Die Parabel der Talente

Octavia Butler

Mehr als fünfundzwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung in den USA erscheint mit „Die Parabel der Talente“ der zweite und leider auch letzte Teil von Octavia Butlers postapokalyptischer Science Fiction Serie in der Übersetzung von Dietlind Falk im Heyne Verlag auf deutsch.

Der Roman wurde mit dem Nebula Award ausgezeichnet.  Es ist nicht unbedingt notwendig, aber empfehlenswert, den ersten Band der nicht abgeschlossenen Serie „Die Parabel vom Sämann“ – der Heyne Verlag hat das Buch ebenfalls neu aufgelegt – zu kennen, um die charakterlichen Feinheiten besser zu verstehen. Octavia Butler fasst die meisten Aspekte des ersten Buches in den Tagebuchaufzeichnungen der Protagonisten Lauren zusammen. Diese hat sie fünf Jahre nach dem Ende des ersten Buches niedergeschrieben, wobei die Ereignisse vor dem Eintreffen in ihrem kleinen, aber herausfordernden Paradies Lauren noch einmal in einem Alptraum erschienen sind. Wie der erste Roman besteht auch „Die Parabel der Talente“ aus Tagebuchaufzeichnungen, allerdings hat die Autorin die Handlung deutlich mehr verschachtelt. Zu Beginn des Romans stellen die Aufzeichnungen aus dem Jahre 2032 die Kerninhalte der Geschichte dar. Der Leser verfolgt diese Einträge nicht auf Augenhöhe, sondern Laurens inzwischen heranwachsende Tochter Larkin.  Wie ihre Mutter – stellenweise auch ihr Vater – zeichnet sie die Ereignisse auf und kommentiert aus einer nicht näher in der „Zukunft“ spielenden Position heraus die Einträge ihrer Mutter.

Larkin versucht gleichzeitig die Leser über die Ereignisse auf dem Laufenden zu halten und die Rolle ihrer Mutter ihr gegenüber zu definieren, wie auch das Verhältnis zwischen der aus ihrer Sicht positiven Gründung der kleinen Siedlung Acorn auf dem Land ihres Vaters sowie der negativen  Entwicklung der Earthseed Religion, die ihre Mutter vorantreibt. Im Prolog erfährt der Leser, dass die Protagonistin des ersten Buches Lauren Oya Olamina inzwischen tot ist.

Der Roman lässt sich anfänglich sehr gut in  eine Außenwelt und eine Art Innenwelt aufteilen. Später werden diese beiden „Welten“ unter dramatischen Umständen kollidieren. Erschreckend ist die zynische Haltung Octavia Butlers der amerikanischen Politik gegenüber, die mit dem gewählten Präsidenten Andrew Steele Jarret gipfelt, der sich gegen seinen farblosen, ideenlosen und alten Vizepräsidenten durchgesetzt hat. Jarret ist ein narzisstischer, rassistischer, paranoider Hassprediger, der Amerika wieder groß machen möchte. In überspitzter Form trifft Octavia Butler in einzelnen Passagen genau die Rhetorik Trumps und seiner Anhänger. Zwar ist die USA der Gegenwart noch nicht so tief gefallen, aber die Ansatzpunkte der beiden Politiker sind vergleichbar. Im Laufe des Buches wird auch deutlich, dass sich Jarret mit Lügen und Gewalt an der Macht halten will. Zumindest in diesem Punkt hat Octavia Butler noch ein klein wenig Zutrauen in die Selbstheilungskräfte der amerikanischen Demokratie unter den widrigsten Umständen gehabt. Von einem Hoffnungsschimmer zu sprechen, wäre angesichts des dunklen Tonfalls dieser Geschichte allerdings zu viel.

Auf der anderen Seite gibt es die kleine Community Acorn. Sie liegt abgeschieden in den Bergen. Unter der Führung Lauren und Bankoles  - sie hat den vierzig Jahre älteren Mann geheiratet, der als einziger Arzt in der Gegend praktiziert - entwickelt sich die kleine Gesellschaft mittels harter gemeinschaftlicher Arbeit und der Aufnahme neuer Mitglieder erstaunlich gut. Sie können sich selbst versorgen und als sie auf einem ihrer Streifzüge durch Zufall ein gepanzertes, von Solarzellen angetriebenes Fahrzeug finden, steht einem gesicherten Handel mit den Nachbargemeinden, aber auch damit der Aufgabe der eigenen Isolation nichts mehr entgegen.

Auf der anderen Seite gibt es dann die Earthseed Religion. Die in Acorn lebenden Mitglieder der Gemeinschaft müssen nicht zwangsweise Mitglied dieser Glaubensgruppe werden, aber eine Mitgliedschaft schenkt ihnen mehr, wenn auch bescheidene Rechte. In Ableitung der Lehrer ihres Baptistenprediger Vaters ist der Kerngedanke dieser Religion, dass die Menschheit irgendwann die Erde verlassen und auf anderen Planeten leben muss, bevor sie die Stufe des Erwachsenen Daseins erreicht. Bis dahin ist die brutale Unordnung Teil des schwierigen Weges zu den Sternen, wobei es kein klassisches Gottesbild gibt.  

Strukturell gibt es Ähnlichkeiten zwischen “Die Parabel vom Sämann” und “Die Parabel der Talente”. Beide Romane sind - wie eingangs erwähnt - in Berichtsform niedergeschrieben, wobei der zweite der Serie zusätzlich über eine kommentierende Berichterstatterin verfügt, deren Wissen über die zukünftigen Ereignisse spannungstechnisch in die Handlung einfliesst. Nicht selten greift Laurens Tochter voraus, reflektiert ihr eigenes bescheidenes Wissen über ihre Mutter mit den selbst gemachten Erfahrungen und versucht Verständnis für sie zu entwickeln, ob Lauren niemals einen einfachen Weg gegangen ist. 

Beide Bücher beginnen in geordneten kleinen Gemeinden, die sich mittels Zähnen oder einer isolierten Lage vom Rest der in Anarchie und Chaos verfallenen USA abgrenzen. In beiden Gemeinden dominiert die Religion. Laurens Vater als Baptisten Prediger, aber vor allem auch einer der wenigen Lehrer führte die Gemeinde mit langer demokratischer und doch entschlossener Hand. Lauren ist die Priesterin der Earthseed Gemeinde, der sich Mitglieder in Acorn anschließen können, aber nicht müssen. Beispielhaft ist ihr Bruder, der während der Jahre draußen als christlicher Prediger überlebt hat und seinen Glauben predigen möchte. Er wird nach den sonntäglichen Predigten mit direkten Fragen konfrontiert, denn bei der Earthseed Religion ist es üblich, dass anschließend über das gesprochene Wort durchaus kontrovers diskutiert wird.  Aber beide Siedlungen scheinen lange durch ihren dogmatischen Glauben überleben zu können.

In beiden Siedlungen gibt es eine Zivilisation, welche der amerikanischen Frontier des 19. Jahrhunderts mit nur ein wenig mehr Technik.  Acorn hat zwei moderne gepanzerte Wagen; es gibt anscheinend Telefon zu den Siedlungen draußen und die medizinische Versorgung ist besser; in der Siedlung von Laurens Vater gab es mindestens einen Computer mit Internetanschluss, teilweise Handys und Computerspiele. Die Gemeinden konnten sich auf einem primitiven Niveau selbst versorgen, es gab Tauschhandel.

Beide Gemeinden sind von Angreifern quasi ausgelöscht worden. Die erste Kolonie durch Plünderer, die zweite Gemeinschaft durch christlich fundamentalische Sendboten des gewählten Präsidenten, welche die Lehren der Bibel nach eigenem Gutdünken auslegen. 

Während die Gemeinde von Laurens Vater allerdings ausgelöscht und die meisten Bewohner vergewaltigt und getötet oder versklavt worden sind, übernehmen die Angreifer die Siedlung und versklaven mittels Halsfesseln die Bewohner. Dieser Rückfall in die klassische Sklavenhaltung des 19. Jahrhunderts und damit die Entmenschlichung in diesem Fall großer Teile der Bevölkerung, die anders denken, ist ein roter Faden, der sich durch Octavia Butlers Werk zieht. “Die Parabel vom Sämann” ist ein dunkles, erst gegen Ende ein wenig optimistisches Werk, in welchem die Autorin Humanität auf der kleinen gemeinsamen Ebene und die Gabe des Vertrauens schenken einer brutalen Welt gegenüber stellt, in welcher nur die Starken und Rücksichtslosen überleben. 

Die potentielle Umerziehung der Earthseed Mitglieder und das Austreiben ihres angeblich frivolen Lebensstils nimmt einen breiten Raum in “Die Parabel der Talente” ein. Octavia Butler entlarvt das angeblich so christliche Vorgehen der Besetzer als Farce, die nicht nach den Regeln der Bibel leben, aus welcher sie stetig predigen und immer wieder bestrafen. Schon in ihrem Roman “Vom gleichen Blut” hat sich Octavia Butler mit der angeblichen Überlegenheit der weißen Rasse gegenüber Farbigen auseinandergesetzt, wobei sich die Weißen nicht zu schade sind, farbige Frauen zu vergewaltigen und mit ihnen Kinder zu zeugen.  Die Brutalität der hier wie in “Vom gleichen Blut” beschriebenen Passagen geht unter die Haut. 

Erschreckender noch als Jarrets Sendboten ist die Naivität der normalen Bevölkerung gegenüber ihrem gewählten Präsidenten, der anfänglich seine Anhänger auf die ungläubige Bevölkerung hetzt; einen Krieg braucht, um von seiner Unfähigkeit abzulenken und nur mittels dogmatisch wirrer Reden vor allem die Reste der amerikanischen Hinterlandbevölkerung in seinem Bann behält. Viele aufgeklärte Amerikaner fliehen erst nach Kanada, später nach Alaska, das sich nicht nur aufgrund des Klimawandel inzwischen selbst versorgen kann, sondern sich als erster amerikanischer Bundesstaat aus der Union löst. Der zweite mit der Separation liebäugelnde  Staat ist Texas, ausgezeichnet Jarrets Heimat. Die politischen Bezüge werden dem Leser in erster Linie von Laurens Tochter Larkin und zusätzlich aus einer gewissen Distanz gegenüber der Haupthandlung erzählt. Dadurch wirken sie teilweise im Rahmen der Geschichte zu stark komprimiert und zu subjektiv erzählt. Aber Octavia Butler bleibt mit dieser Vorgehensweise auch der im ersten Buch etablierten Tradition treu, da dieses ausschließlich aus Laurens Tagebuch Perspektive niedergeschrieben worden ist.     

Die zweite Hälfte der jeweiligen beiden Teile bestehen aus einer Wanderung bzw. Suche. In “Die Parabel vom Sämann” schlägt sich die kleine Gruppe entlang der Highways gen Norden zum Land von Laurens Liebhaber und späteren Mann durch. In “Die Parabel der Talente” verbindet Octavia Butler die Suche nach Larkin mit der Wiederauferstehung der Earthseed -Bewegung. Von Beginn an hat Lauren immer wieder klar gemacht, dass ihr Gott Veränderung ist und diese Veränderung/ Anpassung, aber auch die entsprechende Langmut von den Menschen/ Gläubigen erwartet.  

Auch wenn Lauren viele Thesen in ihren später im Internet verbreiteten Büchern niedergeschrieben hat, bleibt das Bild dieser Bewegung, dieser neuen bodenständigen/ erdverbundenen Religion, erstaunlich ambivalent.  Die Autorin geht nicht in die Details ein, präsentiert aber Lauren dank ihrer im Laufe der Jahre erworbenen zeichnerischen Fähigkeiten auch als eine Wanderpredigerin mit verführerischer Vorgehensweise. Sie hört den Menschen zu, nimmt ihr leid nicht nur dank ihrer besonderen Fähigkeit fast körperlich auf und präsentiert anschließend Earthseed als einen gangbaren Weg, um die quälende Vergangenheit voller Leid hinter sich zu lassen. Damit unterscheidet sie sich nicht nur von den Fundamentalisten Jarrets, sondern auch ihrem Bruder, der erst als Laienprediger und später hoher Kirchenvertreter von der Kanzel aus das Volk belehrt und zurück zu den christlich fundamentalistischen Lehren treibt. 

“Die Parabel vom Sämann”  endete in einem Paradies voll harter Arbeit. Lauren hat mit ihrer kleinen Gruppe für kurze Zeit Frieden gefunden. Am Ende von “Die Parabel der Talente” steht ein neuer Aufbruch, vielleicht eine weitere und damit auch weite Reise zu einem neuen Eden, das sich die Mitglieder der Earthseed Bewegung erschließen. Auf der einen Seite findet diese Geschichte einen würdigen Abschluss, der viele Punkte beider Romane erfasst und nicht nach Fortsetzungen verlangt. Auf der anderen Seite überschlagen sich viele Ereignisse, aus der Perspektive Larkins erzählt. Große Teile der USA scheinen immer noch gut bewohnbar. Es gibt Flugverkehr zwischen den allerdings bewachten Flughäfen. An der Ostküste scheint es nicht nur weiterhin Luxus in Form von Hotels und zivilisierten Großstädten, reichhaltigen Essen und bezahlten Jobs zu geben, auch das Internet ist vorhanden und Larkin arbeitet an Szenarien für virtuelle  Welten. Einige reiche Bewohner leben nur noch mittels Gesichtsmasken in diesen Welten. Dabei reicht das Spektrum von Abenteuer bis Sexgeschichten.  Kaum hat Lauren den wilden Osten verlassen, gewinnt ihr Bewegung an Momentum und wird zu einer der reichsten Organisation der ganzen Erde, welche sogar ein bemanntes Raumschiff finanzieren und zum Alpha Centauri schicken kann. Und das im Grunde innerhalb von zwei Generation. 

Die erzählerische Ruhe, die postapokalyptische Atmosphäreder ganzen Geschichte werden ein wenig hektisch und ungeduldig durch eine Art Zweckoptimismus und ein tragisches Familienmissverständnis ersetzt, das am Rande des Kitsches die Leser trotzdem berührt.  Verschiedene Konflikte gipfeln in den letzten Kapiteln. Auf der einen Seite die Frage nach dem wahren Glauben. Fundamentalistische Christen mit archaischen Vorstellungen treffen auf die fast an die Hippiebewegung erinnernde Earthseed Religion mit viel Anarchie und Selbstbestimmung, aber auch einem deutlich stärkeren Gemeinschaftsgefühl und weniger hierarchischen Strukturen als die Kirche. Auf der anderen Seite hat sich von den ersten Seiten an ein nicht selten unterschwelliger Konflikt zwischen Bruder und Schwester entwickelt, die als Persönlichkeiten nicht unterschiedlicher sein könnten. Auch wenn sie während der einzelnen Begegnungen immer wieder ein klein wenig von ihren Standpunkten abweichen, bleiben sie unversöhnlich. Lauren sucht zwar lange Zeit verzweifelt ihre Tochter, ihr erstes und wichtiges Kind ist aber die Earthseed Bewegung und damit aus ihrer Sicht auch die Zukunft der Menschheit. Ihr Bruder will seine Schwester zwar schützen, ist aber keusch (und homosexuell) mit seinem christlichen Glauben verheiratet. Um seine Einsamkeit zu lindern, lügt und  im Grunde betrügt er auch. Es ist eine fast nihilistische Erkenntnis, dass die immer wieder über sich hinauswachsende Lauren als Pyrrhussieger dasteht. Von der Welt beachtet und geliebt, in der eigenen Familie höflich gesprochen, verkannt. Octavia Butler fordert ihre Leser heraus, über den eigenen Tellerrand zu schauen und die Entscheidungen ihrer dreidimensionalen, aber nicht immer sympathischen Protagonisten nachzuvollziehen, bevor sie ein eigenes Urteil bilden. Das macht nicht nur den Reiz der hier vorliegenden Story aus.  

Der Titel beider Romane stammt aus der Bibel. Beide Bücher schließen auch mit dem jeweiligen Zitat. “Die Parabel der Talente” - wobei die besonderen Fähigkeiten einer Handvoll Menschen auch zu ihren persönlichen Schwächen werden und Octavia Butler sie nur bedingt aktiv in die Handlung einbezieht - ist auf der einen Seite ein interessanter, literarisch herausfordernder Zwischenschritt dieser leider nicht weitergeführten Serie. Auf der anderen Seite verfügt die Geschichte über ein kraftvolles Ende, das die Leser befriedigen kann. Im direkten Vergleich zu “Die Parabel der Talente” durch das umfangreicher entwickelte Szenario; die politische Komponente und die weiter entwickelten Familienkonflikte, aber auch die fast tragisch emotionalen Rückblicke einer Tochter auf eine Mutter, die ihr lange, vielleicht für immer eine  Fremde geblieben ist,  auch die mehr zufriedenstellende Geschichte. 

Beide Romane zeigen eindrucksvoll, welch eine herausragende, in vielen Punkten aber auch intelligent vorausschauende Autorin Octavia Butler mit ihrem Werk gewesen ist und den Nebula Award hat sich dieser Roman mehr als verdient.       



Die Parabel der Talente: Roman

  • Herausgeber ‏ : ‎ Heyne Verlag; Neuausgabe Edition (13. März 2024)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Broschiert ‏ : ‎ 560 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3453322177
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3453322172
  • Originaltitel ‏ : ‎ Parable of the Talents