Die wandernde Erde

Cixin Liu

Die Sammlung mit frühen Kurzgeschichten Cixin Lius ist ursprünglich 2008 veröffentlicht worden. Einige der längeren Texte hat der Heyne Verlag auch schon als E Books gesondert veröffentlicht. Neben einem ausführlichen Anhang finden sich Erläuterungen Nicolas Cheethams zur gegenwärtigen Entwicklung der chinesischen Science Fiction, wobei eine Anpassung an deutsche Veröffentlichungen empfehlenswert gewesen wäre. So fehlt der Hinweis, dass der Klassiker „Stadt der Katzen“ vor vielen Jahrzehnten im Suhrkamp Verlag publiziert worden ist oder Herbert W. Franke mit seiner Anthologie „SF aus China“ einen ersten Schritt auf das Reich hinter der Mauer unternommen hat.  

 "Die wandernde Erde" und "Das Mikrozeitalter" sind keine Fortsetzungen. Beide Geschichten haben den gleichen Ausgangspunkt. Die Erde wird in ca. 8000 Jahren durch ein kurzzeitiges Phänomen an der Oberfläche verbrannt, ein Überleben der Menschen ist nicht mehr in der bekannten Form möglich. In "Die wandernde Erde" entschließt sich die Menschheit, die Erde zu einem gigantischen Raumschiff umzubauen und zum nächsten Sonnensystem zu fliegen, das möglicherweise ein Überleben ermöglicht. Was sich auf den ersten Blick phantastisch anhört, wird durch die Perspektive einer Schulklasse und später durch einen der inzwischen erwachsenen Schülern sehr plastisch beschrieben. Es irritiert, wenn von einer Bremsphase geschrieben wird, obwohl die Erde weit von der Ankunft im neuen System entfernt ist. Damit meint der Autor die Beendigung der Sonnenumläufe und das Eintreten in eine neue Phase, Kurs auf den Jupiter und schließen das Verlassen des Sonnensystems. In "Das Mikrozeitalter" kehrt der letzte "Mensch" einer der ausgesandten bemannten Sonden ins Sonnensystem zurück. Die Botschafter haben keine bewohnbaren Planeten in unmittelbarerer Nähe des Sonnensystems gefunden.

 Dass es sich um eine Variation handelt, erkennt der Leser an der Stelle, an welcher der Kundschafter mit seinem Raumschiff wieder in den Erdorbit einschwenkt. Dieses Mal haben die Menschen eine andere Lösung für die globale Herausforderung gefunden. Sie haben sich verkleinern lassen. Deutlich verkleinern lassen, so dass mehr als inzwischen 18 Milliarden Menschen auf der Erde leben können, nachdem sie die Zeit der Sonneneruption und den ökologischen Folgen unter der Erde verbracht haben. Diese Lösung erscheint plausibler und Cixin Liu entwickelt aus dem Plot ein positives, fast optimistisches, aber auch ein wenig kindliches "Gulliver" Szenario, da die Minimenschen anscheinend zumindest einen Teil ihrer Ernsthaftigkeit verloren haben. "Die wandernde Erde" endet tragischer. Ohne zu viel zu verraten impliziert der Autor einen Aufstand gegen die Mächtigen, die sich ihrem Schicksal beugen. Aber der Staatsrat ist nicht böse und politische Kritik am chinesischen System darf trotz der verschiedenen Verweise auf Jahrespläne und eine Oligarchie von oben gar nicht erst aufkommen. Die kleine Gruppe hat das Überleben der Menschen im Sinn und agiert nicht nur so, sie haben am Ende den Überlebenden eine kleine Chance geschenkt, irgendwo dort draußen zu überleben, während die Mikromenschen kindlich den Botschafter aufnehmen. Dieser ist sich seiner Verantwortung den kleinen Wesen gegenüber bewusst und opfert das eigene Wohlergehen für eine friedliche Zukunft. In beiden Storys sind Konflikte nicht ausgeschlossen. Sie finden auf der wandernden Erde genauso statt wie zwischen Makro- und Mikromenschen bzw. unter ihnen selbst. Während sich in "Die wandernde Erde" der Opfergang als Trugschluss erweist und im Grunde deutlich macht, wie naiv und leichtgläubig die Massen sind, ist es in "Das Mikrozeitalter" das Individuum alleine, das seine Bedeutung auf der einen Seite für die anderen Menschen erkennt, auf der anderen Seite fatalistisch einen Schritt zurücktritt und positiv das opfert, was in der anderen Story einfach weggeschmissen worden ist.

Beide Szenarien sind phantastisch und erinnern an die Geschichten, die Olaf Stapledon vor vielen Jahren, aber George Zebrowski auch in "Makroleben" und der Fortsetzung "A Cave of Stars" entwickelt hat. Dem menschlichen Geist in treuem Fortschrittsglauben sind keine Grenzen gesetzt und das Überleben der Spezis liegt weniger in den Händen der Politiker als den Forschern und Wissenschaftlern, welche die Barrieren immer weiter nach außen treiben. Wie bei Olaf Stapledon konzentriert sich Cixin Liu auf einzelne Personen als Mittler eines fast kosmopolitischen Szenarios, erzählt aber ansatzlos über Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte oder Jahrtausende. Viele Informationen werden derartig komprimiert präsentiert, dass sie fast unübersichtlich erscheinen. Aber in beiden Texten hat der Autor der fast als Klischee zu betrachtenden Idee der globalen Katastrophe neue interessante, diskussionswürdige Impulse verliehen.  

 „Gipfelstürmer“ ist eine überarbeitete Fassung einer für Jugendliche geschriebenen Kurzgeschichte. Sie wirkt in Bezug auf die menschlichen Protagonisten ein wenig zu stark belehrend, während die Außerirdischen ein faszinierendes Volk sind.  Feng Fan liebt die Berge, auch wenn er bei einer Expedition sich zwischen dem eigenen Leben und dem seiner am Seil hängenden Kameraden entscheiden musste. Auf See begegnet er einem gigantischen außerirdischen Raumschiff, das durch die Manipulation der Atmosphäre gigantische Berge aus gefrorenem Wasser erzeugt. Eine Herausforderung für den Kletterfanatiker. Am Gipfel kommt es zu einer Begegnung mit den exotischen Lebewesen, die basierend auf verschiedenen, ausführlich beschriebenen naturwissenschaftlichen Theorien ihr fremdartiges Leben und ihre hart umkämpfte Geschichte vor dem staunenden Feng Fan präsentieren. So faszinierend diese Passagen auch nicht, Cixin Liu greift immer wieder und vor allem angesichts der hier zusammengefassten Kurzgeschichten klar erkennbar auf diese Zeitrafferpassagen zurück, in denen er viele Ideen leider ein wenig distanziert und wie angesprochen auch ein wenig belehrend präsentiert. Nicht selten wünscht man sich, der Autor würde sich mit einem geborenen Erzähler wie Ken Liu zusammentun, um seine grandiosen Ideen in emotionalere Kleider zu packen und so besser zu unterhalten als nur kontinuierlich den Intellekt seiner Leser zu stimulieren.  

Auch „Das Ende der Kreidezeit“ wirkt zu Beginn wie für ein jugendliches Publikum  geschrieben. In der Kreidezeit helfen Ameisen den Dinosauriern. In der Gegenwart dieser Parallelwelt herrschen die Dinosaurier weiterhin über die Erde, unterstützt von den Ameisen. Beide haben sich in ihren Nischen eine Zivilisation aufgebaut, die sich perfekt ergänzt. Allerdings herrscht kalter Krieg zwischen zwei Dinosaurierkönigreichen, was die Ameisen nicht unbedingt zulassen wollen. Sie ahnen nicht, dass ihr lange geplanter Aufstand schließlich die Wurzeln einer Katastrophe beinhaltet. Der Stoff beginnt im Laufe der Handlung mehr und mehr zu fesseln. Die Aktionen und Reaktionen sind klar nachvollziehbar, dazu agieren sowohl die Saurier als auch die Ameisen schließlich zu „menschlich“ im Rahmen ihrer jeweiligen Zivilisationen. Das Ende ist dunkel und zeigt, dass insbesondere die gegenseitiger Paranoia ein kleiner Funke das Ende der Kreidezeit und damit auch folgerichtig das Ende der Saurier auslösen kann.

„Weltenzerstörer“ nimmt nur bedingt einige Ideen aus „Das Ende der Kreidezeit“ wieder auf. Ameisen spielen leider bis auf eine kleine Szene keine Rolle. Dinosaurier finden sich in Gestalt des außerirdischen Botschafters Beißer wieder und das außerirdische allgegenwärtige Mädchen als letzte Überlebende ihrer Zivilisation erinnert unfreiwillig ein wenig an mystische weibliche Gestalten aus den japanischen „Godzilla“ Filmen vor allem der siebziger Jahre. Der Weltenzerstörer ist eine interessante Erfindung, zumal dieses gigantische Raumschiff auf dem Weg durchs All sich eher als ein ambivalentes Werkzeug erweist, das entgegen zum Beispiel der berühmten Raumschiff Enterprise Folge von Norman Spinrad Welten nicht zerstört, sondern sie umformt. Neben einem ein wenig pathetischen Opfergang präsentiert der Autor eine Reihe von Ideen, die unvollendet erscheinen. So erweisen sich die Abkömmlinge als Menschenfresser, die gerne jegliche Art von Spezis aufnehmen, züchten und dann mit Genuss verspeisen. Auch die finale Wandlung, das Fatalistische wirkt angesichts des vorhandenen Raums sehr gedrängt, so dass dieser Geschichte ein wenig die Faszination anderer durchaus noch mehr epochaler Texte fehlt. 

 Zu den besten Geschichten der Sammlung gehört „Die Sonne Chinas“. Gigantische Spiegel sollen China jederzeit Sonnenlicht bringen. Nur verschmutzen diese Spiegel. Ein Fensterputzer kommt auf die Idee, dass er sie mit seinen Spezialisten reinigen könnte.  Daraus wird  eine Lebensaufgabe. Als am Ende der Staat die Sonne Chinas stilllegen möchte, hat wieder der Fensterputzer die Idee, das technologische Fanal zu einem „Signal“ umzufunktionieren. Geradlinig geschrieben mit der typischen Idee eines sozialen Aufstiegs aus der Armut über die unterbezahlte und gefährliche Arbeit als Fensterputzer bis schließlich zu den Sternen besticht die Story durch eine interessante Mischung aus technologisch nachvollziehbarer Extrapolation, einem deutlich stärkeren Gefühl für das erzählerische Moment und überzeugende Protagonisten.     

Der Versuch einer selbstironische heiteren Geschichte ist „Fluch 5.0“ Dabei spielt nicht nur der Autor inzwischen mittel- und obdachlos wegen eines grandiosen Epos, das eine Anspielung auf seine bekannte Trilogie ist, nicht nur eine wichtige Rolle, er baut einen Kollegen aus dem seichteren Genre der Fantasy mit ein. Der Fluch ist aber eine Art roter Faden.  Ursprünglich entwickelt, um sich an einem jungen Mann zu retten, der die Computerspezialistin verlassen hat, beginnt er sich durch Menschenhand zu verändern. Natürlich wird er mit jeder Variante immer schlimmer, immer bösartiger, bis am Ende die Technik siegt und der Mensch verliert. Auch wenn der grundlegende Plot im Vorwege zu erkennen ist, überzeugt die Geschichte durch eine warmherzige selbstironische Beschreibung des Autoren und einige mit einem Augenzwinkern eingebaute Hinweise auf die in diesem Punkt absolute Verlässlichkeit der Technik.

Es empfiehlt sich, die letzte Geschichte der Sammlung „Mit ihren Augen“ unmittelbar vor „Durch die Erde zum Mond“ – eine absichtliche Anspielung auf Jules Vernes berühmten Roman – zu lesen. Beide Handlungen spielen im Grunde parallel, wobei das Angesichts der mehreren Jahrhunderte in „Durch die Erde zum Mond“ deutlich leichter ist, aber die intimen Details werden in der faszinierenden Story „Mit ihren Augen“ erläutert. Eine Brille macht es möglich, dass Menschen im Urlaub ihre Eindrücke an die Arbeiter im Sonnensystem ausstrahlen oder wie in diesem Fall an die Kapitänin eines in die Erde eindringenden Tieftauchboots, das dort die Möglichkeit untersuchen soll, wichtige Resourcen zu bergen. Eine Katastrophe bindet das Erdraumschiff Nummer sechs mit der Kommandantin als einzige Überlebende unter der Erde, so dass nur die Eindrücke über die Brille sie noch mit der Außenwelt verbunden. Ein wenig Theatralik, ein wenig heroischer Pathos, aber insgesamt eine sehr schöne Story mit einer kompakten Handlung.

Die zum Tode in der Isolation in der Nähe des Erdmittelpunktes verurteilte Kommandantin ist die Enkelin des Protagonisten aus „Durch die Erde zum Mond“.  Allerdings ist sie zu Beginn der Geschichte noch gar nicht geboren, ihr Vater selbst ist acht Jahre alt. Die Erde rüstet ab und der Ingenieur hat eine Legierung, eine Art Zuckerguss entwickelt, mit welcher China überdurchschnittlich viele Atombomben unter der Erde vernichten kann. Allerdings in der nicht weiter extrapolierten Theorie mit vielen fatalen Folgen in Form eines möglichen China Syndroms. Nur ist der Ingenieur sterbenskrank und lässt sich einfrieren. Mehr als siebzig Jahre später aufgewacht ist sein inzwischen verstorbener Sohn ein geächteter Mann, der Vater soll auch als Verursacher der Katastrophe sterben. Es stellt sich heraus, dass der Sohn für die Erschließung neuer Rohstoffräume einen gigantischen Tunnel von China in der Antarktis hat bohren lassen, ausgekleidet mit dem vom Vater entwickelten Superstoff.  Cixin Liu extrapoliert die Katastrophen während der Bauphase genauso wie die Folgen des Zusammenbruchs der Unternehmen. Diese kapitalistische Kritik wirkt in einem modernen Reich der Mitte, das inzwischen auch Konkurse und Pleiten kennt, ein wenig zu aufgesetzt. Am Ende wird dieses gigantische Bauwerk doch positiv genutzt, um der ausgebeuteten Erde eine neue Zukunft zu schenken.

Es ist eine Ideengeschichte, die wie fast alle Texte des Autoren durch das persönliche Schicksal eines sehr kleinen, nicht selten familiär verbundenen Kreises zusammengehalten wird.  Das durch den Tunnel fallen hat etwas fast Surrealistisches, es nimmt einen großen Teil der Geschichte ein, damit dem schockierten Protagonisten stellvertretend für die Leser vom Schicksal der Verwandten erzählt werden kann.  Ob die Ausgangslage angesichts der zu transportierenden Massen an Rohstoffen, Werkstoffen und vor allem Menschen realistisch ist, steht nicht zur Debatte. Vielmehr handelt es sich um ein modernes technokratisches Märchen, das den Fortschrittsglauben Chinas nicht demontiert, sondern auf sehr vielen Umwegen in eine grünere Richtung lenkt. In Kombination mit dem Begleittext „Mit ihren Augen“ ergibt sich aber ein lesenswertes Szenario, das durchaus in der Tradition von Kellermanns „Der Tunnel“ oder Clarkes „Fahrstuhl zu den Sternen“ auch eine Romanfassung verdient hätte.    

„Um Götter muss man sich kümmern“ und “Die Versorgung der Menschheit“ bilden ebenfalls einen Kurzgeschichtenzyklus. Die Götter treten in der ersten Geschichte direkt auf, in der zweiten Story wird ihre Rückkehr zur Erde nicht unbedingt sehnsüchtig, sondern eher ängstlich erwartet. Die Götter sind Außerirdische, inzwischen Greise, die in ihrem Leben insgesamt sechs Variationen der Erde erschaffen haben. Ihre Rohstoffe sind verbraucht. Sie wollen auf der Erde ihren Ruhestand verbringen. Da es sich um insgesamt zwei Milliarden Götter handelt, sorgt das schon für Unfrieden. Cixin Liu beschreibt neben dem absolutistischen Kapitalismus der der Aufteilung des Reichtums zwischen einer Personen und dem vor die Tür setzen der restlichen Bevölkerung auf einer der Erden den Generationenkonflikt zwischen jung und alt. Die Menschen werden bezahlt, einen Gott bei sich aufzunehmen. Aber wieviel muss man sich von diesen Greisen gefallen lassen? Es ist die bessere der beiden Geschichte. In „Die Versorgung der Menschheit“ geht es um die nackte Existenz. Die Reichen verschwenden weiterhin die Rohstoffe, die mittlere Schicht lebt von ihrem Abfall und die ganz Armen versuchen aus dem doppelt recycelten Stoff noch Nahrung zu gewinnen. Es ist die Geschichte eines professionellen Killers und eines exzentrischen Auftrags immer im Angesichts der Rückkehr der alten Götter aus dem All. Während die Kapitalismuskritik und der Lobgesang auf eine Art Semikommunismus in der zweiten Story viel zu dick und dadurch auch unglaubwürdig aufgetragen worden ist, überzeugt „Um Götter muss man sich kümmern“ auch durch den ironischen Ton und indirekt auch einige Anspielungen auf andere First Contact Geschichten mehr.

„Die wandernde Erde“ gibt einen breiten, auch umfassenden Einblick in Cixin Lius Werk. Wer sich nicht gleich an „Die drei Sonnen“ Trilogie herantraut, wird im vorliegenden umfangreichen Band gut unterhalten. Wer sich zusätzlich intensiver mit der neuen chinesischen Science Fiction auseinandersetzen möchte, der sollte auf den ebenfalls erwähnten Storyband „Invisible Plants“ von Ken Liu zusammengestellt zurückgreifen, aus dem auch eine Geschichte von Cixin Liu hier nachgedruckt worden ist.   

 

  • Broschiert: 688 Seiten
  • Verlag: Heyne Verlag; Auflage: Deutsche Erstausgabe (14. Januar 2019)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3453319249
  • ISBN-13: 978-3453319240
  • Originaltitel: ¿¿¿¿ (Liulang diqiu)