Nummern

Marianne Labisch & Galax Acheronian (Hrsg.)

Die von den Herausgebern aufgerufen Meßlatte wird nicht nur zu einer spielerischen Herausforderung für die insgesamt acht Autoren, sondern könnte auch die Leser animieren, auf die Suche nach den insgesamt jeweils sechs Zahlen – 1,9,11, 20, 300 und 2020 - zu gehen, welche die Autoren mit entsprechenden im Vorwort dem Leser erläuterten Einschränkungen nutzen mussten.

 Das Titelbild von Tripleteilnehmener Galax Acheronian als Herausgeber, Autor eines der beiden Kurzromane und schließlich auch hinsichtlich der optischen Gestaltung fasst die Aufgabe noch einmal zusammen.

 Neben den angesprochenen zwei Kurzromanen finden sich insgesamt sechs Kurzgeschichten in dieser „Story Center“ Ausgabe, die nicht selten klassische Themen wie First Contact, Zeitreise, virtuelle Realitäten oder schließlich der ewige Konflikt gegen die Schatten, die der Mensch selbst erschaffen hat präsentieren.

 Paul Sanker eröffnet die „Nummern“ Story Centerausgabe mit seiner Jagd durch die Zeit „Es hat die nie gegeben“. Der Plot ist rasant entwickelt. Ein anscheinend Verrückter will in der Vergangenheit durch Anschläge Zeitparadoxa auslösen und die Geschichte überschreiben. Er hinterlässt Hinweise, welche die entsprechenden Einheiten meistens rechtzeitig auf der Bildfläche erscheinen lässt. Der finale Anschlag ist in doppelter Hinsicht perfide, auch wenn sich der Leser dem Titel getreu dann die Frage stellen muss, wenn es diese Zeitebene nicht gegeben hat, warum kommt es zu den Treibjagd zwischen den einzelnen Epochen?

 „Die Smileys von Triangel“ stammt aus der Feder Enzo Asuis. Zwei Explorer suchen zum wiederholten Male einen erdähnlichen Planeten, der für die Menschheit bewohnbar gemacht werden kann. Hohe Prämien locken. Sie finden einen seltsamen Planeten mit nur acht Spezis. Interessant ist, dass parallel die ganze bekannte Galaxis verzweifelt versucht, für eine Herausforderung eines Computerspieles eine Lösung zu finden. Der Auftakt der Geschichte ist gut geschrieben, die Charaktere überzeugend gezeichnet. Nur am Ende will der Autor konsequenterweise alles positiv abschließen und rückt den Plot zu stark an eine fast erzwungene Konstruktion heraus.

 Mit dem Thema Exploration setzt sich auch Marianne Labisch auseinander. Aber ihre Geschichte „Verbannung“  wird abschließend zu einer Art philosophischen Exkurs. Die Protagonistin beginnt, an Bord eines gigantischen Explorationsraumschiffs ihre täglichen Tabletten nicht mehr zu nehmen. Sie merkt, dass es ihr besser geht. Allerdings bleibt ihr Handeln nicht unbemerkt. Die Autorin beginnt mit einer Reihe von Versatzstücken, öffnet aber im Gegensatz zu einigen anderen Mitstreitern dieser Anthologie abschließend den Horizont und fügt neue überdenkenswerte Ideen ihrem kurzweilig zu lesenden Text hinzu. 

 Peter Stohls „Consumwelt“ ist das klassische Portrait eines glücklichen Konsumenten, der die Zahlen quasi als Einkaufsziele in einem perfekten Kaufhaus mit einer perfekten wie bildhübschen Begleitung abarbeitet. Die Pointe ist nicht mehr sonderlich originell. Der Leser wünscht sich ein wenig mehr Schärfe, aber sein Zahlensalat wird zumindest zu einer Odyssee durch die Malls, welche Corona vielleicht auf eine andere Art und Weise von der Oberfläche vertilgt.

 Auch Werner Karl baut in „1-9-11-20-300-2020“ auf ein klassisches Thema. Der Konflikt zwischen den Menschen und den von ihnen direkt oder indirekt erschaffenen Mutanten, welche nicht nur einhundert Prozent ihrer Gehirnmasse ausnutzen können, sondern sich als Nachfolger der normalen Menschen sehen. Eine klassische, fast klischeehafte Prämisse, die in einem typischen Pyrrhussieg endet. Solide geschrieben, aber wie zum Beispiel auch Peter Stohls „Consumwelt“ zu sehr auf grundsätzlich bekannte Motive vertrauend.

 Jeanine Lefevre präsentiert mit „Identität: Unbekannt“ von der Ausgangsbasis her eine Marianne Labischs vergleichbare Prämisse. Die beiden Protagonisten beginnen in einer restriktiven Gesellschaft, ihre Codes zu hinterfragen und versuchen sie zu entschlüsseln. Auch hier steckt hinter der verbotenen Vorgehensweise und der Überwachung durch die Vorgesetzten mehr als es die beiden ein wenig spärlich gezeichneten Charaktere und damit auch die Leser erwarten. Im Gegensatz allerdings zu Marianne Labischs abschließend eingeschüchterter Protagonistin steckt in den beiden Antihelden sehr viel Energie und Einfallsreichtum.

 Beide Autorinnen entwickeln totalitäre Gesellschaften, in denen das Individuum zu Gunsten der Gemeinschaft offiziell zurücktreten muss, die aber auch immer wieder auf die Exoten, auf die Außenseiter angewiesen ist, um eine Art Überlaufventil zu schaffen. 

 Die beiden Kurzromane „Nur das Beste“ von Galax Acheronian sowie „Für das Rijch, allein für das Riych“ aus der Feder Michael Alois Ortners ähneln sich von der Struktur her. Ein Verbrechen ist begangen worden, wobei die Dimensionen unterschiedlicher Natur sind. Eine Handvoll von entweder Agenten oder hohen Regierungsbeamten müssen ermitteln. Der Hintergrund ist interessant wie exotisch extrapoliert.

 „Nur das Beste“ ist dabei der kompaktere Text. Michael Alois Ortner legt noch mehr Wert darauf, den Hintergrund seiner Geschichte auszubauen und vor allem immer wieder den Leser mit relevanten, aber nicht den Plot nicht immer vorantreibenden Informationen zu füttern und dadurch sein Universum reichhaltiger erscheinen zu lassen. Galax Acheronian nimmt sich diese kritisch reflektierende Komponente ein wenig, in dem er für viele Leser die Agenten aus dem Reich des „Bösen“, der allmächtigen alles unterdrückenden dogmatisch konservativen irdische Kirche kommen lässt, für die es auf den Kolonialwelten gegründet von erfolgreich Geflüchteten im Grunde kein akzeptables Leben geben kann.

 Das Team ist klassisch aufgebaut. Der erfahrene Agent allerdings mit einer befleckten Vergangenheit, sein neuer junger ambitionierter und Gehirngewaschener Partner. Dazu als Vorgesetzt auf der fremden Kolonialwelt eine Frau. Verdächtige könnten auch Frauen sein. Ein ermordeter Agent, der eine natürlich kryptische Nachricht hinterlassen hat.

 Wie bei einem guten Spionagethriller deckt der Autor eine Variante noch der Nächsten auf. Ein Bluff könnte Teil eines umfassenden Plans sein und durchgesteckte Informationen absichtlich manipuliert. Wie die Spannungskurve vielschichtig ist das Tempo ist. Nur der ältere Agent kann an einigen Stellen das Leben der gedanklich freien Kolonisten bewundern. Das Ende ist konsequent wie pragmatisch.

 Da für den Leser die Agenten im Grunde eine moderne Inquisition vertreten, wünscht er ihnen keinen Erfolg. Auf der anderen kann lässt sich lange Zeit nicht erkennen, ob die Absichten der potentiellen Schattengegner wirklich für die Menschen förderlich sind. Diese Balance arbeitet der Autor über weite Strecken des Kurzromans zufrieden stellend heraus, er scheut sich aber vor den letzten Antworten. Um sich auf keine Seite zu schlagen, durchschlägt er den gordischen Knoten nicht, präsentiert aber eine sehr konsequente fatalistische und damit auch zufrieden stellende Auflösung.

 Der Hintergrund hätte in Form vielleicht eines Romans noch umfassender entwickelt werden können. Immer wieder hat der Leser eher das Gefühl, nur die Informationen zu erhalten, die elementar für die weitere Lektüre sind, während sich vieles zwischen den Zeilen abspielt. Auf der anderen Seite wird man weniger vom Autoren in eine bestimmte Richtung getrieben. Der Plot selbst ist gut durchdacht und für die mögliche Verräterkonstellation präsentiert Galax Acheronian noch eine zusätzlich hintergründige Variante, die auf den ersten oberflächlichen Blick aber auch ein wenig konstruiert erscheinen könnte.   

 Viele Ideen reißt Michael Alois Ortner eher an. Die Oligarchien stützen das Kaiserreich, bis es sich quasi gegen sie wendet. Dann zerfleischen sich die Konzerne gegenseitig und teilen das „Reich“ unter sich auf. Der auf anderen Seite gibt es das Reich und die Republik, die vor einer Art Statthalter allerdings teilweise wie ein Tyrann kontrolliert wird. Am Ende taucht die Vergangenheit sehr bildhaft wieder auf und der Leser fragt sich, ob es tatsächlich abseits des Gegenwärtigen möglich gewesen ist, diese Tendenzen zu ignorieren. Trotz aller Langlebigkeit scheint es aber eine überschaubare Anzahl von Jahren her gewesen zu sein.

 Der Eine versucht Baeldarius zu kontrollieren, andere Mächte versuchen sich zu rächen. Negativ und negativ ergibt nicht nur in dieser Geschichte positiv. Unzählige andere Ideen werden gestreift, ohne das der ursprüngliche Plot stringent weiterverfolgt wird. Die Ausgangsbasis von mit durch die beim Kälteschlaf verwandten Mittel getöteten Menschen zu Beginn der Geschichte erscheint auch eher wie eine Art MacGuffin einer endlos langen Schnitzeljagd, in deren Verlauf nicht nur die einzelnen Zahlen effektiv abgearbeitet, sondern das politische System der Vergangenheit wie Gegenwart förmlich durchgearbeitet wird.

 Während sich Galax Acheronian auf zwei Protagonisten ein wenig in Buddymanier auf ein Terrain, das sie nicht kontrollieren können oder wollen,  konzentriert hat und dadurch die Stringenz der Geschichte dominierte, zerfallen die einzelnen nicht uninteressanten Ideen. Da dieses Story Center ursprünglich schon 2015 veröffentlicht werden sollte, greift Ortner den Ideen voraus, die auch „Im Herzen des Imperiums“ auszeichnete. In beiden Werken ist es jeweils ein Diplomat/ Politiker, der gegen zahlreiche Intrigen an allen Fronten kämpfen muss und schließlich mit der teilweise auch eigenen Vergangenheit ohne eine echte Zukunft zu haben konfrontiert worden ist. Politische Ränkespiele wechseln sich in beiden Arbeiten mit gut geschriebenen Actionszenen ab, wobei die Novelle in diesem Fall ein wenig gegen Michael Alois Ortners Intention arbeitet.

 Mehr Raum wäre in dieser Geschichte wünschenswert gewesen. Nicht alle Fakten lassen sich gleich einordnen und einige der zahlreichen, im Glossar zwar zusammengefassten Orte und Begriffe, verwirren mehr als das sie helfen. Es ist ein sehr bunter, exzentrischer, aber auch barocker Kosmos, den der Autor mit einer allerdings eher solide erzählten, wenige dann aber effektive Wendungen präsentierenden Grundgeschichte entwickelt hat.

 Beide Kurzromane ragen über die insgesamt sechs Kurzgeschichten durch ihren Versuch heraus, bekannte Versatzstücke einfach anders entweder vor fremdartigen Hintergründen oder mit dreidimensionalen, aber niemals wirklich nahbaren, geschweige denn sympathischen Protagonisten zu erzählen.

 Auch die Kurzgeschichten unterhalten allerdings auf einem ansprechenden Niveau sehr gut und erfüllen wie die Arbeiten Ortners und Acheronians die im Vorwort gut zusammengefassten Prämissen. „Nummern“ ist eine überzeugende Story Center Ausgabe. Die Verzögerung bei der Veröffentlichung der einzelnen Anthologien ist zu bedauern, sonst hätte sich diese Anthologiereihe neben den „Phantastischen Miniaturen“ aus Wetzlar oder der „Gegen Unendlich“ Reihe sowie den Magazinen „Exodus“ und „Nova“ als weitere Kurzgeschichtenplattform längst deutlicher vor allem mit der extrem langen traditionsreichen Geschichte etabliert.     

AndroSF 110
p.machinery, Winnert, Juni 2020, 292 Seiten, Paperback
ISBN 978 3 95765 193 8 – EUR 15,90 (DE)
E-Book: ISBN 978 3 95765 896 8 – EUR 7,99 (DE)