Das blaue Palais III- Das Medium

Rainer Erler

Mit dem Kernphysiker John Kevington betritt auf den ersten Blick ein neues Mitglied die Riege der Forscher im Blauen Palais. Interessant ist, dass er nicht in seinem ursprünglichen Bereich forscht, sondern durch einen Zufall während der Bahnfahrt über einen Zeitungsartikel gestolpert ist, in dem von einem doppelten Lottogewinner gesprochen wird. Die Wahrscheinlichkeit spricht gegen diesen Erfolg und so macht sich Kevington zusammen mit dem für den Artikel verantwortlichen Journalisten und schließlich dem Wissenschaftler Büdel aus dem  Team des „Blauen Palais“ auf die Suche nach den entsprechenden Hintergründen.

 Die Spur führt zu einer seltsamen Tippgemeinschaft bestehend aus einer Handvoll Rocker und einem jungen, achtzehn Jahre alten Mädchen, das in einer Näherei im Akkord arbeitet. Der ausgemachte Treffpunkt ist nach einem Streit zwischen den Rockern und dem Mädchen ausgebrannt. Am nächsten Tag auf der Rennbahn wird das Mädchen von den Rockern bedrängt, auf die entsprechenden Pferde zu wetten. Auch ihr Freund ist dabei. Allerdings ignorieren die Rocker einen relevanten Hinweis des Mädchens.

 Im Blauen Palais vermutet Kevington, dass es sich bei dem Mädchen um eine PSI begabte junge Frau handelt, deren Fähigkeiten zwar die Wahrscheinlichkeiten des Zufalls schlagen, aber noch nicht vollentwickelt sind.

Nach der Möglichkeit der Verpflanzung von Talenten in „Das Genie“ und der harten Physik in „Der Verräter“ wechselt Rainer Erler mit dem dritten Geschichte „Das Medium“ von der Biologie bzw. Vererbungslehre und den harten Wissenschaftlern in den Bereich der reinen Spekulation. Stephen King hatte ein oder zwei Jahre vorher mit „Carrie“ einen Bestseller geschrieben. Das Buch war zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Deutsche übertragen worden, aber in den siebziger Jahren stieg generell das Interesse an paranormalen Phänomenen abseits der greifbaren Wissenschaften spürbar an. Es gibt handlungstechnische Parallelen zu Stephen King, wobei Rainer Erler seinen Showdown deutlich früher und weniger blutig anlegt. Aber der Drehbuchautor agiert dabei im Rahmen des populären Thrillerkinos und eine Kopie von Stephen Kings offiziellem Erstling unter seinem eigenen Namen „Carrie“ ist „Das Medium“ nicht.  

 Im Gegensatz zu den ersten beiden Büchern muss Sibilla nicht um die halbe Welt jetten. Diese Aufgabe wird gegen Ende des Films bzw. Buches der Neuling Kevington übernehmen. Dieses Mal geht es tief in den thailändischen Dschungel, wobei Rainer Erler nicht so ausführlich auf das  Lokalkolorit und Sitten/ Gebräuche außerhalb der buddhistischen Kloster eingeht.

   Das Ausgangsproblem wird dem Team quasi direkt in das eigene Haus geliefert und als Frau wie Biologin – die Zuschauer bzw. Leser erhalten zum ersten Mal einen Einblick in ihre Forschungen hinsichtlich der Vermehrung von Mäusen, die auf das soziale Verhalten der Menschen übertragen werden könnten und Populationsströme vorhersagbar machen – kann Sibilla eher zu der jungen Petra durchdringen. Sibilla wirkt deutlich fraulicher und selbst in der emotional etwas kargen literarischen Adaption ist das Zusammenspiel zwischen dem potentiellen Medium Petra und Sibilla zum Leidwesen ihres Partners und Freundes sehr überzeugend beschrieben.

 

Der Aufstieg und Untergang der „Mäuseklasse“ ist dabei symbolisch für die helle Flamme, welche Petra nicht nur in den Augen der Rockerbande, sondern vor allem auch der minutiös bis exzessiv vorangehenden Wissenschaftler im Blauen Palais darstellt.  

 Die verschiedenen Untersuchungen nehmen einen sehr breiten Raum in diesem Roman ein. Im Gegensatz zu den ersten beiden Filmen bzw. Romanen basieren die Vermutungen der Forscher im Blauen Palais auf berechenbaren Wahrscheinlichkeiten, aber nicht harten Fakten bzw. im Fall des Genies auf nur durch eine Theorie erklärbare Art der Talent- Vererbung. Die Forscher selbst wissen, dass sich die Prozentsätze schnell verschieben und damit die Idee eines PSI begabten Mädchen sich in Luft auflösen könnte.

 Im Film hat es Rainer Erler leichter, die Wahrscheinlichkeit der Vorhersage des richtigen Symbols auf den Karten, mittels Gedankenkraft möglicherweise von Siballa an Petra übertragen, plastischer und spannender darzustellen. Im direkten Vergleich zu den ersten beiden Büchern leidet „Das Medium“ nach der heute fast komisch wirkenden Auseinandersetzung zwischen der Polizei und den Rockern auf der Rennbahn unter fehlender Dynamik. Auf der anderen Seite ist PSI ein Thema, das einzelne Forscher innerhalb des Blauen Palais von Beginn an ablehnen, was zu Spannungen zwischen den einzelnen Wissenschaftlern im Allgemeinen, aber auch Siballa und ihrem Freund im Besonderen führt. Dass sich mit dem charmanten Engländer Kevington noch jemand anders für die attraktive, intelligente Rumänin interessiert, trägt nicht unbedingt zum Betriebsklima bei.    

 Von den Karten geht es direkt zur Übertragung von Gedanken in Form eines Horrorfilms. William Friedkin drehte im gleichen Jahr „Der Exorzist“ und schnitt unterschwellige Botschaften in seinen Film hinein. Diese Methode wurde erst einige Jahre später offiziell bekannt. Rainer Erler geht es um die Übertragung eines Horrorfilms von den Zuschauern – die Mitglieder des blauen Palais – in die Gedankenwelt der schlafenden und träumenden Petra.  

 Das Experiment wird nur durch das Auffangen fremder Gedanken und der entsprechenden Sprache vom anderen Ende der Welt übertroffen.

 Es spricht für Rainer Erlers minutiöse Konstruktion der Pentalogie, wenn die Forscher am Ende der ersten Folge „Das Genie“ zwar den Schlüssel zu den faszinierenden Forschungsergebnissen irgendwie in der Hand haben; ihn aber nicht nutzen können. Am Ende von „Der Verräter“ hat Palm wichtige, streng genommen gestohlene Unterlagen in Händen. Die andere Seite hat dafür von Klöpfers Unterlagen im Besitz. Die beiden Diebstähle heben sich moralisch nicht auf, aber Palm kann diese Unterlagen offiziell nicht benutzen und sollte er sie der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen, macht er sich strafbar. Am Ende von „Das Medium“ stehen die Forscher inklusive des Reporters mit fast leeren Händen da. Sie haben eine rührselige Geschichte – dafür sorgt Rainer Erler während des eigentlichen Höhepunkts der Geschichte – mit Messergebnissen, aber keinen schlüssigen Beweisen. Der Zufall ist ein falscher Vertrauter. Ein Lottospieler kann sein Leben lang spielen und niemals etwas gewinnen. Ein anderer Spieler hat Glück, er gewinnt auf Anhieb und mit wenigen Versuchen viel Geld. In der beschriebenen Konstellation beschreibt Rainer Erler die ambivalenten PSI Fähigkeiten überzeugend. Petra kann auf eine sehr beschränkte Art und Weise unscharf in die Zukunft sehen. Die Ergebnisse sind nicht unanfechtbar, manchmal sogar sehr verschwommen, aber das Mädchen scheint über diese Fähigkeit zu verfügen. Zusätzlich kann das in ihr angesammelte PSI Potential aus ihr heraus explodieren und Dinge explodieren lassen. Sie ist weit vom „Firestarter“ aus Stephen Kings gleichnamigem und später veröffentlichten Roman entfernt, aber unter extremem Stress zeigt sich diese Fähigkeit. Ihre PSI Fähigkeit kann ein Notsignal in extremer Gefahr sein. PSI manifestiert sich möglicherweise bei ihr nur unter Unwohlsein. In den Phasen des Glücks verschwindet die Fähigkeit. Und PSI dient zu einer unbewussten zeitlosen Kommunikation. Rainer Erler stellt sie anfänglich als einseitig dar. Petra empfängt von den Forschern Signale und kann sie kaum verarbeiten. Später scheint es zumindest eine visuelle Kommunikation mit einem jungen Mönch Schüler in Thailand zu geben, der bei der späteren Begegnung in Petra eine Art Geist sieht. Das Ende unterstreicht, dass der Mönch sogar beinahe recht hat. PSI ist aber laut Kevington auch möglicherweise das Anzeichen eines Defekts, einer Erkrankung. Vieles bleibt im Bereich der Vermutung und das macht die Geschichte auch so reizvoll wie zeitlos.

 Die ersten beiden Folgen bzw. Romane von „Das blaue Palais“ funktionierten so gut, weil ein Team aus unterschiedlichen Fachrichtungen zusammengearbeitet hat. Jeder hat trotz mancher Skepsis Erfahrungen aus seinem Bereich eingebracht. Diese Geschlossenheit wird durch die Anwesenheit von Kevington – es ist ein einmaliger Gastauftritt, da ihn ein anderer Ort forschungstechnisch mehr lockt – sowie den ohne die für die siebziger Jahre typischen Klischees beschriebenen Journalisten aufgebrochen. Dabei dienen Kevington als pragmatischer Physiker und Sibilla als eine Art moralisches Gewissen als Mittler zwischen den Zuschauer/ Lesern und dem deutlich intellektueller angelegten Geschehen, während der Journalist die Laufarbeit übernimmt und Fakten zusammenträgt, deren ursprung außerhalb der Haupthandlung liegt. 

 „Das Medium“ ist auf der einen Seite die bislang ruhigste Geschichte mit nur wenigen, am Rande des Klischees angesiedelten Thriller Elementen. Es ist auch die erste rein spekulative Geschichte dieser Serie, die in den Bereich der ursprünglichen Bedeutung der Abkürzung PSI eindringt. PSI ist der Anfangsbuchstabe des griechischen Wortes Psi ist der Anfangsbuchstabe des Wortes ψυχή .  Der vom österreichischen Biologen Bertold P. Wiesner geprägte Begriff für  Psyche, Geist, Gedanke und Seele wurde schon 1942 in einer Veröffentlichung des Briten Robert Thouless verwendet und auf diese Grundbedeutung führt Rainer Erler seine intime wie spannende Geschichte auch zurück. Auf der anderen Seite liegt in dieser Tiefe, dieser Stille auch ein besonderer Reiz, denn gewissenhafte Forschung ist vor allem eine geduldige Fleißarbeit mit unendlich vielen Wiederholungen des gleichen Experiments, um vielleicht mit Glück etwas Zählbares, etwas Griffiges ans Licht im Blauen Palais zu fördern.  

  • Herausgeber ‏ : ‎ p.machinery; 1. Edition (20. Juni 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 644 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3957653401
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3957653406
  • Lesealter ‏ : ‎ Ab 14 Jahren
  • DAS BLAUE PALAIS (AndroSF: Die SF-Reihe für den Science Fiction Club Deutschland e.V. (SFCD))