Die Schnecke am Hang

Arkadi und Boris Strugatzki

Der Heyne Verlag legt „Die Schnecke am Hang“ neu als Taschenbuch auf. Das Buch ist schon im Rahmen der Werksausgabe der beiden Brüder als Sammelband veröffentlicht worden. Wie „Die hässlichen Schwäne“ in „Das lahme Schicksal“ aufgegangen ist, besteht der Roman aus zwei Teilen, die erst einige Jahre nach ihrer Entstehung gemeinsam veröffentlicht worden sind.  Das Buch erschien teilweise 1966 in der damaligen UdSSR. Der Abschnitt über die VERWALTUNG ist nur in einem Magazin in der Sowjetunion veröffentlich worden, das anschließend relativ schnell aus den Regalen verschwunden ist. Das Buch wurde komplett erst 1972 im Ausland  gedruckt mit einer deutschen Erstveröffentlichung im Suhrkamp Verlag 1978.

Die Zugänglichkeit des Stoffes wird vielleicht auch durch die Unentschlossenheit der Autoren symbolisiert, dieses Übergangswerk zwischen ihrer ersten literarischen Phase mit abenteuerlich utopischen Stoffen nicht selten um ihren Protagonisten Gorbowski gänzlich abzustreifen und in den Bereich der politischen wie systemkritischen Satire zu wechseln.  Den Originalstoff kann der Interessierte im vierten Band der Werksausgabe im Heyne Verlag nachlesen. Es lohnt sich ein Vergleich, wobei empfehlenswert ist, erst mit dem ursprünglichen Stoff anzufangen, bevor man sich auf die klaustrophobische Satire einlässt.  

Die mit „Kandid“ überschriebenen Kapitel erschienen schon 1966; die mit Perez überschriebenen Abschnitte zwei Jahre später. Sie sind lose mit der Idee eines gigantischen Waldes verbunden.  Über den Hintergrund des Waldes erfährt der Leser so gut wie gar nichts. Befindet er sich mit seinen seltsamen Zonen auf einem anderen Planeten oder auf der Erde in der fernen Zukunft. Warum ist die größte menschliche Siedlung so isoliert von ihm. Aus heutiger Sicht wirkt die mächtige Erscheinung wie ein Vorgriff auf die surrealistischen Exzesse eines Jeff van der Meer mit seiner „Southern Comfort“ Trilogie, in dem ja auch eine gigantische fremdartige Dschungelzone den Existenzraum der Menschen bedroht und vor allem mit seinem vielschichtigen sich stetig ändernden Gesicht zu einer Falle und gleichzeitig zu einer Verführung der Expeditionen wird, welche die Stadt ausschickt.

Die meisten Informationen erhält der Leser dank Kandid, der als ehemaliger Mitarbeiter der VERWALTUNG vor Jahren mit seinem Hubschrauber über eben diesem WALD abgestürzt ist,. Eine kleine primitive Dorfgemeinschaft hat ihn aufgenommen. Sie leben von den kargen Erträgen des Bodens und kämpfen gegen verschiedene Gefahren aus der Region des Waldes. Da gibt es die normalen Räuberbanden, die vor allem Lebensmittel stehlen. Schwieriger wird es mit den Leichenmenschen, die Frauen und Kinder entführen. Die beiden Strugatzkis zeichnen hier ein eher rudimentäres Bild. Sie nutzen Stimmungen aus, gehen aber nicht auf den Hintergrund dieser einzelnen Erscheinungen ein. Kandid möchte gerne zur Biostation zurückkehren, welche die VERWALTUNG im Wald direkt eingerichtet hat. Er sieht sie als STADT an.

Anscheinend hat das Leben im Wald Spuren hinterlassen, die an Wahnsinn grenzen. Kandid sieht im Grunde zu viel vom Wald und findet keinen Weg hinaus. Dabei stellt sich dem Leser auch unwillkürlich die Frage, ob nicht seine Mitmenschen mit ihren körperlichen Deformationen ein beträchtliches Interesse haben, Kandid in ihren spärlichen Reihen zu halten. Eine Rückkehr in die Zivilisation könnte ihren anarchistischen Status gefährden, da sie ärmlich aber frei leben können. Kandid dagegen versucht mittels Kompromissen einen Weg aus dem Wald zu finden, wobei er sich inzwischen auch deutlich von seinen Mitmenschen in der Biostation oder VERWALTUNG entfernt hat.

Natürlich ließe sich in diese Ebene hineininterpretieren, dass Kandid für die Bürger steht, welche das sie erdrückende Staatssystem weder überschauen noch verstehen können,. Sie leben quasi in Armut und werden hin und her getrieben. Aber sowohl die Räuber als auch die Leichenmenschen machen in dieser Hinsicht keinen Sinn. Es ist vielleicht blanke Ironie, dass im Wald zum Beispiel auch eine Gruppe von Frauen lebt, die ohne Männer nicht nur auskommt, sondern durch ihre perfektionierte Symbiose mit dem Wald im Grunde am „reichsten“ lebt. 

Die zweite parallellaufende Handlungsabschnitt ist mit „Verwaltung“  überschrieben. Der Linguist Pfeffer – in einigen Ausgaben heißt er Perez – wird dem Leser auf eine einzigartige Art und Weise vorgestellt. Er sitzt auf einer Klippe oberhalb des Waldes. Vor einem Tag hat er einen Schlappen verloren, der die Klippe hinuntergefallen ist. Im Gegensatz zu Kandid hat er einen mächtigeren Überblick über den Wald, da Kandid vor lauter Bäumen nicht mehr das Große überschauen kann. Nur von dieser Klippe kann er auf den Wald schauen, für dessen Wohlergehen die VERWALTUNG und damit auch Pfeffer selbst verantwortlich ist. In der VERWALTUNG gibt es keine Fenster, die in Waldrichtung zeigen und vor allem haben die Angestellten der VERWALTUNG begonnen, eine riesige Mauer zu errichten, mit der ein letzter Blick auf dieses fast surrealistisch erscheinenden Naturphänomen verwehrt werden soll.

Pfeffer steckt zwischen allen Stühlen. Er sehnt sich nach Veränderung. Auf der einen Seite möchte er gerne den Wald besuchen, das Objekt seiner Arbeit selbst sehen. Auf der anderen Seite wird ihm immer wieder in Aussicht gestellt, am nächsten Tag“, am „morgen“ mit einem Autor aufs Festland reisen und die Gegend verlassen zu dürfen.

Ansonsten arbeitet er in der VERWALTUNG, die aus unsinnigen Anweisungen, sich widersprechenden Verordnungen oder paranoiden Vorgesetzten besteht. Auf dieser Handlungsebene gibt es zwei Höhepunkte. Einmal läuft Pfeffer Aufenthaltserlaubnis um Mitternacht ab. Er muss aus dem Hotelzimmer ausziehen und auf der Straße leben. Da ihn kein Auto abholt, wird er zu einer Persona Non Grata. Am Ende fügt er sich perfekt in die VERWALTUNG ein. Diese überraschende Wendung erinnert ein wenig an die surrealistisch angehauchte Science Fiction Fernsehserie „The Prisoner“. Es ist unwahrscheinlich, dass die Gebrüder Strugatzki diese siebzehn Folgen gesehen haben, aber wie „The Prisoner“ aus der Stadt zu entkommen sucht, verzweifelt Pfeffer an seiner Umgebung, sucht auch die Freiheit und wird am Ende mit der bitteren Wahrheit konfrontiert, dass er vielleicht nur vor sich selbst geflohen ist. Die Ähnlichkeiten sind zu stark, um nur ein Zufall zu sein.   

Beide Handlungsebenen werden vor allem durch die Idee des allgegenwärtigen, bedrohlichen, aber auch das Überleben sichernden Waldes verbunden.  Natürlich lässt sich der Wald auf die katastrophalen innenpolitischen wie wirtschaftlichen Verhältnisse in der UdSSR vor allem in den sechziger bis frühen achtziger Jahren übertragen. Eine Verwaltung, welche die Nähe zu ihren Bürgern verloren hat und sich in absurden fünf Jahresplänen verfängt. Auf der Seite die Bürger, welche der Irrsinn der Verwaltung und die Schwierigkeiten, Alltägliches ohne Formalien zu erledigen in den Wahnsinn treibt.

Für beide Charaktere gibt es im Grunde keinen Ausweg. Pfeffer wird mehr und mehr in die VERWALTUNG einbezogen, während Kandid mit einem weiteren Versuch scheitert, die Stadt zu erreichen und von den Leichenmenschen bedroht wird.

Diese dunkle nihilistische Botschaft schließt einen Roman ab, der zwar fasziniert, aber den Leser nicht immer wirklich in seinen Bann zieht. Während die Pfeffer Handlung mit den absurden Abläufen innerhalb der VERWALTUNG sich gut und nachvollziehbar liest, prasseln auf der zweiten Handlungsebene unter anderem mit dem Alkoholkranken LKW Fahrer und seinen sexistischen Eskapaden oder dem bauernschlauen Hinker zu viele extreme Bilder aufeinander, welche zu ungeordnet, zu belehrend auf den Leser einprasseln, ihm aber nicht die Möglichkeit geben, das Geschehen im Inneren zu überdenken. Auch wirkt der Wald vor allem im direkten Vergleich zu den Zonen aus „Picknick am Wegesrand“ oder vanderMeers „Southern Comfort“ zu wenig exotisch, zu allgegenwärtig und doch eindimensional zu gleich, als das der ohne Frage anspruchsvolle, aber auch sehr bemühte Zwei-Ebenen-Roman zu den Meisterwerken der beiden Brüder gezählt werden kann.      

 

Die Schnecke am Hang

Aus dem Russischen von Hans Földeak
Originaltitel: Улитка на склоне
Originalverlag: Heyne
Taschenbuch, Broschur, 384 Seiten, 11,8 x 18,7 cm
ISBN: 978-3-453-31962-2