Im Herzen des Imperiums

Arkady Martine

Im Original heißt der Debütroman Arkady Martines “A Memory Called Empire”. Es ist wahrscheinlich der Auftaktband einer Trilogie, wobei die Autorin alle relevanten Handlungsfäden abschließt und neue Missionen nur impliziert. Hinter dem Pseudonym Arkady Martines steht die Historikerin Dr. AnnaLinden Weller, die unter anderem sich mit der Geschichte Byzanz beschäftigt hat.

 Obwohl ihr Imperium lebendig, brutal und sich ständig verändernd ist, hat der Leser das unbestimmte Gefühl, als besuche er auf Augenhöhe mit der neuen Botschafterin die Version eines futuristischen Reiches, wie sie eher die Historiker schreiben und weniger die Menschen leben würden. Die Faszination des Buches liegt in der Tatsache begründet, das die Historikerin im Grunde ihre neue Mission erst lernt, während der Leser ihre Schritte verfolgt. Über diese Gegenwartsebene hat sie mit den Erinnerungen ihres Vorgängers – es fehlen passenderweise fünfzehn Jahre – noch eine Art unzuverlässigen Erzähler gestülpt, dessen Erfahrungen entweder von dritter Seite manipuliert worden sind oder sich als absichtlich falsch herausstellen, um Schlüsselpersonen zu decken.

 Im Grunde ist der Roman wie eine Art russische Puppe. Jede Figur, die aufgeklappt wird, gibt den Blick auf eine nicht deckungsgleiche Variation frei. Der Spieler weiß aber nicht, ob sich darin noch eine weitere Puppe befindet oder das Spiel zu Ende ist und der Protagonist mit den schrecklichen Konsequenzen fertig werden muss, die andere wichtige Zeugen auf ihrer Suche nach irgendeiner Art von Wahrheit schon erlitten haben.

 Die Balance zwischen einem epochalen futuristischen „Historienroman“ und einem Kriminalroman – im Grunde sucht eine Inkarnation des Opfers seinen eigenen Mörder und bedient sich dabei einer Art Hülle -  stimmt nicht immer. Das Tempo ist vor allem zu Beginn erstaunlich hoch, wenn nicht nur die Protagonistin, sondern ihr neues Aufgabenfeld eingeführt wird. Der Kontrast zwischen ihrem bisherigen Leben auf einer beengten, aber freien Raumstation und der Schlangengrube von Herrscherwelt könnte nicht größer sein. Im mittleren Abschnitt vergisst die Autorin allerdings, das hohe tempo beizubehalten und versucht die Handlung nicht immer effektiv zu erweitern. Gegen Ende mit einigen überraschenden Wendungen, aber vor allem auch einer erstaunlich pragmatischen Auflösung führt sie souverän die einzelnen roten Fäden wieder zusammen und schließt das Buch fatalistisch ab. Es ist nur konsequent, dass die politischen Grautöne des Buches nicht weiter differenziert werden und es auch nach dem Ende der Geschichte keine Helden und Schurken gibt, sondern nur menschliche Schachfiguren in der Hand des im Kern austauschbaren und doch nicht ewigen Herrschers des Imperiums.   

 Wie es sich für die besten Arbeiten von C.J. Cherryh, Ann Leckie, aber auch Janet Morrison im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen gehört, kommt es auf die Kontraste an. Die neue Botschafterin Mahit mit einer absolut unzureichenden Vorbereitung kommt auf den ersten Blick von einer „höheren Zivilisation“ , die ausschließlich im All auf beengten Raumstationen lebt. Ihr Vorteil ist wahrscheinlich diese Bodenhaftung. Sie reist in ein gigantisch erscheinendes Reich, in welchem sich die Menschheit über die bekannte Galaxis ausgebreitet hat. Fast wie ein Klischee wirkt eine Bedrohung von jenseits der Sprungtore, welche das Imperium erschüttern könnte. Viele Facetten dieser zweiten bzw. sogar dritten Handlungsebene werden nicht ausreichend vor den Lesern ausgebreitet. Ob sie überhaupt notwendig sind, steht auf einem gänzlich anderen Blatt. Sich an den großen Imperien der Erde wie Rom orientiert etabliert die Autorin nicht nur eine gottgleiche Herrscherkaste, wobei sie fast ironisch doziert, dass die meisten Thronabfolgen nicht wie erwartet abgelaufen sind. Der Leser muss sich dieses dominierende Rom über mehreren Zyklen hinaus extrapoliert vorstellen, so dass es wie bei Isaac Asimov Aufstieg, Hochphase und der Rückfall in die Dekadenz geben kann. Im Gegensatz allerdings zu Asimovs herausragenden „Foundation“ Romanen ist es nicht möglich, mittels Psychohistorikern dem Reich eine neue Bestimmung, eine neue Aufgabe zu geben.

 Die inneren Strukturen mit ihren Kasten erinnern aber wahrscheinlich absichtlich mehr an China. Ken Liu hat in seiner „Seidenkrieger“ Trilogie den Versuch unternommen, nicht nur eine alte chinesische Saga zu erzählen, sondern den westlichen Lesern die komplexen, wenn nicht sogar komplizierten Strukturen des chinesischen Kaiserreiches näher zu bringen. Die Arroganz den primitiven Außenseitern gegenüber, zu denen Mahits Volk auch gehört, ist gepaart mit einem fast überheblichen Selbstverständnis der eigenen hierarchisch stringenten Struktur gegenüber und vor allem dem angehäuften, manchmal auch gestohlenem Wissen. Der deutsche Titel weißt eher auf diese trügerische „Unendlichkeit“ des Reiches hin, während der Originaltitel einen wichtigen Aspekt des Romans prägnant und effektiv hervorhebt.

 Erinnerungen sind trügerisch. Die Imago Technologie ermöglicht ist, von den Bewohnern der Raumstation eine Art Abbild zu erschaffen, das konserviert wird. Expertise, Wissen und schließlich auch Persönlichkeiten werden in dieser Form der relativen Unsterblichkeit von einer Generation zur Nächsten weitergegeben. Dabei verschmelzen Wirt und Imago zwar nicht zu einem gänzlichen Individuum, aber im Idealfall zu einem gut aufeinander abgestimmten Team.

 Im Imperium werden Erinnerungen vor allem in Form von Sagen und Legenden in Gedichte verpackt oder nicht selten auch gigantische romantisch verklärte Epen gestrickt weitergegeben. Während auf der Raumstation alles aus der ersten Person übertragen werden kann und diese Imagos im Grunde mehr passiv unendlich viele Leben prägen, sind die Geschichten und Gedichte auf Papier festgehalten und werden unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt zum Allgemeingut.

 Schwierig wird es, wenn eine wichtige Persönlichkeit sich seit vielen Jahren geweigert hat, seine neusten Gedanken aufzuzeichnen. Mahit muss das schmerzlich erkennen, denn das Imago ihres plötzlich „abgetretenen“ Vorgängers ist seit fünfzehn Jahren nicht aufgefrischt worden. Im Grunde könnte sie als neue Botschafterin auch nackt und hilflos zum Imperium reisen. Erschwerend kommt hinzu, dass ihr Vorgänger auf eine raffinierte Art und Weise ermordet worden ist. Das erfährt sie erst nach ihrer Ankunft. Hinzu kommt, dass das uralte Imago auch nicht komplett übertragen worden ist, so dass eine gegenseitige Kommunikation nur bedingt stattfinden kann. Vielmehr stürzen Gedankenfragmente, Erinnerungen, Belehrungen und schließlich auch wenige Augenzeugenberichte unkontrolliert auf sie ein.

 Als Außenseiterin, fast schon Barbarin muss sie den Tod ihres Vorgängers so aufklären, dass sie nicht gegen die starre Etikette verstößt und / oder nicht schlimmer wichtige Würdenträger des Imperiums bis hoch zum Imperator vor den Kopf stößt, ohne stichhaltige Beweise zu haben. Ein fast unmögliches Unterfangen, dass die Kräfte hinter den Kulissen immer wieder ihre Zeugenketten durchbrechen und ihre Glaubwürdigkeit unterminieren.

 Eine weitere Hürde ist die Imago Technologie, vielleicht der einzige Schutz der kleinen Raumstationgemeinschaft gegen das immer weiter vordringende Imperium. Mahit muss sehen, dass sie auf der einen Seite ihre schwierige Aufgabe erfüllen kann, auf der anderen Seite den Mörder findet und schließlich die eigene Heimat beschützt. Eine unmögliche Aufgabe, der sich die Autorin in unterschiedlichen Abschnitten des Romans auch sehr differenziert nähert.

 Um ihre Protagonistin nicht gänzlich zu isolieren, stellt die Autorin ihr zwei interessante Persönlichkeiten an die Seite. Verbindungsoffizier zwischen dem Imperium und ihr ist Three Seagrass, die viel mehr über ihren Vorgänger weiß als sie anfänglich zugeben möchte. Ergänzt wird das Team durch Mahits neue Geliebte Twelve Azelea. Gegen Ende des Buches fügt sich nicht alles zusammen. Der Leser hat das unbestimmte Gefühl, als habe sich Arkady Martine irgendwann im letzten Drittel des Buches zu einer Trilogie entschlossen und absichtlich einige Zusammenhänge nur oberflächlich aufgeklärt.

 Hinzu kommt, dass einzelne Handlungspassagen wie die erneute Thronfolge nicht gänzlich zufrieden stellend zusammenfallen und kritisch gesprochen vor allem auch in Kombination mit dem wie ein Brandbeschleuniger wirkenden Mord an Mahits Vorgänger konstruiert erscheinen. Angesichts der Brisanz hätte zumindest eine Front effektiver die auffälligen Spuren beseitigen können und damit Mahit schnell und effektiv ins Nichts laufen lassen.

Diese Schwächen gleicht die Autorin allerdings durch einen in mehrfacher Hinsicht vielschichtigen und vor allem exotischen, aber auch durch die irdische Geschichte latent vertrauten, ohne Frage ausbaufähigen Hintergrund mehr als aus.

 „A Memory Called Empire“ ist ein zufrieden stellender mutig aufgebauter Debütroman, der vor allem wie Ann Leckies Trilogie durch die dreidimensionale Zeichnung weiblicher Figuren vor einem futuristisch und gleichzeitig auch historischen Hintergrund besticht. Das Tempo fällt nach dem angesprochenen rasanten Auftakt im mittleren Abschnitt zu stark ab, wobei hier vielleicht weniger Hintergrund und mehr Dynamik der Handlung geholfen hätten. Aber gegen Ende mit der Implikation weiterer Abenteuer – nicht umsonst ist Mahit nicht mehr in der Lage, eine eigene Entscheidung zu treffen und hofft auf einen in mehrfacher Hinsicht erlösenden Befehl – spürt der Leser die fast süchtig machende Wehmut nach diesem auf dem Regierungsplaneten zu einem Schmelztiegel reduzierten gigantischen Reiches und möchte wie Mahit sehr viel mehr erfahren, was unter der gefährlichen Oberfläche steckt.

Im Herzen des Imperiums: Roman

  • Broschiert: 608 Seiten
  • Verlag: Heyne Verlag; Auflage: Deutsche Erstausgabe (11. November 2019)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3453319931
  • ISBN-13: 978-3453319936
  • Originaltitel: A Memory called Empire