Daedalos 15

Ellen Norton, Andreas Fieberg und Michael Siefener

„Daedalos 15“ ist inzwischen die dritte Ausgabe des wieder belebten Magazins im Verlag p.maschinery. Nach den Farben blau und grün gibt es dieses Mal ein sanftes rot. Das Konzept der drei Herausgeber Ellen Norton, Michael Siefener und Andreas Fieberg besteht weiterhin aus einer gelungenen Mischung moderner Weird  Fiction bzw. Horror Geschichten; dem Nachdruck eines heute vergessenen klassischen Texts inklusive einiger Anmerkungen von Robert N. Block, sowie alten Zeichnungen und Graphiken. So stammt das Titelbild dieser Ausgabe aus dem Jahr 1897, Henry J. Fords visueller Beitrag zum Märchen „Die Schneekönigin“ von Hans Christian Andersen.

 Alexander Klymchuck eröffnet mit „Materialschlacht“ die Sammlung. Eine Firma hat einen fast klischeehaft in der Tradition des Film Noir charakterisierten Privatdetektiv engagiert, um einen seltsamen Unfall zu untersuchen. Der Fahrer des Wagens scheint gleichzeitig Gas gegeben und gebremst zu haben. Die Folge des Unfalls auf der Autobahn sind sechzehn Tote. Der Autor verbindet seine Grundidee mit einer Reihe von sehr unterschiedlichen Katastrophen, welche anscheinend wie unbewiesen die gleiche Quelle haben. Das erscheint unwahrscheinlich, aber bis in den natürlich zynischen Epilog hinein folgt der Leser ohne viel nachzudenken dieser gut geschriebenen Geschichte. Logik steht auf einem anderen Blatt, aber als Weird Fiction Story handelt es sich um einen interessanten Einstieg in diese „Daedalos“ Ausgabe.

 Gabriele Behrend ist eine der wenigen Autorinnen bzw. Autoren in Deutschland, denen es fortlaufend gelingt, dreidimensionale, auf den ersten Blick unscheinbare Protagonisten zu entwickeln, mit deren Leid in mehrfacher Hinsicht der Leser mitfühlen kann. Es sind nicht unbedingt die großen Geschichten oder besser Dramen, die ihre Texte auszeichnen, sondern das Alltägliche, das auf eine bizarre Art und Weise verfremdet wird. „Des einen Leid“ setzt sich mit einem auf den ersten Blick schwierig zu händelnden, vor allem auf eine tragische Weise zu alltäglichen Thema auseinander. Die Protagonisten leidet unter ständigen Schmerzen. Die Ärzte können ihr nicht helfen. Sie findet eine obskure Quelle, die ihr anscheinend den Schmerz abnehmen will. Der Plot dreht sich am Ende in doppelter Art und Weise. Der Titel ist Programm und alles scheint nur eine Frage der Perspektive zu sein. Aber die Autorin vermenschlicht den Schmerz, macht ihn zu einem ständigen, anscheinend eigenständig handelnden Symbionten, dessen Verlust auch Leere statt nur reine Freude hervorruft. Der menschliche Körper ist extrem widerstandsfähig, kann sich anpassen und wie die Phantomschmerzen bei Menschen immer wieder zeigen, leider auch wie ein Süchtiger, der seine Dosis (egal welcher Art) fast zum alltäglichen Leben benötigt. Diese tragische Wendung im Epilog ist aus dem Leben gegriffen. Das macht Gabriele Behrends Geschichten auch generell so reizvoll. Hinzu kommt, dass sie auf der einen Seite eine uralte Idee des Science Fiction Genres auf eine sehr geschickte Art und Weise aufgegriffen und auf der anderen Seite positiv gesprochen extravagant interpretiert hat.

 „Tee in Batumi“ (Ellen Norton) ist auf der einen Seite eine atmosphärisch dichte Geschichte, auf der anderen Seite ahnt der Leser spätestens mit der Präsentation der Teesorten dem Auftraggeber gegenüber, in welche Richtung das Ende der Geschichte laufen wird. Zwei Europäer halten sich noch kurze Zeit in Batumi auf. Einer der besten Männer sucht aufgrund eines dringenden Bedürfnisses eine öffentliche Toilette, betrieben von einer seltsamen Frau auf und findet plötzlich von innen zwei Türen nach außen statt einer. Eine bizarre Grundidee, die aber vor allem zu Beginn geschickt extrapoliert wird.

 „Der Friedhofswächter“ von Peter Schünemann ist einer der Höhepunkte dieser Sammlung. Eine wunderbare Geschichte um einen Mann, der von seiner Freundin und seiner Frau verlassen wird. Auf der selbst gewählten zur inneren Reinigung führenden Walz landet er auf einem alten, ihm bekannten Friedhof und findet eine neue Aufgabe. Aber in dieser Geschichte steckt durch die vielen kleinen menschlichen Tragödien, welche auf dem Friedhof erzählt werden, sehr viel mehr als es diese einfache Zusammenfassung des Plots vermuten lässt. Eine wunderbare, von zahlreichen Leben geprägte Geschichte voll auf der anderen Seite positiv simpler Eleganz. 

 Der Vortrag ist die Struktur in „Oneironautik“ (Achim Koch). Er handelt vom Klarträumen, einer Disziplin, welche die Zuschauer lernen können, wie der Vorgetragene an einfachen, selbst auferlegten Beispielen vorführt. Eine genaue Erkundung des Ortes, den man in seinen Träumen aufsuchen muss, ist genauso elementar, wie der Wille, alle bösen Einflüsse zur Seite zu schieben. Allerdings klappt das natürlich nicht ganz und am Ende scheinen sich Traum und Realität miteinander zu verbinden. Eine kurzweilige, gut geschriebene Geschichte mit einer interessanten, dann ernsthaft wie überzeugend extrapolierten Grundidee. Mit Träumen haben alle Menschen schon mehr oder minder stark zu tun gehabt, so dass diese Variation – das Klarträumen –  eine nur scheinbar simple Variation der normalen Träume ist.  

 Eine der nicht nur in dieser „Daedalos“ Anthologie gesammelten Geschichten sind technisch überzeugend, wirken aber inhaltlich ein wenig zu mechanisch. In dieser Kategorie fällt leider auch Simon Gottwalds „Fenster“ mit dem alten Haus. Jugendfreunde, ein heimliches  seit vielen Jahre unbewohntes Haus. Die Mutprobe, nachdem sich der eine der Jungs gegen den eigenen Wunsch auf Druck des Vaters für zehn Jahre bei der Bundeswehr verpflichtet hat. Nach dem Einwerfen von Fenstern der erste nächtliche Einbruch und ein offenes Ende. Das wirkt alles atmosphärisch dicht, stimmungsvoll, aber final wenig überraschend.

 Horst- Dieter Radkes „Der tolle Jan und die verlorene Seele“ fällt in die gleiche Kategorie. Ein junger Mann will zu einem berühmten Geiger werden. Er trifft auf einen Zwerg, der ihm einen Rat gegen den Verkauf der Seele gibt. Jan wird – anscheinend ohne dem Rat zu folgen – zu einem in Europa gefeierten Geiger, dessen jugendlicher Glanz und seine Anziehungskraft auf Frauen sowie seine virtuose Kunst im Laufe der Jahrzehnte nachlassen. Erst jetzt erkennt er, dass die Begegnung mit dem Zwerg schon zum Verkauf der Seele ausgereicht hat. Das Ende schließt den Kreis. Die Geschichte ist sehr gut geschrieben, durch die distanzierte Erzählart in Form einer Sage nähert sich der Leser den Figuren allerdings nicht wirklich an. Der Inhalt wirkt in die Form einer Kurzgeschichte gepresst, vielleicht wäre eine Novelle die bessere Erzählart gewesen. Das Ende ist pragmatisch. Aber der Leser hat das unbestimmte Gefühl, als wenn er zu viele dieser Geschichten schon gelesen hat. Horst- Dieter Radke kopiert nicht, aber er entwickelt die Handlung auch zu wenig aus sich heraus weiter.

 Stoks „Handverlesen“ versucht einen Schritt weiter zu gehen. Ein junger Mann, der von Dystopien besessen ist, erhält in der Nacht von einem Fremden einen Hinweis, wo er sich hingeben soll. Daraus wird eine Alptraumreise in seine mögliche, gegen Ende wahrscheinliche Zukunft. Die Ausgangsprämisse wird angesichts der Kürze der Geschichte ausführlicher dargestellt als es die Pointe verdient. Die Erwartungshaltung der Leser ist wahrscheinlich größer, während das Schicksal deutlich intimer erzählt wird. Stok macht allerdings nicht klar, ob der Protagonist masochistisch veranlagt sich seinem unabänderlichen (?) Schicksal ergibt oder es nur eine Abfolge von Zufälligkeiten ist.

 Auch einer der längsten Storys dieser Ausgabe „Die Rose des S.“ von Scipio Rodenbücher versucht aus einem vordergründigen Kriminalfall – eine Prostituierte wurde ermordet, die regelmäßig Besuch von einem Geistlichen erhalten hat – eine Selbstkasteiung der Protagonisten zu machen. Stark auf der visuellen Ebene mit sprachlich eindrucksvollen imaginären Bildern und Vergleichen zerfällt der stringente Plot gegen Ende in eine Reihe von Möglichkeiten. Immer wieder wird die Idee des Succubi diskutiert, aber nicht vollständig entwickelt. Diese Ambivalenz nimmt einem wichtigen Teil des Plots ihren Reiz. Natürlich ist es eine opportune Möglichkeit, den Lesern die finale Entscheidung zu überlassen, ob das Gelesene im Kontext der Story „real“ oder den kranken Phantasie der Protagonisten entsprungen ist, aber Scipio Rodenbücher bleibt trotz einer guten Ausgangsbasis zu vage, zu unentschlossen, die Geschichte wirklich nachhaltig zu fokussieren. Nur im mittleren Abschnitt mit dem ermittelnden Inspektor kann der Leser die „Realität“ greifen, auch wenn die Figuren eher abstrakt und distanziert entwickelt worden sind, so dass eine wirkliche Spannung nicht aufkommt.

 Robert N. Bloch stellt mit Arno Hach einen von der Zeit vergessenen Autoren vor. Mehrere Bände mit phantastischen Kurzgeschichten hat der 1945 in Danzig während der letzten Kriegstage verschollene Hach verfasst. Dabei hat er zumindest vordergründig keinen literarischen Eindruck hinterlassen, wobei er mit seiner letzten, von Robert N. Bloch ausführlich zitierten Geschichtensammlung im Grunde den ersten Schritt zum Splatterpunk, zum voyeuristischen Slasher beschritten hat, der heute in einigen Horrorleserkreisen als schick und nicht verstörend pervers gilt. Robert N. Bloch stellt in seinem ausführlichen, die Länge der Geschichte überschreitenden Nachwort noch weitere Storys aus Hachs Feder vor. „Der Vampyr- ein Notturno“ ist auch weniger eine Geschichte, sondern ein Stillleben. Ein Mann sucht nachts eine Gruft auf, in welcher eine hübsche junge Frau liegt.  Er entkleidet sie, bedeckt ihren Körper mit Küssen und weckt sie schließlich mit drastischen Folgen für sich selbst auf. Eine morbide Phantasie, weniger eine ausgereifte Geschichte, welche Motive der zahlreichen Vampyrlegenden auf eine erstaunlich freizügige Art und Weise für den Zeitpunkt der Entstehung der Geschichte weiterentwickelt. Die Kürze  des Textes verhindert, dass die beiden Figuren und weniger Protagonisten zufrieden stellend charakterisiert werden können und Arno Hach geht es um das schockierende, aber vorhersehbare Ende.

 „Daedalos“ 15 setzt mit viel Respekt die Tradition der alten Ausgaben aus der „Katzmarz“ Ära fort. Alle Texte sind von überzeugender literarischer Qualität, auch wenn die inhaltliche Originalität bei einigen Texten zu Gunsten einer literarischen Mechanik auf der Strecke bleibt.  Das Magazin ist nicht zuletzt aufgrund der sorgfältig ausgezeichneten alten Zeichnungen und der liebevollen Zusammenstellung der Texte trotz dieser angesprochenen leichten Schwächen eine Anschaffung wert. Es zeigt, dass die Weird Fiction sich mit Respekt ins 21. Jahrhundert gerettet hat und es immer noch ausreichend dunkle Abgründe zu untersuchen gibt.     

DAEDALOS 15: Der Story-Reader für Phantastik

Paperback, 96 Seiten

Verlag p. machinery

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