaubensprüfung, ohne das der Text ins Pathetische oder Kitschige abgleitet. Es ist gleichzeitig eine Familiensaga, in welcher ein bestimmter Gegenstand – der Leser erfährt es erst am Ende – von einer Generation zur nächsten selbst unter den widrigsten Umständen weiter gegeben worden ist. In vielen Punkten bleibt die Autorin an der Oberfläche und durch die Komprimierung des Textes wirkt einiges eher konstruiert als aus sich selbst heraus entwickelt. Zurück bleibt aber eine interessante Variation klassischer Hard Science Fiction Themen vor einem erkennbaren europäischen Hintergrund. Eine Art griechische Tragödie, ins All transportiert, aber positiv in Punkto Humanität nicht extrapoliert.

 Zu den stärksten Geschichten gehört ohne Frage Finnbar O´Reillys irische Saga. Der Titel „The Last Boat- Builder in Ballyvoloon” gehört dem eindrucksvollen, ausdrucksstarken melancholischen, so irischen Schlussbild, in dem die Willensstärke der Insulaner gegen die Unbilden der in diesem Fall selbst geschaffenen Herausforderungen gestellt wird. Die Idee ist simpel. Um die Meere zu reinigen, haben die Menschen mittels einer genetischen Züchtung  Meerestiere gezüchtet, welche eigentlich den Plastikmüll der überbevölkerten, ökologisch gekippten Menschheit aus den Meeren ziehen und diese wieder als Nahrungsquellen erschließen soll. Wie es sich für derartige Manipulationen in der Nahrungskette gehört, wirken die Züchtungen aber zu effektiv und beginnen, aus den Fischen und später Menschen im Meer oder auf dem Meer die Gifte mit tödlichen Folgen herausziehen. Die Menschheit kann der Plage, die sie zur Bekämpfung der Umweltverschmutzung gezüchtet haben, natürlich nicht mehr Heer werden.

Der Autor verbindet nicht selten zwischen den immer beunruhigender werdenden Nachrichten die seltsame abenteuerliche Stimmung der Iren, ihren Kampf gegen die Herausforderungen der Natur mit einer melancholischen Stimmung, die Stanley Kramer in seinem Film „On the Beach“ so herrlich provokant und nachdenklich stimmend auch erzeugt hat. Die Wissenschaft wird nicht verteufelt, es wird nur aufgezeigt, dass die Strukturen viel komplexer sind als es die Menschen anfänglich angenommen haben. Über die dreidimensionalen und überzeugenden Charaktere kommend präsentiert sich diese atmosphärisch ungewöhnlich dichte, so typisch irische Geschichte als einer der Höhepunkte dieser „Clarkesworld“ Ausgabe, die über viele interessante wie nachdenklich stimmende Texte  verfügt.  

 Die längste der neuen Geschichten stammt von Genevieve Valentine. „Intro to Prom“. Vier junge Menschen sind unter Wasser in einem Dom gefangen. Hilfe können sie nicht erwarten und die Hülle droht zusammenzustürzen. Die Risse werden immer dicker. Die Autorin entwickelt die vier jugendlichen Figuren ausgesprochen dreidimensional. Jeder der Protagonisten versucht auf eine andere Art und Weise mit der Situation fertig zu werden. Obwohl sie rettungslos verloren sind und vor allem die Autorin keine „Deus Ex Machina“ Rettung anbietet, beschreibt sie deren „Überlebensmethoden“ beginnend mit verschiedenen Rollenspielen, in deren Mittelpunkt der Abschlussball der High School steht, ohne Pathos oder Kitsch.

Die vier Figuren besitzen die notwendigen Ecken und Kanten. Hinzu kommt, dass die Extremsituation ausgesprochen gut ausgespielt wird und der Leser an jeder Stelle mit den Jugendlichen mitleiden kann. Sie verzichtet auf eine genaue zeitliche Einordnung. Diese Art der Desorientierung nicht nur der Gefangenen, sondern auch der Leser schließt eine sehr gut geschriebene längere Kurzgeschichte zufrieden stellend ab.  

 Aus China stammt „The Psychology Game“ von Xia Jin. Es ist weniger eine klassische Geschichte, sondern die Beschreibungen von Sitzungen zwischen Mensch und Therapeuten. Dabei wissen die Patienten nicht, ob ihr Zhörer wirklich ein  Mensch oder eine Maschine ist. In dieser Zivilisation hat es sich zu einer Art Spiel entwickelt, mittels eines Zufallsprinzips den Arzt zu ermitteln. Im Umkehrschluss versucht die Autorin die Idee zu hinterfragen, ob die künstlichen Intelligenzen nicht zu weit vorangeschritten und die Menschen übernehmen können. Sie endet ihren kurzweilig zu lesenden, aber als Ganzes auch fragmentarisch erscheinenden Text mit der berechtigten Frage, dass die Maschinen die Frage, was „human“ ist, nicht beantworten können. Dabei bleibt das Gegenargument offen, ob die Menschen diese These/ Frage überhaupt zufrieden stellend beantworten können. Viele Gedankenansätze bilden die Grundlage dieser als reine erzähltechnisch entwickelt Geschichte nicht gänzlich befriedigenden Story.   

 Die Oktober 2017 Ausgabe von „Clarkesworld“ verfügt über eine Reihe von ausgezeichneten neuen Texten, die unterschiedliche Themen vor allem auf der emotionalen Ebene sehr zufrieden stellend abhandeln. Hinzu kommen zwei seltene, interessante, wenn auch dieses Mal – ungewöhnlich für den 2017er Jahrgang – schwächer als die originellen Geschichten Nachdrucke. Zusammengefasst ist die „Halloween“ Nummer eine der besten Ausgaben „Clarkesworld“ in diesem Jahr.

 

www.clarkesworldmag.com

112 Seiten E Book