Im Rahmen seiner Fischer Tor Reihe wird Neal Stephensons dritter, für den Cyberpunk wie auch die virtuellen Realitäten bahnbrechender Roman in einer neuen Übersetzung wieder aufgelegt. Für die alte Blanvalet Ausgabe hatte der Stephen King Übersetzer Joachim Körber Hand angelegt. Ob Mark Zuckerberg ein Neal Stephenson Fan ist, konnte nicht geklärt werden, aber sein Facebook Konzern hat sich ja in Meta umgetauft, ein Begriff eben aus dem „Snowcrash“ Roman. Dort allerdings „Metaverse“ genannt.
Genau dreißig Jahre nach der Erstveröffentlichung ist „Snowcrash“ auch in der Neuauflage der feuchte Traum eines jeden inzwischen in Ehren ergrauten Cyberpunks. „Snowcrash“ ist ein Buch voller aufregender Szenen und Klischees. Nicht selten stehen sich die Action und die inzwischen zur Gewohnheit gewordene Markenzeichen der damaligen Hackergeneration in einer Sequenz konträr gegenüber. Im Nachwort zur Erstauflage gibt Stephenson zu, dass die Idee Basis für eine im Computer erstellte Comicgeschichte sein sollte. Tony Sheeder sollte die visuelle Umsetzung übernehmen. Am Ende entsprach die damalige Technik noch nicht den Möglichkeiten, diese teilweise absurde, aber spannende Geschichte adäquat visuell umzusetzen. Aus heutiger Sicht wären die beiden Wachowsky Geschwister die perfekten Partner, um „Snowcrash“ auf die ganz große Leinwand zu bringen.
Der Titel bezieht sich eigentlich auf eine besondere Art des Computercrashs der frühen Macintosh Computern. Am Ende zeigt der Bildschirm eben nur das Flimmern wie bei einem senderlosen Fernseher. Aber in diesem Buch crashen nicht nur Computer, die westlich kapitalistische Welt ist quasi zusammengebrochen. Im Laufe der Odyssee beginnend in einem Los Angeles des 21. Jahrhunderts wird der Leser eine Reihe von im Roman populären Figuren wie exzentrischen Milliardären, die plötzlich Sendungsbewusstsein entwickeln; korrupten Politikern und schließlich auch der Mafia kennenlernen, die quasi aus dem 1992 veröffentlichten Roman in die bizarre Gegenwart des jetzigen 21. Jahrhunderts gestiegen sein könnten. Was Neal Stephenson in den neunziger Jahren am Rand der bitteren Satire skizzierte, ist in einzelnen Teilen Wirklichkeit geworden Auf der anderen Seite machen einzelne Exkurse dem Leser zwar sehr viel Freude, aber generell machen sie nicht unbedingt nachhaltig Sinn.
Hiro ist ein Hacker und inzwischen ein Pizza Fahrer für die Mafia. Die Mafia hat diesen Geschäftszweig übernommen und verspricht immer eine Lieferung innerhalb von 30 Minuten. Sonst drohen nicht nur dem Boten drakonische Strafen. Hiro übernimmt die Auslieferung einer Pizza, deren Bestellung schon 20 Minuten zurückliegt. Normalerweise hat er kaum eine Chance, den Auftrag zu erfüllen. Am Ende nach einer buchstäblich im Pool endenden Crashfahrt übernimmt die junge Skaterin Y.T. (Yours Truly) die letzten Meter und liefert tatsächlich pünktlich die Pizza aus. Sehr zur Enttäuschung der Besteller.
Die Auftaktsequenz ist spannend und voller Action. Hiro versucht auf dem Weg zum Kunden dem Leser quasi im Vorbeifliegen seine Welt zu erläutern. Manches geht derartig schnell am Auge des Lesers vorbei, daß er alle Details nur bei einer zweiten oder dritten Lektüre aufnehmen kann. Mit dieser Sequenz spaltet sich positiv gesprochen der Roman auch auf.
Y.T. wird vom Mafia Boss Enzo unter seine persönlichen Fittiche genommen und erhält verschiedene gefährliche Aufträge als Freelancer.
Hiro ist arbeitslos, den geschrotteten Wagen muss er auch bezahlen. Im Metaverse – ein Vorläufer des Internets – bietet ihm sein Bekannter Raven Snow Crash an. Eine Art Datafile, gleichzeitig auch eine Art narkotische Droge. Der Mann seiner ehemaligen Jugendliebe Juanita hat Snow Crash ausprobiert und ist zu einer Art lebendigem Zombie geworden. Nicht nur die Computersysteme sind befallen, sondern auch eher.
Anscheinend steht Snow Crash in einem mittelbaren Zusammenhang mit dem Milliardär Rife, der auf einem ehemaligen Flugzeugträger lebt und sich an den verbliebenen USA rächen möchte, aber auch der Legende um das Sprachengewirr beim Turmbau zu Babel. Auch in seinen späteren Büchern wie „Corvus“ wird Neal Stephenson immer wieder semireligiöse Töne seinen superreichen und im Grunde verrückten Antagonisten in den Mund legen.
Sowohl Hiro als auch Y.T. werden immer wieder nicht nur mit Snowcrash, sondern auch mit der Bedrohung durch Rife konfrontiert.
Neal Stephensons „Snow Crash“ gehört positiv wie negativ in die gleiche Kategorie wie William Gibsons „Neuromancer.“ Bücher, welche den Horizont der Leser erweitern sollen. Bücher, welche eine aus den Fugen geratene Welt voller widerwilliger Antihelden, schönen wie gefährlich aktiven Frauen und schließlich eine fetischistische Liebesbeziehung zum Computer/ zum Internet beschreiben. Bücher, in denen die USA am Boden und Japan als Land der aufgehenden Sonne angehimmelt wird. Bücher, in denen mit Fachbegriffen aus dem erweiterten EDV Universum umhergeschmissen wird und jeder Nerd die „normalen“ Menschen voller Mitleid anschaut. Weil diese die fast sexuelle Ekstase eines funktionierenden Programms, eines Exkurses in dreidimensionale Spielwelten und schließlich den kleinen Triumph des täglichen Sieges gegen die Realität nicht verstehen können.
Das alles ist nicht nur „Snowcrash“, das alles in Cyberpunk. Cyberpunk, den die Zeit und damit auch die technische Realität überholt hat. Neal Stephenson hat einen technikverliebten Comic erschaffen, der sich wie ein Hollywood Blockbuster voller CGI Tricks sehr gut liest, aber wie viele andere opulente Bücher aus der Feder des Kanadiers eben emotional nicht unter die Haut geht. Hier liegt wahrscheinlich auch die größte Schwäche in seinem umfangreichen Werk.
Der Autor überspannt phasenweise den Bogen. Onkel Enzo als Chef der Mafia, hart und innen ganz weich. Y.T. als tierliebende Skaterin mit Humor, gutem Aussehen und vor allen den richtigen Instinkten. Hiro als Held. Er trägt zwei Samuraischwerter von seinem Vater. In einer unsinnigen Sequenz inklusive des Atombombenabwurfs über Nagasaki wird beschrieben, wie der Vater an die Schwerter gekommen ist.
An einer anderen Stelle schwappt begleitet vom Flugzeugträges des exzentrischen religiös fanatischen und irgendwie auch ein wenig nach Hubbard gezeichneten Milliardärs Rife die Flüchtlingswelle an die Ufer des isolierten USA. Neal Stephenson nimmt positiv den Begriff der Bootsflüchtlinge vorweg und zeigt schon in den neunziger Jahren auf, welche Menschenströme verzweifelt nach einer Überlebenschance greifen. Aber die Szenen kommen in einer zu hektischen Abfolge und unterminieren den sozialkritischen Gehalt des Plots.
Wenn Neal Stephenson hinterfragen lässt, ob Snow Crash eine Droge, eine Religion oder ein Virus ist, zeigt er auf, wie gleichgültig die Welt geworden ist. Snow Crash wirkt eher wie eine Metapher, das perfekte MacGuffin, einsetzbar in jeder Situation. Allgegenwärtig, potentiell gefährlich, aber auch oberflächlich in die Handlung integriert. Neal Stephenson geht eher plakativ als intuitiv voran.
Aber keine Idee wird bis zum Ende durchgespielt. Viele der Nebenhandlungen verlaufen im Sand. Sie begleiten den Leser einen Teil des Weges, dann bleiben sie quasi erschöpft zurück und werden schnell vergessen. Natürlich lässt sich argumentieren, daß mehr besser ist als ein Roman, der über keinen Hintergrund, keine Ideen und vor allem auch keinen originellen Erzählstil verfügt. Das ist vollkommen richtig. Und neben dem Metaverse hat Neal Stephenson nicht nur den Begriff des Avatars in diesem Buch erfunden, sondern zeigt den Lesern, wie Spieler damals beginnend und heute perfektioniert ihre virtuellen Alter Egos effektiv und progressiv einsetzen konnten. Die Wurzel vieler heutiger Simulationsspiele finden sich in Büchern wie „Snow Crash“.
Auch wenn es den Cyberpunks wehtun wird, dieser nostalgische Blick zurück in die noch nicht eingetretene Zukunft macht den Reiz nicht nur dieses Buches aus. Sie lassen sich gut lesen. Sie unterhalten, aber sie haben ihren Glanz verloren und wirken wie gut behütete Antiquitäten in einem entsprechenden Spezialitätenladen. Allzeit bereit und auf Hochglanz poliert und doch nicht mehr auf der Höhe der Zeit.
Neal Stephenson hat sich für diesen Roman von einigen Autoren inspirieren lassen. Auf den ersten Blick fallen neben den obligatorischen Genreverdächtigen wie eben William Gibson auch Philip K. Dick mit seinen (virtuell) zertrümmerten Realitäten oder John Brunner mit seiner von anonymen Konglomeraten gesteuerten Zukunft ein. Die überdrehte, erzähltechnisch experimentelle Handlungsführung ist irgendwo zwischen Hunter S. Thomson und eher James Ballards anonymen Großstädten angesiedelt. Der Niedergang der Zivilisation nicht durch Krieg, sondern alleine durch Dekadenz und die komplette Ausbeutung notwendiger Resourcen stammt aus unzähligen Science Fiction Romanen der achtziger Jahre. Das organisierte Verbrechen zwischen Rücksichtslosigkeit und Charme extrapolierte Neal Stephenson aus dem „sozialen“ Kodex Mario Puzos und seines „Paten“.
Es ist eine neuartige Art der Reise, die heute wieder vertraut erscheint. In vielen kleinen Punkten wie dem Metaverse ist Neal Stephensons „Snow Crash“ ein Klassiker, den er in seinen letzten, doppelt und dreifach so umfangreichen Büchern nur folgen, aber nicht mehr weiterentwickeln konnte. Man sollte „Snow Crash“ als eine Art alten Freund in Empfang nehmen, den man nach einer langen Zeit in einer anderen Zeit wiedertrifft. Man tauscht literarisch Erinnerungen aus und verbringt eine gute Zeit mit ihm. Das inzwischen die Fassade Kratzer erhalten hat und/oder man selbst sich nicht mehr so ganz erinnern kann/ will, steht auf einem anderen Blatt. Ist eine andere Geschichte, die erzählt werden kann, aber nicht muss. Mit einigen Schwächen ein Klassiker des Cyberpunks, der damals alles andere als klassisch sein wollte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021
ISBN 9783596705597
Kartoniert, 576 Seiten, 16,99 EUR