Odyssee eines Unvernüftigen

Ray Müller

Ray Müllers “Odyssee eines Unvernüftigen” eröffnet eine neue Subreihe im Verlag p.machinery: Zwischen den Stühlen. Vor diese Geschichten mit stark autobiographischen Zügen, aber nicht als klassische Autobiographie zu verstehende Selbstreflektion trifft das Programmlabel deutlich besser zu als zum Beispiel beim zweiten veröffentlichten Roman. Ein vor dem Hintergrund der französischen Revolution spielender Krimi aus der Feder Karla Weigands. 

Der Autor etabliert sich in der Geschichte als Ich- Erzähler, der mit einer art Manifestation des eigenen Egos, genannt X, auf Reisen geht. Das hört sich deutlich komplizierter an als es schließlich ist. In seinem Vorwort etabliert er die Ausgangsbasis, in dem er eine Reihe von Fragen aufwirft, deren Antworten der Erzähler/Autor/Auteur im Laufe des Hauptteils “Der Unbehauste aufgezeichnet vor fünfundzwanzig Jahren” sucht. Aber auch der Untertitel dieses umfangreichsten Kapitels ist eine Illusion. Der Text ist nicht komplett vor fünfundzwanzig Jahren aufgezeichnet worden. Einzelne Szenen müssen später erlebt und damit niedergeschrieben worden sein. Das 11. September und damit die Begegnung mit einer jungen attraktiven Jüdin liegt keine 25 Jahre zurück. Das macht den Erzähler positiv wie negativ unzuverlässig und lässt die Grenze zwischen in der vorliegenden Form verfremdet Erlebten und nicht selten erotischen “Phantastereien” fließender erscheinen. 

Im zweiten Teil dieses Berichts “Aufzeichnungen des Behausten” versucht Ray Müller sein inzwischen ein wenig zur Ruhe gekommenes Leben im Grunde einzuordnen. Er etabliert sich als eine Art einsamer Wolf in einer Einzimmerwohnung, dessen Schritte ihn in seinem imaginären Käfig nicht zu den Gitterstäben, sondern immer wieder an die Ufer des Starnberger Sees führen. Dieses Image des einsamen Wolfes relativiert Ray Müller dann in seinem Nachwort, in dem er seiner langjährigen Lebensgefährtin für ihre nicht erwiderte Geduld und Liebe dankt. Von ihr ist in dem eigentlichen Text keine Rede. 

Ohne Frage hat Ray Müller als Filmemacher auf allen Kontinenten unterwegs ein aufregendes, gefährliches Leben geführt. Später hat er sich als Autor von inklusive “Odyssee eines Unvernüftigen” mit vier Arbeiten einen Namen gemacht. Bis auf “Tote Hose” - der Krimi spielt am Starnberger See, der immer wieder magischer Anziehungspunkt von langen Spaziergängen ist - finden sich einzelne Aspekte seiner bisherigen Arbeiten auch in “Odyssee eines Unvernüftigen” wieder. “Ein Traum von Afrika” ist zwar eine vor historischem Hintergrund spielende Liebesgeschichte, aber Ray Müller denkt oft an die wilde Schönheit Afrikas inklusiv einer auf Zelluloid gebannten Safari. “Y- Im Labyrinth der Sinne” ist ein erotischer Roman und vor allem Frauen, in erster Linie junge Frauen ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch. Zu Beginn erdrücken die nicht immer wirklich erotischen Phantasien Ray Müllers den Handlungsfaden und erscheinen alt nicht immer relevante, aber den Geist des Erzählers antreibende Verbindungsstücke zwischen den nicht chronologischen, sondern von visuellen Reizen inspirierten Erinnerungen. 

Auch wenn Erotik/ Sex immer sehr eng mit seinem Berufsleben bzw. eher den Begegnungen auf den unterschiedlichen Kontinenten verknüpft sind, haben sie neben den langen, manchmal ein wenig selbstmitleidenen Monologen des Erzählers in Begleitung von X eine Art Eigenleben entwickelt. 

Vor allem die erotischen Treffen mit der Studentin Ana und schließlich auch die kulinarische wilde Orgie auf dem Teppich sehen hier stellvertretend genannt.   Manchmal sieht er sich als den typischen, klischeehaften alten Mann, den es zu jungen noch zu beeindruckenden, aber auch immer willigen Frauen zieht. Mit seinen Geschichten, seiner Lebenserfahrung und vielleicht auch seiner leicht arrogant wirkenden Souveränität hat er auf allen Kontinenten Erfolg, auch wenn er zu Beginn auch über die zwischenmenschlichen Niederlagen spricht. Die Erotik ist mehr als eine prickelnde Beimischung, sie ist ein aktiver Bestandteil des nicht unbedingt unvernüftigen, sondern eher unstetigen Lebens. 

Ein weiterer erstaunlich zurückhaltend beschriebener Aspekt ist die Arbeit des Dokumentarfilmers Ray Müller. Hier liegen die Schwerpunkte deutlich auf dem Erlebten und weniger dem Geplanten. Mit der Hälfte des Filmbudgets in die Kneipe, weil der Hoteltresor zu unsicher ist. Manches eher improvisiert als geplant,  auf den glücklichen Zufall hoffend, der sich zum Beispiel bei der Safari einstellt, als die Regierung einen Elefanten zum Abschuss freigibt. Oder gleich zu Beginn der Film über die Lebensbedingungen der Minenarbeiter in Bolivien, die später ihnen zufließende Gelder aus einem gänzlich anderen Film erstaunlich pragmatisch und auf den ersten Blick unpassend einsetzen. Bolivien holt Ray Müller durch den spontanen Besucher zweier Minenarbeiter in Deutschland wieder ein. Hier wird noch einmal deutlich, dass ein freischaffender Dokumentarfilmer keine Reichtümer ansammelt. Auch wenn der Autor oder besser sein Alter Ego X immer wieder betont, dass er auf Geld generell wenig Wert legt. Nützlich ist es doch, wie ein spontaner Trip nach Barcelona und eine romantische Fahrt an die Küste mit einer schönen jungen Frau zeigt. 

Manche Projekte werden abgebrochen oder scheitern am Ego der Beteiligten. Manchmal bringt sich der Regisseur auch selbst in Lebensgefahr, wenn er unbedingt in der Wüste durch einen Sandsturm weiterfahren möchte. 

Durch die nicht chronologische Struktur des Buches und vor allem die wechselnde Erzählperspektive - manchmal berichtet der Ich - Erzähler sachlich distanziert, dann spricht er quasi seine noch fiktiven Leser direkt an -  gewinnen diese Episoden im Leben des Ray Müller als Qualität und Dreidimensionalität. Sie fassen aber auch ein langes Leben wie im Zeitraffer zusammen und die Distanz zwischen Vor-/ Nachwort  sowie dem kürzeren zweiten Abschnitt schrumpft von den angesprochenen “25” 

Jahren auf wenige Wochen oder Tage zusammen.     

Kommt der Leser Ray Müller bei dieser Lektüre näher? Wie der Autor selbst im Nachwort zugibt, handelt es sich eher um eine Geschichte mit autobiographischen Zügen als eine reale Bestandsaufnahme des eigenen bisherigen Lebens. Und genauso gibt es Szenen, in denen der Autor/ Erzähler die Leser hinter den emotionalen Vorgang höchstens luschern, aber niemals schauen lässt. Wenige Seiten weiter ist diese Nähe verschwunden und der manchmal zu exzentrische, so provokativ nach innen gerichtete sowie manchmal zu theatralische Erzählstil mit der gedanklichen Quadratur des sich selbst quälenden sprichwörtlichen Kreisels stößt den “Reisebegleiter” auf dem Papier eher ab. Ray Müller fordert in diesen Momenten die Geduld ein, die er selbst nicht hat. Das macht die Lektüre herausfordernd, vielleicht sogar manchmal schwierig, aber ein guter Biograph gibt dem Leser für dessen eigenes Leben auch etwas mit. Das ist bei “Odyssee eines Unvernüftigen” auch der Fall. Ray Müller auf allen Kontinenten mehr erlebt als die meisten seiner Leser in ihren bisherigen Leben zusammen. Viele Themen, die der Autor anreißt, sind heute noch mindestens allgegenwärtig, wenn nicht sogar dominant. In diesen Abschnitten reibt sich mancher Leser die Augen, ob dieser Teil des Buches wirklich über zwanzig Jahre alt sein soll. An anderen Stellen lässt sich das nicht verfremdete Bild auf die achtziger und neunziger Jahre besser erkennen und als Augenzeuge ist Ray Müller ein scharfer, teilweise sehr pointiert schreibender Beobachter. 

Es ist ohne Frage ein herausforderndes Bild. Wie in seinen Dokumentarfilmen - für eine Wiederholung im Fernsehen wurden ihm 650 Mark gezahlt - scheint es Ray Müller darum zu gehen, dass andere Menschen nicht nur passiv konsumieren, sondern in seine Ideen/Gedanken/Träume/Alpträume/Visionen aktiv mit einbezogen werden. Und das auch gerne konträr. Daher ist “Zwischen den Stühlen” die ideale Reihe für diese Lebensgeschichte mit autobiographischen Zügen.         

Ray Müller
ODYSSEE EINES UNVERNÜNFTIGEN
Zwischen den Stühlen 1
Zwischen den Stühlen @ p.machinery, Winnert, Januar 2022, 396 Seiten
Paperback: ISBN 978 3 95765 267 6 – EUR 14,90 (DE)
Hardcover: ISBN 978 3 95765 268 3 – EUR 26,90 (DE)
E-Book: ISBN 978 3 95765 830 2 – EUR 6,99 (DE)