Land unter

Dieter Rieken

„Land unter“ ist das Romandebüt des im Norden geborenen und aufgewachsenen IT PR Beraters Dieter Rieken. In den letzten Jahren hat der Autor mit einer Reihe von Kurzgeschichten auf sich aufmerksam gemacht, von denen einige in der Anthologie „Überlebensprogramm“ als BOD im Jahre 2018 erschienen sind.

Der Debütroman weist eine Reihe von Stärken, aber auch sehr viele Schwächen auf. Zu den Stärken gehören unabhängig von dem fast melodramatisch zu nennenden Finale die Charaktere. Mit Liebe zum Detail zeichnet der Autor ein überzeugendes Portrait nicht nur der Norddeutschen, sondern der Menschen, die sich aus freiem Willen dem rauen Land anvertraut haben. Die Herausforderungen genauso genießen wie die Schönheiten. Alle eher grauen „Helden“ haben gute Seiten wie auch mehr oder minder „böse“ Geheimnisse. Aber die Interaktion zwischen ihnen wie auch das Leben nicht mehr am, sondern auf dem Meer entschädigen für die Vielzahl schwacher Szenen. Das Leben auf den vor allem im Winter wie isoliert vom Rest der Welt erscheinenden kleinen Halligen hat der Autor auf Hausboote, in die Dachkammer von überschwemmten Häuser; auf einen kleinen Versorgungsfrachter oder an die Spitze eines Leuchtturms übertragen.

Dem gegenüber stehen leider sehr viele Schwächen und vor allem Rückgriffe auf Konstruktionen. Unabhängig von der Ausgangslage ist der erste Wendepunkt eine zufällige Begegnung zwischen zwei Protagonisten in einem Zug von Berlin nach Hannover. Sie sitzen in der Nähe und ihr Bewusstsein verschmilzt für einen Moment mit dem Anderen. Am Ende versucht einer der Protagonisten eine wirre halbgare Erklärung dafür zu finden, aber diese Szene ragt in mehrfacher Hinsicht negativ aus dem Buch heraus. Bis dahin hat der Autor versucht, einen technisch ökologischen Thriller zu entwickeln. Viel schlimmer ist, dass dieser Austausch beiden Seiten die Möglichkeit schenkt, relevante Informationen nicht nur  hinsichtlich des Hintergrundes der Anschläge auf die Deiche vor einigen Jahren auszutauschen, sondern auch Hinweise zu erhalten, wo sich eine lange gesuchte Person befinden könnte.

Ab diesem Moment verliert der Roman nicht unbedingt am Tempo, aber jegliche Überzeugung. Die Ausgangsprämisse ist vorher schon auf sehr brüchigem Eis gebaut worden.

Der Weltklimarat spricht im Jahre 2057 davon, dass die Meere durch ein schnelleres Abschmelzen der Polkappen in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts statt um die 2019 projektierten 60 bis 110 cm weltweit um mehr als 12 Meter gestiegen sind.  Anstatt diese Idee wirklich auszunutzen, beginnt Dieter Rieken schon vor Einsetzen der Handlung mit einer sehr brüchigen Prämisse. Der Autor hat keine Vorstellung, was ein durchgehend zwölf Meter höherer Meeresspiegel für Norddeutschland bedeuten würde. In dieser Geschwindigkeit – es handelt sich ja nur um 30 Jahre – Deichanlagen gegen das Wasser zu erbauen, würde nicht nur erhebliche Kosten verursachen, welche jetzt schon die wirtschaftliche Leistung im Grunde Europas überfordern, sondern hätte wirtschaftliche Folgen.

Hinzu kommt, dass Deich ja im Grunde nur wasserbauliche Schutzanlagen sind und das Hinterland vor Überflutungen schützen sollen. In diesem Szenario müssten also erst Schutzanlagen gegen das steigende Wasser und dann die Deiche errichtet werden. Daher macht es auch keinen Sinn, die Deiche zu sprengen. Es sei denn, man macht es während einer verheerenden Sturmflut. Dann würde das Wasser ja über die „normalen“ Schutztore gedrückt und durch die Deiche ins Hinterland eindringen. Die gegenwärtigen Deichkonstruktionen sind nicht gedacht, einen festen und kontinuierlichen Schutz gegen das Wasser zu bilden.

 

Die Deiche müssten an der Nord und Ostsee mit ihren Ablaufflächen kilometerbreit sein. Und davor ja mindestens zwölf Meter hohe Grundschutzwälle oder Wände, die kontinuierlich im Wasser stehen und dieses abhalten. Diese müssten mindestens 12 Meter hoch sein, wobei man angesichts der Gefahr von Sturmfluten eher von zusätzlichen fünfzehn bis zwanzig Metern sprechen müsste. Kein Hafen an allen Küsten wäre in dieser Form noch nutzbar. Bei Häfen direkt an der Küste gäbe es keinen Platz für Deichanlagen, die Binnenhäfen wie Hamburg oder Bremen könnten nur noch über gigantische Schleusen erreicht werden. Der Aufwand, diese Schleusen zu bauen, ist unermesslich hoch und weiterhin würde es die Transportketten unterbrechen, da die Schiffe ja nicht kontinuierlich die Häfen anlaufen könnten. Hinzu kommt, da die Prognosen anscheinend kontinuierlich vom steigenden Wasser überboten worden sind,  handelte es sich um eine Art fortlaufende Katastrophe. Die Industrie hätte in diesem Fall schon Teile ihrer Produktion aus dem gefährdeten Norden weg gebracht.

Selbst wenn der Leser diese Prämisse akzeptiert, unterminiert der Autor sie an deren Stellen, wenn er zum Beispiel in der Nähe von Verden an der Aller von gigantischen „Wänden“ spricht, welche das angestiegene Wasser aufhalten sollen, die aber auch manchmal überflutet werden. Der Druck auf diesen Wänden wäre gigantisch und mit heutigen Baumaterialien vor allem auf Strecken von mehreren hundert Kilometern gar nicht zu realisieren.

Der Ausgangspunkt der Handlung soll ein Anschlag an mehreren Stellen auf die Deiche sind. Insgesamt zwölf Sprengladungen sind platziert worden. Eine Warnung von 48 Stunden ist ausgesprochen worden. Da aber innerhalb des ersten Tages schon die Hälfte der Sprengladungen gefunden worden sind, die in die Deiche eingegraben wurden, entschlossen sich die Täter, die restlichen Ladungen zu zünden und mindestens neun Millionen Menschen zu töten. Angesichts der gigantische Deiche ist es schon erstaunlich, wie die Täter erstens ihren Sprengstoff so einfach vergraben können, dieser zweitens so effektiv ist und vor allem drittens die Schuld zwar gleich den islamistischen Terrorgruppen zugeschoben wird, sich aber niemand nachhaltig genug fragt, ob das wirklich Sinn machen kann.

Die Anschläge am 11. September und auf die Dortmunder Fußballmannschaften haben aber unterstrichen, dass man den Spuren des Geldes oder ungewöhnlicher Anlagekombinationen, die von plötzlichen und unvorhersehbaren Ereignissen profitieren, schon gut folgen kann. 

Selbst wenn der Leser diese Idee noch irgendwie akzeptiert, impliziert der Autor, dass das Wasser nicht nur eine ohne Frage richtige absolute Spur der Verwüstung hinterlässt, sondern auch mindestens fünf bis zwanzig Meter über dem bisherigen Wasserspiegel kontinuierlich steht. An einigen Stellen ragen nur die obersten Etagen eines Hochhauses aus den Flut, manchmal müssen die Protagonisten vorsichtig sein, wenn sie untergegangene normale Häuser überfahren und  einen Leuchtturm gibt es auch noch. Einen alten Leuchtturm, die meistens aber nicht so hoch wie die an der Nordseeküste teilweise gebauten Hochhäuser sind. Angesichts eines stehenden Wassers überhaupt die Idee zu vermitteln, dass hier in Norddeutschland Städte wie Hamburg wieder aufgebaut werden könnte, muss selbst einen nationalen Politiker unrealistisch erscheinen.    

Wie sich im Laufe des Romans durch die zufällige Begegnung herausstellt, handelt es sich bei den Anschlägen nicht um einen Terrorakt, sondern eine brutale Spekulation von rücksichtslosen Menschen.  Christian von Ditfurth hat in seinem Buch „Giftflut“ die gleiche Grundidee verwandt. Selbst wenn der Leser im Gegensatz zum Autoren akzeptiert, dass der Plan und die Ausgangssituation irgendwie „akzeptabel“ ist, sprechen eine Reihe von Fakten dagegen.  Derartig auffällige Bewegungen an den Aktien oder besser Derivatemärkte in einem engen Zusammenhang mit einem Terroranschlag hätten Untersuchungen nach sich gezogen. Zumal der Autor auch noch überambitioniert im Epilog deutlich macht, dass einer der Drahtzieher von einem nicht unerfahrenen Beamten sogar aus ganz anderen Gründen überwacht worden ist und dessen nach den Anschlägen auffälliger Lebenswandelt zumindest ihm verdächtigt hätte erscheinen müssen. Er ist auch der einzige der lebenden Protagonisten gewesen, der die bisherigen Motive des Anstifters kannte. Aber selbst wenn in diesem Fall beide Augen zusammengedrückt worden wären, das niemand ein derartig auffälliges börsentechnisches Verhalten untersucht hätte, erscheint wenig wahrscheinlich. Unabhängig davon, dass erstens wahrscheinlich die Aktienmärkte geschlossen worden wären und zweitens selbst die Geldbewegungen hin und her irgendwann irgendjemand aufgefallen wären.

Aber auch diese brüchige Prämisse ist bedingt akzeptabel, wenn der Autor nicht angesichts der technischen Überwachungsmethoden dieser Zukunft dem Leser glauben machen will, dass wirklich niemand nach einem derartigen Anschlag weiter forscht und relativ schnell feststellen muss, das die Islamisten es nicht gewesen sein könnten. Bedenkt man, das selbst Morde nach Jahren und Jahrzehnten immer noch untersucht werden, ist das Eis, auf dem der Autor wandelt, sehr brüchig.

Selbst Christian von Ditfurth als auch Dieter Rieken scheuen den letzten Schritt, von einer politischen Verschwörung zu sprechen, eine Art extrapolierten Reichstagsbrand, mit dem extreme Kräfte rücksichtslos die politische Macht übernommen hätten. Das wäre vielleicht noch akzeptabel gewesen, aber dazu hätten sich beide Autoren sehr viel mehr hintergrundtechnische Mühe geben müssen.

Die letzte Schwäche des Buches ist aber unabhängig von der individuell gelungenen Zeichnung der Protagonisten das Finale. Mehr Familie geht nicht mehr. Jeder bricht sein Schweigen und offenbart einen weiteren Aspekt dieser tragischen, wie klischeehaften Familiengeschichte. Damit überspannt der Autor ein weiteres Mal den realistischen Bogen und führt zusammen, was in jeder Soap passt.

„Land unter“ ist ein enttäuschender Thriller, der auf dem Reißbrett konstruiert erscheint und leider dem „Waterworld“ Syndrom verfällt. Ein guter, aber hektisch und nicht nachhaltig genug entwickelter Hintergrund, vor dem eine unrealistische und teilweise klischeehaft naive Geschichte leider nicht erzählt, sondern abgespult wird.

Dabei bietet die Geschichte von Menschen, die sich entschlossen haben, auf dem Wasser über dem überfluteten Land zu leben, so viel emotionales Potential, das es dieser Art von stereotypen Thriller und vor allem nicht nachhaltig genug entwickelter Ausgangslage gar nicht bedarf. Und das ist vielleicht die größte Enttäuschung dieses im mehrfacher Hinsicht untergegangenen Thrillers.

       

LAND UNTER (AndroSF / Die SF-Reihe für den Science Fiction Club Deutschland e.V. (SFCD))

  • Taschenbuch: 248 Seiten
  • Verlag: p.machinery; Auflage: 1 (13. Juli 2020)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3957652049
  • ISBN-13: 978-3957652041