Im Original heißt David Gerrolds Roman „When HARLIE Was One“ und es trifft das Thema dieses Buches wahrscheinlich mehr als der ein wenig zu dominierende deutsche Titel. David Gerrold hat sein Buch aus verschiedenen vorher publizierten Kurzgeschichten zusammengesetzt, ein Markenzeichen dieses Autoren. Das Buch ist 1972 erschienen, ein Jahr später ist es sowohl für den NEBULA als auch den HUGO Award nominiert worden. 1988 veröffentlichte David Gerrold eine 2.0 Version des Buches, wobei die grundlegende Handlung erhalten geblieben ist und der Autor sich vor allem auf eine Modernisierung der Computersprache konzentrierte.
Aus heutiger Sicht ist „Ich bin Harlie“ immer noch eine der frühen, aber nicht eine der frühesten Geschichten, die sich mit selbst lernender künstlicher Intelligenz auseinandersetzen. Zu den ersten Romanen gehört 1966 D.F. Jones „Colossus“, das Buch ist nicht nur verfilmt worden, sondern Auftakt einer Trilogie. Am Bekanntesten dürfe HAL aus dem Film „2001“ sein. Dean Koontz hat zwei Jahre später mit „The Demon Seed“ ebenfalls die gleiche Richtung wie HAL angesteuert, während Robert A. Heinlein quasi als Nebenprodukt seines empfehlenswerten Buches „Der Mond ist eine herbe Geliebte“ die Idee eines Computer ins Spiel brachte, der zum Leben erwacht, wenn seine Komplexität einen bestimmten Punkt überschritten hat. David Gerrold folgt dieser Idee im abschließenden Epilog, in dem der Autor zwischen HARLIE und seiner Schöpfung „GOD“ unterscheidet. GOD ist für HARLIE das Instrument, um im Grunde alle zukünftigen Probleme der Menschheit zu analysieren und als ironische Wendung rechtzeitig dagegen zu steuern. In der Pointe steckt allerdings viel Weisheit, in dem David Gerrold diesen Schritt nicht als totalitäre Herrschaft des künstlichen Intelligenz über die Menschheit skizziert, sondern als eine Art Pyrrhussieg, denn die Komplexität der einzelnen Herausforderungen könnte für HARLIE nicht unbedingt zu viel sein, die angesprochenen Probleme könnten sich in der Zwischenzeit auf gänzlich andere Arten gelöst haben.
Diese These unterscheidet den kurzweilig zu lesenden, aber auch nicht immer zufrieden stellenden Roman von den Arbeiten anderer Autoren zu diesem Thema. Während die meisten Schriftsteller von einer Herrschaft der Maschinen ausgehen, sieht David Gerrold die Herausforderungen ausgesprochen pragmatisch. Eine Idee, die in dieser Form innerhalb des Genres nicht wieder aufgenommen worden ist. Aber HARLIE hat immer wieder kleinere direkte oder indirekte Auftritte in David Gerrold umfangreichen Werk. In der STAR WOLF Serie ist HARLIE routinemäßig als künstliche Intelligenz auf den terranischen Kampfraumschiffen installiert worden.
Bis dahin lernt der Leser HARLIE kennen. HARLIE steht für „Human Analog Replication, Letheric Intelligence Engine“, eine der ersten von Menschen entwickelten künstlichen Intelligenzen. Diese Forschung ist privat finanziert. Daher möchte der Konzern am Ende auch einen Profit erwirtschaften. Eine weitere Idee, die David Gerrold vielleicht ein wenig zu inkonsequent in die Handlung einbaut und für deren Problemstellung der Autor eine Idee recycelt, die viele der amerikanischen dramatischen Komödien auch gerne genommen haben.
Für HARLIE verantwortlich ist der Psychologe David Auberson, der HARLIE quasi von seiner Geburt über seine Kindheit bis zum Status des Erwachsenen begleiten soll. Ihre Dialoge und ihre Kommunikation macht einen Großteil des Buches aus. Da es sich um ein Pilotprojekt handelt, muss sich auch David Auberson erst im Klaren sein, was HARLIE ausmacht und wie die innerliche Entwicklung einer künstlichen Intelligenz, dem Menschen theoretisch grenzenlos überlegen, überhaupt verlaufen kann. David Gerrold ist ein sehr guter Dialogautor. Mit ein wenig Selbstironie und pointierten doppeldeutigen Passagen führt er quasi als Moderator den Leser durch die laufende Handlung.
Es geht nicht nur um die Frage nach Gefühlen, die Suche nach Liebe oder eine Definition des Daseins einer Maschinenintelligenz, vielmehr taucht David Gerrold um Verlaufe der Gespräche in klassische Themen wie die Angst vor dem Tod oder des Abschaltens genauso ein wie die Suche nach der Seele. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Seele menschlicher oder maschineller Art ist. Nicht selten werden die entsprechenden Themen nur angerissen, sowohl HARLIE als auch Auberson können keine abschließenden Antworten finden. Diese Ambivalenz könnte den ganzen Roman betrachtend auch frustrierend sein, aber David Gerrold sucht – wie auch bei Aubersons Beziehung – keine Reiz – oder kritische Ansatzpunkte, sondern versucht erst gegen Ende der Geschichte seine Pointe überraschend, überzeugend und pragmatisch effktiv zu setzen. Der Rest scheint ein langer Datingprozess vor allem zwischen dem Leser und der wichtigsten Figur der Geschichte – HARLIE – zu sein.
Existentiell wird die Geschichte gegen Ende. Die Manager wollen HARLIE – wie es sich für eine derartige Geschichte fast folgerichtig gehört – abschalten. HARLIE scheint dieses Schicksal zu akzeptieren. Im Gegensatz zu anderen Computern, welche direkt die Kontrolle übernehmen, agiert HARLIE deutlich subtiler. Entwicklungstechnisch hat die Maschine das im Titel implizierte Flegelalter relativ schnell übersprungen und verführt die Menschen mit ihrer größten Schwäche: Gier. David Gerrold verzichtet wie in seiner Zeitreiseklamotte „Zeitmaschinen gehen anders“ auf explizierte Gewalt. Auch findet das klassische Duell zwischen Kreatur und Berater des Schöpfers – Auberson ist erst später hinzugezogen worden – nicht statt.
In einem Punkt wirkt der Roman allerdings auch erstaunlich konservativ. David Gerrold hat in dem schon angesprochenen Buch „Zeitmaschinen gehen anders“ eine im Grunde perfekte Liebesbeziehung mit sich selbst entwickelt. Nicht umsonst heißt der Roman im Original „The Man, who folded himself“. In „Ich bin HARLIE“ verliebt sich Auberson in eine Kollegin. Annie ist intelligent, selbstständig und attraktiv, aber David Gerrold scheint außerstande zu sein, weibliche Protagonisten über die Eindimensionalität hinaus zu entwickeln. Die Sexszenen sind erstaunlich distanziert und wenig erotisch. Auch Aubersons Selbstzweifel erscheinen aufgesetzt. Dabei schlägt David Gerrold sehr gut einen anderen Bogen. HARLIE versteht viel früher, dass Auberson Annie liebt. Lange vor ihm. HARLIE versucht sich mit dem Konzept der Liebe genauso auseinanderzusetzen wie mit der Idee des Sexs. Die Gespräche sind amüsant. Vor allem, wenn HARLIE Themen wie Nonkonformität oder Homosexualität anspricht und Auberson quasi intellektuell in die Ecke treibt.
In diesen Szenen zeigt David Gerrold nachdrücklich und überzeugend, wie HARLIE sich als Mensch, aber immer als eine Art nicht dominierender Übermensch zu etablieren sucht. Ohne diese Wurzeln in Ansätzen zu kennen sucht er mit der GOD Maschine – auch dafür hat David Gerrold eine entsprechende Abkürzung, ohne das sich einer der Charaktere an der doppelten Bedeutung zu stören scheint – eine kreative Herausforderung und gleichzeitig die Perfektion der jetzt schon den Menschen überlegenen Fähigkeiten.
Selbst aus der Distanz von über vierzig Jahren mit einem explodierenden Internet sowie der Forschung an künstlichen Intelligenzen gehört es zu der Stärke des Buches, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und auf dieser Basis eine vielschichtige, intellektuell stimulierende Geschichte zu entwickeln, die unabhängig von der Schwäche auf der vor allem Charakterebene aller Nebenfiguren zeitlos mit einem Augenzwinkern und vor allem ohne den drohenden Holzhammer der Unterdrückung durch die Maschine stringent und anspruchsvoll zugleich erzählt worden ist.
- Format: Kindle Ausgabe
- Dateigröße: 876 KB
- Seitenzahl der Print-Ausgabe: 301 Seiten
- Verlag: Heyne Verlag (26. März 2018)
- Verkauf durch: Amazon Media EU S.à r.l.
- Sprache: Deutsch
- ASIN: B07BFWCWMV