Geschichten am Rande der Wirklichkeit

Jörg Weigand

Insgesamt zweiunddreißig Geschichten mit den vom Autoren ausgewählten Oberthemen „Phantastisches“, „Fabelhaftes“ und „Groteskes“ umfasst die 1988 veröffentlichte Kurzgeschichtensammlung Jörg Weigand. Sein  langjähriger Freund Walther Ulrich Erwes hat ein entsprechendes Nachwort als Begleitung verfasst, das angesichts der thematischen Breite bis auf zwei oder drei verratene Pointen auch als einleitendes Vorwort genutzt werden kann. Erwes spricht viele Stärken Jörg Weigands genauso an wie vielleicht seine größte Schwäche. Jörg Weigand liebt es kompakt. Unnötiges Beiwerk, der klassische Aufbau einer nicht unbedingt plotrelevanten Atmosphäre oder eine umfangreichere Charakterisierung der Protagonisten über das Notwendige hinaus sind nicht Jörg Weigands Sache und werden mit der direkten Art eines Journalisten auch ignoriert.

 Das breiteste Spektrum dieser Anthologie sind die phantastischen Geschichten. Dabei nutzt der Autor klassische Sujets, um moderne geradlinige Plots zu erzählen. Der Leser ahnt am Ende von „Der Anhalter“, was die Pointe sein könnte. Und trotzdem gelingt es Jörg Weigand in dieser klassisch strukturierten Geistergeschichte, Emotionen im Leser zu erwecken.

 Auch „Vreneli“ lebt von der absurden, unerklärlichen Wendung. Die Freundschaft zwischen dem Erzähler und dem alten Mann, der sein Vermögen in Form von Goldmünzen um sich haben muss, wird eher spärlich entwickelt. Jörg Weigand hat keinen Platz für Emotionen. Die Pointe wirkt eher grotesk als unerklärt phantastisches, aber sie schließt die Geschichte konsequent ab.

 „Das Rollbild des Li Yu“ verbindet nicht nur Jörg Weigands Leidenschaft für Asien mit einem möglicherweise phantastischen Plot, sondern schenkt ihm wie bei „Vreneli“ die Möglichkeit, mit wenigen Strichen interessante Charaktere zu erschaffen. Die Pointe das Schicksal der Räuber beschreibend ist konsequent, auch wenn sie aufgrund der verschiedenen zu offensichtlichen Hinweise auch nicht unbedingt überrascht.

 Auch „Der Notarzt“ verkleidet ein im Grunde klischeehaftes Thema in einem neuen Gewand. Larry Cohen hat in „Ambulance“ die Idee auch aufgegriffen, wobei der amerikanische Filmemacher viel früher und sehr viel bizarrer seinen Plot erschreckender entwickelt hat. Aber wie Walther Ulrich Erwes in seinem Nachwort auch zu dieser Geschichte schreibt, das Phantastische dringt in das von Jörg Weigand minutiös entwickelte Reale aus dem Nichts ein und dominiert abschließend.

 In den „Twilight Zone“ Bereich reicht „Die Straße ins Nichts“. Der Titel ist Programm, ein aggressiver Autofahrer muss auf diese Art und Weise belehrt werden. Der Plot verläuft stringent, die Pointe ist keine Überraschung. Vielleicht nur die Tatsache, dass der Optimist Jörg Weigand an eine Bekehrung glaubt und die Miniatur auf einer positiven Note enden lässt.

 Von den längeren Texten ragt „Mademoiselle Toutou“ nicht nur aufgrund Jörg Weigands Vorliebe für Frankreich, für die französische Lebensart heraus, sondern weil der Leser im Gegensatz zum naiven Protagonisten viel früher weiß, dass mit dieser perfekten Geliebten etwas nicht stimmen kann. Was es abschließend ist und wie pragmatisch der Autor diese besondere Liebesgeschichte beendet, überrascht dann doch. 

 „Drachenaugen“ ist eine dieser wunderbar kurzen Geschichten, die handlungstechnisch ab der Mitte des Plots nicht mehr überzeugen können, weil der Leser natürlich die Zusammenhänge ahnt, aber trotzdem sehr unterhaltsam ist. Der Erzähler berichtet von einer Künstlerin, welche Drachenbilder ohne Augen malt und sie trotzdem gut verkaufen kann. Es ist nicht die einzige Geschichte, die sich mit dem besonderen Verhältnis zwischen einem Künstler und seinem in diesem Fall letzten Werk auseinandersetzt. „Meister Eberhards letztes Bild“ ist unter anderem im Deadalos Magazin mit einem der für diese Anthologien so typischen alten Holzstichdrucke veröffentlicht worden. Das Bild unterstreicht die Stimmung der inhaltlich wenig überraschenden, aber ebenfalls sehr stimmungsvollen Story.

 Jörg Weigand nutzt auch gerne Mythen und Legenden für seine Storys. In „Mandragora“ sucht der Erzähler nach der Alraune Wurzel, was in Zeiten von Giftspritzen oder Erschießungen als Hinrichtungsmethode gar nicht so einfach ist. Aber kaum ist er erfolgreich, muss er erkennen, dass hinter der Alraune viel mehr steckt als er sich gewünscht hat. Auch in „Das Geheimnis der Hakka“ wird der Erzähler verführt, ein abgelegenes Dorf im Himalaja zu besuchen, um das Geheimnis der Langlebigkeit zu erfahren. Natürlich auf eine sehr unangenehme Art und Weise. Beide Texte sind geradlinig, nehmen sich aber im Vergleich zu den Miniaturen ein wenig mehr Zeit, um den Hintergrund zu beleuchten und darauf aufbauen schließlich die phantastischen Aspekte der Geschichte eher beiläufig zu entwickeln. Erklärungen bietet Jörg Weigand nicht an, was den Reiz der beiden Geschichten zusätzlich erhöht. 

 Auch „Die Legende van Sadali“ mit ihrer Mischung aus der Rattenfänger von Hameln, David und Goliath sowie der Legende um Atlantis überzeugt. Die Geschichte ist eine der längsten Arbeiten in dieser Sammlung. Nicht nur der Hintergrund ist gut herausgearbeitet, auch die Figuren wirken dreidimensional und mystisch zu gleich. Das Finale wird konsequent präsentiert und der Rahmen führt den Leser gut in diese mystische Welt ein.

 „Die Menschenwurzel“ folgt den etablierten Plotmustern. Für sich allein stehend würde das nicht so auffallen, in einer Anthologie mit einer Reihe von Texten aus Jörg Weigands Feder ist die zugrunde liegende Ähnlichkeit zwischen „Mandrogaora“ und „Die Menschenwurzel“ schon auffällig. Ein reiche Japaner heuert einen mittellosen Deutschen in einer Kneipe in Tokio an, ihm eine Wurzel zur Potenzsteigerung aus Korea herauszuschmuggeln. In begleitet ein Mann, der auffällig viel über den Mythos weiß. Die Pointe ist rückblickend vorhersehbar, allerdings nimmt sich Jörg Weigand ein wenig mehr Zeit, um den Plot zu entwickeln.   

 Zu den schwächeren Texten gehört „Feuer im Grasland“. Der Titel fasst den Plot zusammen. Nur lernt der Steinzeitmensch aufgrund des Brandes und seiner Folgen für die Tierwelt, dass es mehr als nur rohes Fleisch geben kann. Auch „Ein richtiger Mann“ funktioniert nicht richtig. Ohne weitere Erklärungen wird nach einem Unfall das Bewusstsein eines richtigen Kerls in einen anderen Körper versetzt. Das hilft weder preußische Ordnung noch ein höherer Rang, um das schönste Mädchen des Ortes zu beeindrucken. Sie weiß, in welchem Körper der richtige Mann steckt. Der Plot wirkt eher bemüht und konstruiert. Der Geschichte fällt trotz des kompakten Textes die erzähltechnische Spritzigkeit.

 Zu den besseren Texten gehört auch mit zahllosen Anspielungen auf die phantastische Bibliothek in Wetzlar „Neila auf Goethes Spuren“ mit dem Besuch der ungewöhnlichen Neila nicht nur in Wetzlar, sondern auch auf einem Autorensymposium, wo sie einen der Auten in mehrfacher Hinsicht den Kopf verdreht. Pointierte Dialoge, eine nicht unbedingt originelle Idee aber so gut erzählt und vor allem in das reale Geschehen eingebaut, das der Leser nu schmunzeln kann.

 Einige Miniaturen konzentrieren sich auf Stimmungen. Die Enden des jeweiligen Plots sind schon frühzeitig erkennbar. Sowohl „Der Gesang der schwarzen Kiefern“ als auch „Nebel“ beziehen sich auf Naturereignisse, die einen übernatürlichen Hintergrund haben könnten, aber nicht müssten. Es sind klassische Weird Fiction Geschichten, bei denen die Kürze und Fokussierung sich positiv auf den Handlungsverlauf auswirken.

 „Geheimnisvolle Rettung“ ist wie zum Beispiel Peter Weirs „Picknick am Hanging Rock“ eine semiphantastische Geschichte, in welche Jörg Weigand ein Science Fiction Ende einbaut. Aber generell konzentriert er sich auf die einzigartige Landschaft Australiens und verbindet eine kleine Zeitungsgeschichte mit der eigenen Spekulation.

 Auch „Begegnung in der Pariser Gasse“ spielt um die Treffen in der phantastischen Bibliothek Wetzlars, als diese noch in ihren Anfängen gesteckt hat. Die Verbindung zwischen Märchen und Realität (?) funktioniert überraschend gut, die Eindrücke des Autoren sind überzeugend beschrieben worden. 

 „Das geheime Ritual“ kommt gänzlich ohne phantastische Elemente aus. Auch wenn Jörg Weigand im Leser einen entsprechenden Eindruck hinterlassen möchte. Eine Sekte will einen potentiellen Widersacher bzw. Mörder eines ihrer Mitglieder vernichten. Nur schaut die Polizei schon längere genauer hin und dreht den Spieß um. Eine gute, aber nicht herausragende Kriminalminiatur.

 Im Kapitel „Fabelhaftes“ finden sich insgesamt sechs tibetische Fabeln, ein Märchen für Kinder und eine Weihnachtslegende. Bei den tibetischen Geschichten geht es entweder um Menschen, die den Hals nicht voll genug bekommen und entsprechend bestraft werden; menschliche Konflikte, die ins Tierreich übertragen worden sind oder einfache Missverständnisse, die mit Kommunikation aufgeklärt werden können. Die Weihnachtslegende könnte auch ein Märchen für Kinder sein, weil Jörg Weigand die bekannten „Fakten“ aus einer nicht unbedingt neuen, aber zumindest anderen Perspektive erzählt, während das Märchen für Kinder auch Erwachsenen den Spiegel vors Gesicht hält. Alle sehr kurzen Texte enthalten eine Reihe von Belehrungen vor allem für die Leser. Dabei bemüht sich Jörg Weigand vor allem in den inhaltlich eher überzeugenden Tierfabeln den typischen Ton dieser Erzählart zu treffen, aber trotzdem etwas Neues, etwas Anderes zu präsentieren. 

 Der letzte Abschnitt ist mit „Groteskes“ übertitelt. Alle vier Geschichten spielen in Osteuropa, sogar in einem Dorf. Im Mittelpunkt steht direkt oder indirekt der Bürgermeister und seine Frau. „Die Gänse von Rasredin“ mit dem Missverständnis zwischen den armen Tieren und der Frau des Bürgermeisterin ist eher als Einstimmung gedacht. „Das gefönte Kaninchen“ basiert auf einem anderen Missverständnis, ist aber deutlich origineller und die Auswirkungen der Pointe lassen die Leser schmunzeln.

 „Die Zipfelmütze des Herrn Bürgermeisters“ überzeugt am Meisten, weil Jörg Weigand menschelt. Erst wenn man die Schwäche in seinem Gegenüber erkennt und daraus Gemeinsamkeiten ableiten kann, kommt es zu einer gemeinsamen Basis. Und sei es mit einer besonderen Nachtbekleidung im unfreiwillig gemeinsamen Bett. Abschließend geht Jörg Weigand noch in „Das vorwurfsvolle Auge der Auster“ auf die Ideen des Tourismus ein.

 Nicht immer steuert der Autor auf eine moralische Auflösung der kurzweiligen Geschichten zu. En Bloc wirken sie vielleicht ermüdend, in verschiedenen Zeitschriften als Zwischendurchlektüre verteilt überzeugen sie mehr.

 Im Gegensatz zu seinen beiden Storysammlung „Der Traum des Astronauten“ und „Der Störfaktor“ sind die Themen sowohl in „Geschichten am Rande der Wirklichkeit“ als auch „Schneevogel“ phantastischer und überwiegend eine Science Fiction Bezüge. Der Leser hat die Möglichkeit, einen anderen, im Grunde auch frühen Jörg Weigand mit vielen Nachdrucken aus den siebziger Jahren kennen zu lernen. In dieser Hinsicht rundet die heute noch relativ gut antiquarisch erhältliche Anthologie die Bandbreite seines Werkes gut ab. 

Geschichten am Rande der Wirklichkeit. Belletristische Reihe Band 8

  • Herausgeber : edfc; 1. Auflage (1. Januar 1998)
  • Taschenbuch : 170 Seiten
  • ISBN-10 : 3932621115
  • ISBN-13 : 978-3932621116
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